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Fiktive Realitäten und reale Fiktion

Von Alexan­dra Port­mann — Ein Gespräch mit Nico­lette Kretz über das The­ater­fes­ti­val
«Auawirleben» vom 12. bis 22. Mai 2010: 
«2’000 Euro Busse für falschen Piloten» und «Brit­ney zeigt sich ganz natür­lich» laut­en die Schlagzeilen ein­er Gratiszeitung vom 15. April 2010. Anbei sind noch zwei Fotos von Spears, abge­druckt mit den Über­ti­tel «Orig­i­nal» und «Fälschung. Was heisst «Orig­i­nal», was «Fälschung»? Die Täuschung, der so genan­nte «Fake», ist gesellschaft­stauglich gewor­den. Jed­er bastelt sich je nach Geschmack und Zweck seine eigene Iden­tität – sei das auf Inter­net­plat­tfor­men wie Face­book oder You-tube, genau­so aber auch in Sit­u­a­tio­nen wie Bewer­bungs­ge­sprächen. Stim­men die beschriebe­nen pos­i­tiv­en Eigen­schaften tat­säch­lich mit der Real­ität übere­in? Wann wird aus der kleinen Verbesserung ein «Fake»? «Self­man­age­ment» und «Image» sind die Schlag­worte unser­er Zeit. Das Fes­ti­val­team ist durch genaue Beobach­tung der aktuellen The­ater­szene auf das The­ma gestossen. So lautet das diesjährige Mot­to des zeit­genös­sis­chen The­ater­fe­ti­vals in Bern «Fake your­self!».

«Noch nie war es so ein­fach, sich selb­st zu fak­en», erzählt Nico­lette Kretz, Mit­glied des fün­fköp­fi­gen Aua-Teams. «Ein paar tolle Fotos vor einem alter­na­tiv wirk­enden Fab­rikhin­ter­grund, einige Probeauf­nah­men auf MySpace gestellt und die «Band» ste­ht auch ohne Ton­träger und Konz­ert. Täuschen und Schum­meln sind gesellschaftlich akzep­tiert, und ger­ade weil es so ein­fach ist und alle es tun, wird es notwendig, wenn man den Stan­dards genü­gen will. Warum Makel eingeste­hen, wenn man diese auf dem Online-Pro­fil weglassen kann?»

Für Nico­lette Kretz haben alle ein­ge­lade­nen Pro­duk­tio­nen unter­schiedlich mit dem The­ma «Fak­en» zu tun: sei es auf inhaltlich­er oder auf method­is­ch­er Ebene. So beschäftigt sich zum Beispiel die Pro­duk­tion Hochsta­pler und Falschspiel­er von Klara (Basel) und dem The­ater Freiburg/pvc Tanz Freiburg Hei­del­berg expliz­it mit der Hochsta­plerei im Beruf. Wohinge­gen die Pro­duk­tion Pate I‑III von Far a Day Cage aus Zürich sich auf ver­schiede­nen Spielebe­nen mit dem The­ma auseinan­der­set­zt. Zum einen wird der Kult­film Pate gespielt, zum anderen wird ver­han­delt, wie ein solch­er Kult­film über­haupt «nachge­spielt» wer­den kann. Auf ein­er drit­ten Ebene wird schliesslich die Struk­tur der Mafia reflek­tiert und auf die Film- und The­ater­szene selb­st pro­jiziert. Das «Fak­en» werde bei dieser Pro­duk­tion vor allem auf der method­is­chen Ebene the­ma­tisiert, so Nico­lette Kretz. Genau­so ver­hält es sich beim Stück «Wie man einem toten Hasen die Bilder erk­lärt» der est­nis­chen Gruppe NO99. Es stellt sich die Frage, was in der Darstel­lung authen­tisch ist und was nicht. Auch Boris Nikitins «Imi­ta­tion of life» aus Basel fokussiert die Frage nach dem Unter­schied von Fik­tion und Authen­tiz­ität.

Im Gegen­satz zur Frage, wie Fik­tion authen­tisch dargestellt wer­den kann, musste sich die Gruppe Jan aus Antwer­pen in «Mon­days» mit der gegen­teili­gen Frage beschäfti­gen, und zwar, wie die Real­ität über­haupt auf die Bühne gebracht wer­den kann. Die Her­aus­forderung beste­ht darin, die realen Tragö­di­en der Amok­läufe in Schulen, den so genan­nten «School-Shoot­ings», darzustellen. Acht jugendliche Darstel­lerin­nen zwis­chen zwölf und 17 Jahren, ver­suchen, diese realen Ereignisse nachzu­vol­lziehen. In einen ähn­lichen The­menkom­plex ist die Insze­nierung Glaube, Liebe, Hoff­nung – Geschicht­en von hier vom Deutschen The­ater Berlin einzuord­nen. «Das Stück basiert auf ver­schiede­nen Inter­views, in denen Leute zu den drei Schlag­worten: Glaube, Liebe, Hoff­nung befragt wur­den. Daraus ent­standen drei Texte, wobei der erste von einem Kon­ver­tit han­delt, der zum Juden­tum über­ge­treten ist. Der zweite zeigt eine Liebesgeschichte von einem Paar, das sich im Inter­net gefun­den hat und der dritte Text, Hoff­nung, han­delt von ein­er Frau mit Alzheimer. Obschon in den Tex­ten diese drei Schlag­worte ver­han­delt wer­den, wird gle­ichzeit­ig die Brüchigkeit der Konzepte ersichtlich», erzählt Nico­lette Kretz. Es stellt sich wiederum die Frage: Machen sich diese Men­schen selb­st was vor, ist es ein Fake an sich selb­st? Weit­er im Pro­gramm sind «Mem­o­ry Lost» von schütz­wolff, eine Adap­tion von George Orwells bahn­brechen­dem Roman 1984 vom The­ater Freiburg zu sehen, ausser­dem die Pro­duk­tion des Stadtthe­aters Bern, «Let­zte Tage» in der Regie von Bern­hard Mikeska. Nico­lette Kretz freut sich bei dieser Pro­duk­tion beson­ders über die span­nende Trias aus freier Szene, Stadtthe­ater und Fes­ti­val. Das Elek­tro-Liederkonz­ert «Fass­binder Raben» der Gruppe Arbeit inter­pretiert die Musik von Peer Raben aus Fass­binders Fil­men neu. Eben­falls zu sehen ist ein Med­ley aus kurzen Stück­en der HKB unter dem Titel «Strip by Strip-Art­work!»

Neben dieser pack­enden Stück­auswahl find­et wie jedes Jahr im Pro­gr ein vielfältiges Rah­men­pro­gramm statt, bei dem u.a. Beat­rice Fleis­chlin die Per­for­mance «My ten favorite ways to undress» zeigt. Vom 12. bis 22. Mai 2010 kommt eine inten­sive und span­nende The­aterzeit auf uns zu, in der für jeden etwas dabei ist: Fake-Los!

Weit­ere Infos: www.auawirleben.ch

Foto: Mau­rice Kor­bel «Hochsta­pler und Falschspiel­er»
ensuite, Mai 2010