Von Morgane A. Ghilardi – Kino vor hundert Jahren: Das Kino war kaum sechzehn Jahre alt und für uns heute unvorstellbar anders. Während wir heute von übertrieben lauten Lautsprechern beschallt werden, die das überdimensionale und gestochen scharfe Bild auf der Leinwand begleiten, waren Zuschauer vor hundert Jahren noch auf das Können der Klavierspieler angewiesen. Diese waren es nämlich, die in den Nickelodeons Amerikas und in Kinos weltweit das lautlose, projizierte Schauspiel untermalten. Sich den Stummfilm zu dieser Zeit vorzustellen ist vor allem deswegen nicht sehr einfach, weil es noch keine international anerkannten Konventionen gab, an welche man sich halten konnte. Weder die Kunst der kinematographischen Narration noch die technischen Aspekte, wie die Beleuchtung, waren ausgereift.
Zu diesem Zeitpunkt waren die Filme noch kürzer und das Programm wechselte mehrmals wöchentlich. Das Kino war als Medium noch in seinen Kindstagen, dennoch bildete es einen beträchtlichen Teil des Unterhaltungssektors. Das System, welches das Medium umrahmte, war noch in einer Phase der Ungewissheit. Unabhängige Produktionsfirmen waren im Wettbewerb mit den grossen Firmen, die durch ein Verleihsystem das Filmmonopol an sich reissen wollten, und setzten sich doch durch. Amerikanische Produktionen entstanden noch vorwiegend in New York, doch wegen Patentstreiten flohen viele Filmemacher nach Kalifornien, wo sich eines Tages das Filmmonopol Hollywoods entfalten würde. Europäische Filme waren ein fester Bestandteil des amerikanischen Filmangebots, denn in Frankreich, Deutschland, Italien, Dänemark und weiteren Ländern vermehrten sich die Produktionsfirmen.
Dänemark lieferte der Welt mit Asta Nielsen – 1911 die bestbezahlte Schauspielerin überhaupt – den ersten internationalen Filmstar. Während ihre Sinnlichkeit ihr in Russland und Deutschland viel Lob einbrachte, wurden ihre Filme in Amerika aus denselben Gründen meistens zensuriert. Ganz allgemein wurde um diese Zeit herum erstmals die Leistung der Schauspieler mit der Nennung ihrer Namen in den Titelsequenzen geehrt. Das Startum in den USA konnte damit erst seinen Lauf nehmen.
Produzenten und Regisseure standen davor mehrheitlich im Zentrum, da sie es auch waren, die mit neuen technischen und narratologischen Errungenschaften das Kinopublikum begeisterten. D.W. Griffith gehörte zu den ganz Grossen, die mit kleinen, aber auch monumentalen Werken heute gängige Motive des Kinofilms popularisierten. Während man die teils sehr rassistischen Inhalte zu ignorieren versuchen muss, erkennt man in seinen Filmen, wie sich z.B. die Konvention der Parallelmontage (oder Cross-Cutting) durchsetzt. Gleichzeitig entzog er sich Trends wie den damals aufkommenden Zwischentiteln, mit denen der Dialog eingeblendet wurde. Das Format der Filme lag also noch immer in den Händen der Filmemacher und ihr Erfolg musste sich noch nicht völlig auf die Erwartungen des Publikums stützen.
1911 läutete auch Premieren ein, denn in diesem Jahr machte der Animationsfilm ein Debut, in Amerika mit Winsor McCays «Little Nemo», der ursprünglich einer der ersten kontinuierlichen und fantasievollsten Cartoon Strips war. Der Kurzfilm deutet selber stark darauf hin, wie lächerlich die Vorstellung animierter Zeichnungen damals schien, und wie beeindruckend und neckisch das Resultat von McCays Bemühen waren. Der kleine Nemo und seine Freunde, die von Hand nachkoloriert wurden, erweckten als Antwort auch die europäischen Erstlingswerke der Animation zum Leben, und etablierten die Kunst somit endgültig.
Ebenso erblickten vor hundert Jahren Ikonen der Kino- und Kulturgeschichte das Licht der Welt: Lucille Ball, Hauptdarstellerin von «I Love Lucy»; Vincent Price, Meister des B‑Horrorfilms; Ginger Rogers, die treue Kumpanin von Fred Astaire; Ronald Reagan, Werbecowboy und prädestinierter Präsident des ultimativ wirtschaftsorientierten Amerikas; und Jean Harlow, absoluter Star und Sexsymbol der 30er Jahre. Jede dieser Persönlichkeiten repräsentierte die vielfältigen Ideologien Hollywoods, die zwischen Sex, Geld, Spektakel und Puritanismus oszillierten.
Ob das Jahr 2011 ähnliche Ikonen hervorbringen wird oder ob in hundert Jahren der Rückblick auf die heutige Kinokultur gleich spannend wird, können wir auch nicht erahnen. Jedoch wird deutlich, wie viele Entwicklungen hundert Jahre mit sich bringen, und dass wir unsere Kultur mit anderen Augen zu betrachten wissen wenn wir in die Vergangenheit blicken.
Foto: zVg.
ensuite, April 2011