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Fenster zum Leben

Von Bar­bara Roel­li — Das The­ma beim Apéro: Es geht um den Früh­ling, der auch dieses Jahr gekom­men ist. Allerd­ings zu spät, und dann mit X Rück­fällen in win­ter­liche Tem­per­a­turen. Und mit «Saure­gen». So hat man sich das nicht vorgestellt. Die Win­ter­män­tel getraute man sich noch nicht einzu­mot­ten – das Risiko, sich so kurz vor Früh­ling zu erkäl­ten, schien zu gross. Aber nun hat es ja doch noch geklappt – «Prost auf den Lenz!» Wir stossen an bei 20 Grad und blauem Him­mel, zum ersten Mal sitzen wir dieses Jahr auf unserem Garten­platz und lassen uns die Sonne auf die win­terblassen Gesichter scheinen.

Dabei schaue ich hoch zu den Balko­nen der benach­barten Häuser. Die Leute sitzen dort an kleinen run­den Bistro-Tis­chchen, an manchen Orten raucht es aus dem Kugel­grill, Bratwurst­duft erfüllt die Luft im Quarti­er, aus ein­er Woh­nung höre ich das Radio, irgend­wo schre­it ein Säugling. Eine Frau liegt mit Son­nen­brille auf dem Lieges­tuhl. Sie hat sich den Biki­ni mon­tiert, der ihre weib­lichen For­men betont. Ihre Haut glänzt speck­ig von der Son­nen­milch. Ein junger Mann tele­foniert im ärmel­freien, engen Top, das den Blick auf seine erar­beit­eten Muskeln an Ober­ar­men und Brust lenkt. Auf einem Balkon ste­hen die Glastüren zur Woh­nung sper­rangel­weit offen. Ich sehe hinein in die Stube, wo sich eben zwei Buben an den Haaren pack­en, bis (ver­mut­lich) die Mut­ter kommt und einem der bei­den eine Ohrfeige gibt. Auf dem Balkon nebe­nan ist eine ältere Dame mit Lock­en­wick­lern und Lese­brille in eine Boule­vard-Zeitschrift ver­tieft. Auf der Stirn der Frau, zwis­chen den Augen­brauen, haben sich zwei tiefe Fal­ten gebildet. Am Boden putzt ein Pudel sein Geschlecht­steil.

Sobald die Tem­per­a­turen steigen, lassen wir uns gegen­seit­ig wieder teil­haben am Leben. Fer­tig ist die Win­terzeit, in der wir uns nach innen kehren, Rol­l­lä­den herun­ter­lassen und Rol­lkra­gen tra­gen – uns gän­zlich ein­hüllen, um vor der Kälte geschützt zu sein, und auch vor frem­den Blick­en. Doch ger­ade dann treibt mich die Lust an, auf dem Nach­hauseweg im Dunkel in noch hell erleuchtete Fen­ster fremder Woh­nun­gen zu spähen; in die Küchen und Stuben mir unbekan­nter Leute zu schauen, um eine Szene aus ihrem Leben zu erhaschen. Dabei bin ich Eins mit der Dunkel­heit draussen und bleibe unent­deckt. So wie der Foto­jour­nal­ist im Hitch­cock-Film «Rear Win­dow» («Das Fen­ster zum Hof»), der in sein­er Woh­nung in New York am Fen­ster sitzt und das Geschehen im Innen­hof der Wohnan­lage beobachtet. Nach einem Unfall trägt er einen Gips am Bein und ist an den Roll­stuhl gefes­selt. So ver­bringt er Stun­den damit, die Lebensweisen sein­er Nach­barn zu studieren; etwa die der Bal­lett-Tänz­erin, die in Unter­hose und BH trainiert und öfters Her­renbe­such empfängt. Oder die eines Schmuck­verkäufers, der sich um seine pflegebedürftige Frau küm­mert. Als der Foto­jour­nal­ist die pflegebedürftige Frau aber auf ein­mal nicht mehr sieht, und den Schmuck­verkäufer dabei beobachtet, wie dieser Säge und Fleis­cher­mess­er ein­packt, entwick­elt er den Ver­dacht, der Schmuck­verkäufer habe seine Frau ermordet. Es sind kleine Frag­mente aus dem Leben des Paares, die der Foto­jour­nal­ist mit dem Teleob­jek­tiv seines Fotoap­pa­rats beobachtet, zum Dra­ma zusam­men­spin­nt und daraus seine eigene Real­ität kon­stru­iert.

Mit dem Früh­ling bricht nun wieder die Jahreszeit an, in der wir offen­le­gen, wie wir leben. Wir öff­nen die Fen­ster und zeigen mehr Haut. Das Reizvolle ist für mich jedoch was ich nicht sehe, son­dern mir vorstelle. In der Küche des Nach­barn höre ich einen Teller zu Boden fall­en. Was ist passiert?

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2013

 

Artikel online veröffentlicht: 28. Juli 2019