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Fern Brady: Strong Female Character

Von Patrik Etschmay­er - Stellen Sie sich als Erstes das Super­man-Szenario vor. Ihr Plan­et wird zer­stört, und Ihre Eltern schiessen Sie in ein­er Raumkapsel zu Ihrer Ret­tung zur Erde. Dies in der Hoff­nung, dass Sie dort von Pflegeel­tern aufgenom­men wer­den und über­leben kön­nten. Und warum die Erde? Weil da durch einen ver­rück­ten Zufall Men­schen genau­so ausse­hen wie die Bewohn­er Ihres unterge­gan­genen Plan­eten. Ja, die Erde scheint der per­fek­te Ort zu sein, um unauf­fäl­lig und in Sicher­heit aufzuwach­sen.

Doch während Sie bei Ihren ver­meintlichen Eltern aufwach­sen, wird das Leben für Sie bere­its als Kind immer unerträglich­er. Denn obwohl die Eltern Sie offen­sichtlich lieben und unter­stützen, ver­ste­hen Sie diese nicht. Und umgekehrt. «Ich weiss nicht, was das bedeutet», ist ein Satz, der Sie durch das ganze Leben ver­fol­gt. Dabei lern­ten Sie die fremde Sprache ohne Prob­lem, und in der Schule glänzen Sie als Fremd­sprachen­ge­nie. Und doch scheit­ern Sie immer wieder an der Kom­mu­nika­tion. Ständig sagen Men­schen um Sie herum Dinge, die sie nicht so meinen, ja mitunter das Gegen­teil des Implizierten.

Die Gesellschaft legt Wert darauf, dass Ehrlichkeit wichtig, ja ein Grundpfeil­er des Zusam­men­lebens sei. Trotz­dem wer­den Sie genau dafür bestraft, sank­tion­iert, gar aus­gestossen, wenn Sie sich ‹zu sehr› an diese Regel hal­ten. Wenn Sie jeman­den darauf aufmerk­sam machen, dass seine Klei­dung furcht­bar ist, wenn Sie eine Fre­undin darauf hin­weisen, dass sie seit dem let­zten Tre­f­fen dick­er gewor­den sei und bess­er auf ihre Gesund­heit auf­passen solle, wenn Sie in der Fir­ma in den ‹Verteil­er an alle› schreiben, dass die wöchentliche Sitzung sinn­los sei, weil es nur sel­ten echte The­men zu besprechen gebe.

Für diese Ehrlichkeit ern­ten Sie Blicke, die von böse bis empört reichen, Ihnen wer­den Unhöflichkeit, Rück­sicht­slosigkeit und Bosheit vorge­wor­fen. Ja, Sie ver­lieren wieder­holt Ihre Stelle, und Men­schen wen­den sich von Ihnen ab. Auch Ihre Fam­i­lie begreift Sie nicht, und Ihr Brud­er ver­spricht der verzweifel­ten Mut­ter, nie so zu wer­den Sie.

Ganz egal, wie sehr Sie sich anpassen wollen, wie sehr Sie sich bemühen, diese sozialen Codes zu knack­en, es gelingt Ihnen nicht. Sie kom­men sich vor wie das, was Sie sind: eine Ausserirdis­che. Und erst als ein Arzt bei ein­er Unter­suchung fest­stellt, dass Sie tat­säch­lich nicht von hier, son­dern eine ausserirdis­che Lebens­form sind, macht auf ein­mal alles Sinn. Zumin­d­est ist es weniger unbe­grei­flich. Auf ein­mal wis­sen Sie, warum die Psy­chophar­ma­ka, die Sie nah­men, so extrem wirk­ten. Auf ein­mal haben Sie eine Ahnung, warum grelle Lichter und laute Par­tys Ihr Hirn über­las­ten. Jet­zt endlich däm­mert Ihnen, warum Sie mitunter Ihre Möbel zu Klein­holz schla­gen müssen, um den aufges­taut­en Stress der Missver­ständ­nisse, der laut­en, grellen Welt, Ihres ständi­gen Sich-Ver­stel­lens in dieser abzureagieren. Und plöt­zlich fällt Ihnen auf, dass die weni­gen anderen Men­schen, die Sie ver­ste­hen und von denen Sie sich ver­standen fühlen, wom­öglich auch ausserirdis­che Flüchtlinge sind, die eben­so verzweifelt ver­suchen, sich in dieser unehrlichen, absur­den Welt zurechtzufind­en. Vielle­icht müssen Sie sich ja doch nicht umbrin­gen, und ja, vielle­icht kön­nen Sie der Men­schheit endlich sagen, was mit Ihnen los ist, und hof­fen, dass Ihre ver­rück­te Sit­u­a­tion bess­er ver­standen wird.
Ist das nun eine nette Idee für eine Sci­ence-Fic­tion-Geschichte? Nein. Eigentlich nicht. Es ist eine grobe Beschrei­bung davon, wie sich Fern Brady, eine schot­tis­che Stand-up-Komö­di­antin und – vor drei Jahren mit über 30 Jahren – diag­nos­tizierte Autistin, ihr Leben lang gefühlt hat.

In ihrem Buch «Strong Female Char­ac­ter» schildert Brady, die als Kind vom Ler­nen von Sprachen besessen war, aber selb­st ihre eige­nen Eltern nie wirk­lich ver­ste­hen kon­nte, wie sie als weib­liche Autistin fehldiag­nos­tiziert, fehlther­a­piert und fehlmedika­men­tiert wurde. Es bricht einem fast das Herz, zu lesen, wie sie als Achtjährige über Selb­st­mord nach­dachte, wie sie von ihrer sie lieben­den, aber hil­flosen Mut­ter als Teenag­er auf die Strasse geset­zt wurde und nur durch Zufall her­aus­fand, was mit ihr los war.

Es ist zum Schreien komisch und zugle­ich him­meltrau­rig, wenn sie von ihren desas­trösen Beruf­ser­fahrun­gen schreibt. Es schock­iert, zu lesen, wie sie aus einem völ­li­gen Nichtver­ste­hen ein­er sozialen Sit­u­a­tion her­aus sich so bedro­ht fühlte, dass sie in ver­meintlich­er Notwehr fast eine andere Per­son erschlug.

Dabei räumt sie auch gründlich mit dem «Autismus ist männlich»-Klischee auf und schildert, wie autis­tis­chen Frauen die Diag­nose (Brady hat­te sich eigentlich als 16-Jährige schon selb­st kor­rekt diag­nos­tiziert, wurde vom Arzt dafür aber zu Unrecht zurecht­gewiesen, das könne nicht sein) wegen auch bei Fach­per­so­n­en tief ver­wurzel­ten Vorurteilen voren­thal­ten wird und wie sie sich in der Folge bis zur Selb­stauf­gabe ver­stellte und krampfhaft anpasste, während diese Belas­tung sie inner­lich fast zer­riss.

Dies auch, weil soziale Fehltritte, Aus­sagen, die fälschlicher­weise als Belei­di­gung wahrgenom­men wur­den, und falsch inter­pretierte Sit­u­a­tio­nen nicht sel­ten zu Job­ver­lus­ten führten. Brady war, als sie Sprachen studierte, zwar in der Lage, für die Stu­den­ten­zeitung Artikel zu schreiben, schaffte es gle­ichzeit­ig aber nicht, einen nor­malen Verkäuferin­nen­job zu hal­ten, und arbeit­ete am Ende als Strip­perin, im einzi­gen Beruf, bei dem ihr «merk­würdi­ges» Ver­hal­ten nicht zum Rauss­chmiss führte. Und nein, sie roman­tisiert dieses Erleb­nis nicht und betont, keinen einzi­gen auch nur ent­fer­nt sym­pa­this­chen Mann in diesem Job getrof­fen zu haben. Wer auf «Pret­ty Woman», aber in autis­tisch, hofft, wird ent­täuscht. Sie kon­nte ihren Strip­perin­nen-Job erst been­den, als sich her­ausstellte, dass ihre Stipen­di­en während Jahren wegen eines Ver­wal­tungs­fehlers nur zu einem Bruchteil aus­gezahlt wor­den waren. Dies gab ihr in der Folge etwas Zeit und die Gele­gen­heit, her­auszufind­en, was sie in ihrem Leben machen wollte; und sie fand her­aus, dass ihre Zukun­ft auf der Bühne von Com­e­dy-Clubs sein würde, auch wenn diverse Fre­unde fan­den, das gehe nicht, denn Frauen seien dafür nicht geeignet. Doch sie hat trotz­dem Erfolg.

Sie bleibt beim Schreiben über ihren Job so ehrlich wie zuvor und stellt fest, dass eine Stand-up-Komö­di­antin nicht vor allem lustig sein muss. Es sei viel wichtiger, dass solche Men­schen damit fer­tig­w­er­den müssten, am einen Abend aus­ge­buht zu wer­den und am näch­sten Tag trotz­dem wieder auf der Bühne zu ste­hen.

Ihr Lei­den war damit noch lange nicht aus­ge­s­tanden, denn sie hat­te immer noch keine Diag­nose und behan­delte sich selb­st mit Auf­putsch- und Beruhi­gungsmit­teln, Anti­de­pres­si­va und ver­schiede­nen anderen Dro­gen. Sie glaubte immer noch der Diag­nose ihres Jugendpsy­chi­aters, dass sie bes­timmt nicht autis­tisch ver­an­lagt sei. Zusam­men­brüche nach Tourneeauftrit­ten wur­den extremer und bedrohlich­er. Wie sie doch endlich zu ihrer Diag­nose kam und welchen Weg sie nun ange­treten ist, der ihr zwar kein prob­lem­los­es Leben in ein­er Welt, für die sie nicht geschaf­fen ist, gibt, aber eine Chance, bess­er mit der Welt und sich selb­st klarzukom­men, beschreibt sie im finalen Teil des Buch­es, das einen mit ein­er Mis­chung aus Hoff­nung, Wut und Irri­ta­tion über uns und unsere Gesellschaft zurück­lässt.

Denn mit der Geschichte ihrer ersten dreis­sig Leben­s­jahre zeigt Fern Brady die völ­lige Absur­dität und Grausamkeit unser­er Gesellschaft und das ver­lo­gene Selb­st­bild auf, das wir uns täglich von ihr zeich­nen. Dabei kommt zum Aus­druck, wie androzen­trisch unsere Medi­zin immer noch ist, wie rein männliche Massstäbe Diag­nosen und Ver­hal­tensurteile von und über Frauen bee­in­flussen, ver­fälschen oder gar ver­hin­dern. Wenn der jugendlichen Fern gesagt wird, dass sie kein Asperg­er haben könne, weil sie eine intime Beziehung habe, tönt dies für den Laien erst logisch. Denn in der Lit­er­atur wird die Beziehung­sun­fähigkeit von diesen Patien­ten betont. Dass es sich bei den ange­führten Patien­ten um ver­hal­tensauf­fäl­lige, durch­schnit­tlich achtjährige Jun­gen han­delte, sagt hinge­gen nie­mand. Und so ist ver­mut­lich auch kaum einem Arzt bekan­nt, dass der weib­liche Zyk­lus bei Autistin­nen noch wesentlich stärkere Stim­mungss­chwankun­gen als bei Frauen sowieso schon bekan­nt verur­sachen kann.

Fern Brady schliesst das Buch mit einem verun­sicherten Blick in die Zukun­ft ab. Noch ist sie jung und kör­per­lich gesund, doch sie weiss, dass die Zukun­ft weit­ere Prob­leme mit «allis­tis­chen» (die Beze­ich­nung von Autis­ten für «nor­male» Men­schen) Ärzten brin­gen wird, die nicht begreifen, was die hor­monellen Änderun­gen für Autistin­nen bedeuten kön­nen, sie wird weit­er Fre­unde ver­lieren und Leute vor den Kopf stossen, doch sie hofft, dass ihr Buch dazu beiträgt, mehr Ver­ständ­nis für Men­schen wie sie in der Gesellschaft zu erzeu­gen. Was sie ver­mut­lich nicht erwartet: Das Buch kön­nte uns «Allis­ten» auch dabei helfen, bess­er hin­ter die Kulis­sen unser­er ziem­lich irren Gesellschaft zu sehen.

Artikel online veröffentlicht: 16. Oktober 2023 – aktualisiert am 6. März 2024