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Forsythe und Labans später Einfluss

Von Kristi­na Sol­dati - Wenn Dim­itri, dem berühmten Tessin­er Clown, ein Stock im Hemd­särmel steckt, baumelt er an ihm wie am Klei­der­bügel, beim begrüssenden Hän­de­schüt­teln erlei­det sein Gege­n­arm leichte Neben­wirkun­gen. Dann führt plöt­zlich der­selbe Stock durch ein Hosen­bein, sodass sich Arm und Bein nun in ver­häng­nisvoller Kom­plizen­schaft befind­en. Und wenn Dim­itri den imag­inären Stock sich aus dem Hemd­särmel schüt­telt, ihn fal­tet und in die Hosen­tasche steckt, ist die Geschichte des Stock­es im Ram­p­en­licht, Spot­light auf Hän­den und Tasche. Nicht so bei William Forsythe! Das Licht bliebe auf dem Rück­en. Was für ein Spek­takel zeich­net sich da ab! Am Klei­der­bügel hän­gen? Da sind Schul­tern verkrampft erhoben, die Taille zieht sich wohl auf Kosten des Halses in die Länge, beim Hän­de­schüt­teln bebt der gesamte Rück­en mit und oben flat­tert die Gegen­hand.

Was Forsythe inter­essiert ist der Tanz des Kör­pers im Schat­ten der bedeut­samen Vorgänge. Immer wieder betont er, dass solche Stäbe oder andere vorgestellte geometrische For­men zwar nüt­zliche impro­visatorische Hil­f­s­mit­tel sind, das eigentlich Span­nende sich aber im reagieren­den Kör­p­er abspielt. Doch beleuchtet Forsythe uns nur den Formab­druck der Pan­tomime ähn­lich der Neg­a­tiv­form beim Bronze­guss? Und knippst uns zudem das Licht über die Stock-Sto­ry aus? Fassen wir uns ein Herz: Ja, uns ent­ge­ht der Slap­stick und wir ver­lieren einiges an bedeut­samen Geschehnis­sen aus den Augen. Doch er öffnet uns die Augen für die Zusam­men­hänge, die hin­ter der Geschichte wirk­sam sind. Und ausser­dem, für die von uns, die eine allzu grosse Krokodil­sträne dem let­zten Bedeu­tungs­ge­halt nach­weinen: Forsythe hat auf sein­er käu­flichen CD-Rom «Impro­vi­sa­tion­al Tech­nolo­gies» in die Hände sein­er Tänz­er wieder die Stöcke und her­aus­reiss­baren Stuhlbeine pro­jiziert. Stock und Stuhl wer­den nachträglich wie eine Strich­män­nchen­ze­ich­nung über den Tanz geblendet. Der Aha-Effekt ist gewaltig, man glaubt plöt­zlich, den Tanz ver­standen zu haben. Und die Krokodil­sträne trock­net.

Und wofür öffnet Forsy­hte uns die Augen als Entschädi­gung für den aus­ge­blende­ten Slap­stick auf der Bühne? Forsythe öffnet uns die Augen für die Zusam­men­hänge am Tänz­erkör­p­er, während dieser eine Oper­a­tion aus­führt. Zusam­men­hänge, die im Bal­lett tun­lichst ver­tuscht wer­den. Dass die Gegen­hand mit attert, wenn die Hand (am anderen Ende des fik­tiv­en Stock­es) schüt­tel­nd grüsst, wäre undenkbar. In anmutiger Hal­tung, ein­er sich entspan­nt geben­den Grundspan­nung, wird jed­er ruck­haften Ein­wirkung — die es im Bal­lett dur­chaus gibt ent­ge­gengewirkt. Um die grösst­mögliche Zahl von Zusam­men­hän­gen zu ent­deck­en, bemüht Forsy­hte des Tänz­ers Phan­tasie — sys­tem­a­tisch: Er stelle sich einen Wür­fel vor, in dem er ste­ht (ja, wir erin­nern uns richtig, der Wür­fel ist der Pro­to­typ des laban­schen Ikosaed­ers). Er vergewis­sere sich, dass hin­ter ihm genau­so viel kinetis­ch­er (über Bewe­gung erre­ich­bar­er) Raum ist wie vor ihm. Er nutze ihn in gle­ichem Masse, wie auch die Ebe­nen im Wür­fel (oben, mit­tig und boden­tief). Ide­al hier­für ist die Übung, die unter­schiedlich­sten Punk­te im Wür­fel miteinan­der zu verbinden, sagen wir, zwei sich gegenüber­liegende. Und sie in unter­schiedlich­ster Weise zu verbinden: auf direk­tem, lin­earen Weg oder über Kur­ven (das fusst noch immer auf Laban). Und sie mit den unter­schiedlich­sten Kör­perteilen zu verbinden. Da kann schon mal ein Gesäss zum Aus­gangspunkt vor­preschen und ein Zielpunkt mit der Nasen­spitze erlangt wer­den. Entwick­elt sich hier­bei «nur» ein kom­plex­es Raumge­fühl? Nein, die Mechanik, die der Bewäl­ti­gung der Auf­gabe zugrun­deliegt, inter­essiert. Und sie ist durch unser­er Anatomie bed­ingt. Über wieviele Kur­ven (oder Eck­en!) kön­nen zwei Punk­te durch Gesäss und Nasen­spitze ver­bun­den wer­den? Die Wirbel und der Hals erlauben ein schlangen­haftes Auss­chwenken von Kur­ven. Und wie sieht’s aus beim Verbinden der­sel­ben Punk­te mit Fuss und Hand? Hier kön­nen Knie, Hüfte und Ellen­bo­gen eck­ig ein­brechen. Die Gelenke offen­baren ihre scharnier­hafte Mechanik. Neben der Mechanik unter­sucht Forsythe die möglichen Dynamiken. Und diese studiert Forsythe mit ein­er Akri­bie, die an Labans Eukinetik, die Antrieb­slehre, gemah­nt. Die Dynamik eines Stock-Weggeschleud­erns, um auf unsere pan­tomimis­che Übung zurück­zukom­men, wäre die fol­gende: Aus ein­er schein­bar reglosen kör­perzen­trum­snah einge­dreht­en Diskuswer­fer­pose her­aus «explodiert» die aufges­taute Energie im Kör­perin­neren und schleud­ert den Arm in einem Kreis­ra­dius hin­aus. Die Fliehkraft des Armes kann den Kör­p­er prob­lem­los mitreis­sen. Die Spi­rale, die die Arm­be­we­gung in die Luft zeich­net, find­et Forsythe zwar auch span­nend, er ken­nt solche Bewe­gungs­gestal­ten aus Labans Chore­utik. Hier inter­essiert ihn nun aber deren dynamis­che Her­aus­bil­dung. Das Poten­tial dieser Schleud­er-Dynamik, dem Stan­dort zu entkom­men, fasziniert Forsythe von Berufs wegen, ver­ständlicher­weise. Welch­er Tänz­er möchte schon in einem Kä g ange­nagelt bleiben? Doch Laban hat Tänz­ern mit Neu­landgelüsten vorge­sorgt: Der Wür­fel, der kinetis­che Raum um den Tänz­er, wan­dert ein­fach mit.

 Magie oder Spas­mus? Forsythe zieht einen nicht nur in den Bann der Hin­ter­grundgeschehnisse, er ist auch ein Magi­er, ein Herr unsicht­baren Geschehens. Was läuft z.B. in unserem Kör­p­er ab? Schon mal sich bewusst gemacht, wie die Niere beim Buck­eln sich wölbt? Nein? In ein­er Impro­vi­sa­tion­sübung schult Forsythe unser Repräsen­ta­tionsver­mö­gen eines inneren Organs. For­men wir unsere Hand best­möglich nach dessen Bilde und die Übung kann begin­nen: Beugt man sich nach vorn, so wölbt sich das Organ (und die Hand) entsprechend. Er macht uns Unsicht­bares sicht­bar. Kann sich jed­er vorstellen, wie — spastisch — es aussieht, wenn man mit intro­vertiertem Blick die Niere zu spüren glaubt und ihre wech­sel­nde Lage beim Biegen-Beu­gen aus­lotet, begleit­et von ein­er unför­mi­gen Han­dan­bal­lung (die im Falle des Herzens wohl auch noch pulsiert…)?

Wie kon­nte es so weit mit Bil­ly kom­men? Eigentlich hat er doch 1973 ganz unbe­darft und unauf­fäl­lig wie so viele klas­sis­che Tänz­er unseren Kon­ti­nent betreten und sich mit respek­tier­lichem Abstand hin­ter dem Star Richard Cra­gun ins Stuttgarter Bal­lett ein­gerei­ht. Wir erin­nern uns: Die grösseren Städte im Nachkriegs­deutsch­land haben sich mit dem Elan des Wieder­auf­baus auch im Wet­tkampf der Bal­ler­i­nen und Bal­leri­nos pro­liert. Lei­der ist der Bal­lettdi­rek­tor John Cranko, der Bill aus Übersee weglock­te, bald ver­stor­ben. Die Nach­fol­gerin, Mar­cia Hay­dée, fol­gte sein­er Lin­ie der Chore­o­graphen-Nach­wuchs­förderung. Forsythe nahm die Chance wahr und schuf 1976 Urlicht, ein Pas de deux in neok­las­sis­chem Duk­tus für sich und seine dama­lige Frau. Es schlug ein wie eine Bombe. Über Nacht avancierte er zu einem Hauschore­o­graph. Er dank­te den Posten aber nicht stil­wahrend. Langsam zeigte der Rock’n’Roll-Rebell im Schaf­spelz die Krallen. Bill hat­te Beat im Blut. Noch vor jeglich­er Tan­zaus­bil­dung hat­te er in der Jugend sämtliche Col­lege-Kumpa­nen aus der Dis­co-Gen­er­a­tion an die Wand getanzt. Man kann förm­lich den schelmis­chen Spass spüren, den Bill gehabt haben muss, als er 1979 in «Orpheus» die Bewohn­er der Unter­welt zu zuck­enden Krüp­peln macht, Eury­dike dage­gen auf Spitze tänzeln lässt. Es ging ein Schrei durch die Presse. Doch da hat­te er sich in der Fach­welt schon etabliert. Früh, ja sehr früh erkan­nte beispiel­sweise Heinz Spo­er­li vom Basler The­ater das vielver­sprechende Tal­ent und gab 1977 Forsythe ein Werk in Auf­trag. So ent­stand dort seine Chore­o­gra­phie auf Bachs a‑moll-Vio­linkonz­ert. Ein­er von Bills Stuttgarter Ensem­blekol­le­gen war Jiri Kil­ian, der inzwis­chen das berühmte Ned­er­lands Dance The­ater (NDL) über­nahm. Als Forsythe jung den Tänzer­beruf auf­gab, um sich ganz der Chore­o­gra­phielei­den­schaft hinzugeben, prof­i­tierte Kil­ian von dieser Bekan­ntschaft. Die nieder­ländis­che Com­panie, die so schon in aller Munde war, schmück­te sich nun bald mit dessen Fed­er. Es ging steil bergauf, er war in Lon­don gefragt und das Paris­er Chatelet wollte ihn als Bal­lettdi­rek­tor verpflicht­en. Da schlug in Frank­furt der Inten­dant mit besten Bedin­gun­gen zu. Diese kon­nte er auch lange aufrechter­hal­ten. Dann aber mussten die west­deutschen Städte mit dem Sol­i­dar­itäts­groschen ihren Trib­ut für die Wiedervere­ini­gung zollen. Man muss dazu wis­sen, ein Stadtthe­ater erhält im Gegen­satz zu Staat­sthe­atern keine unter­stützen­den Bun­des­gelder und im Gegen­satz zum Lan­desthe­ater vom eige­nen «Land», in diesem Fall Hes­sen, keinen Pfen­nig. Ab 1990 über­nahm Forsythe die Ver­ant­wor­tung, die Inten­danz des Frank­furter Bal­lets und ab 1998 auch die des schlies­sungs­bedro­ht­en The­aters am Turm (TAT), eines inter­na­tion­al ange­se­henen Exper­i­men­tier-The­aters in Frank­furt. Er merk­te mit der Zeit, dass man seit Jahren an der Oper mit dem Erfolg der Tanzs­parte die finanziellen Löch­er ander­er Sparten stopfte. Mit den inter­na­tionalen Tourneen erwies sich seine Com­panie näm­lich als renta­bles Export-Pro­dukt. Nach zwanzig Jahren ver­ab­schiedete sich Forsythe vom Frank­furter The­ater, dessen kün­st­lerisches und tech­nis­ches Per­son­al er wieder­holt für sein fach­män­nis­ches Engage­ment rühmte. Es ist ein geschichtlich­er Glücks­fall, wenn ein The­ater den Mut für einen Rebell hat und in Schlüs­sel­po­si­tio­nen Leute sitzen, die Manns genug sind, ihm die Stirn zu bieten (der jahre­lange Part­ner in der Leitung des Bal­lets und spätere Inten­dant Mar­tin Stein­hoff härtete seine mit ein­er Pro­mo­tion in Philoso­phie). Kon­ti­nu­ität dort zu gewähren, wo jemand von sich aus auf beständi­ge Erneuerung aus ist wie Bill und das Pub­likum in sein­er Stil­bil­dung mit­nimmt, ist ein europäis­ch­er Glücks­fall. Die Banken­metro­pole kon­nte sich die Kon­ti­nu­ität leis­ten. Sie hat­te gekon­nt investiert: In den unternehmerischen Geist eines Amerikan­ers, der überkomme­nen Stil wie auch (verkrustete) the­atrale Struk­turen nicht als gegeben hin­nimmt.

 Dekon­struk­tion des Bal­letts Bal­lett lernte Forsythe rel­a­tiv spät, dafür direkt bei einem Lehrer, der als Bal­an­chine-Tänz­er ihm die Augen für die Form­ex­per­i­mente öffnete. Als junger Tänz­er der Jof­frey-Bal­lett-Com­panie sah Bill die auf Klas­sik fundierten, aber über­aus dynamis­chen Tänze der Amerikaner­in Twyla Tharp. Er liebte ihre frische Art im Tanz: «Sie war gle­ichzeit­ig unter­halt­sam und ana­lytisch.» Diesen Anspruch wird Bill auch an sich stellen. «Ich mag klas­sis­ches Bal­lett. Ich finde, es ist eine schöne, neu­trale Sprache. Man sieht ein Bal­lett, man liest Geschichte… Was wir zu tun ver­suchen, ist, an der logis­chen Syn­tax festzuhal­ten, ohne in das rhetorische Sprach­spiel des Bal­letts zu ver­fall­en. Chore­o­gra­phie ist wie eine Sprache. Sie ist wie ein Alpha­bet, und du musst nicht unbe­d­ingt Wörter aus­buch­sta­bieren, weisst du… Der Wert ein­er Sprache ist bes­timmt durch den Kon­text, in dem sie erscheint. Das Wichtig­ste ist, wie du die Sprache anwen­d­est, nicht, was du mit ihr sagst», erfährt man in einem in den frühen 80ern veröf­fentlicht­en Inter­view.

Wie die späten Dadais­ten der amerikanis­chen Avant­garde mit Sprache umgin­gen, wis­sen wir. Wir erin­nern uns an Cage und Cun­ning­ham, die ihren Bewusst­seinsstrom iessen liessen und über der Lek­türe Joyce’ aus «holy ghost» unverse­hens ein «holo caust» enste­hen liessen (in den frühen Vierzigern). Oder wie in Cun­ning­hams Hän­den die Bewe­gungssprache des Bal­letts der Willkür des Wür­fels unter­wor­fen wurde und mit Gra­ham-Oberkör­pern daherkam, ganz zu schweigen vom gefun­de­nen pick­enden Vogelkopf obe­nauf. Col­lage war das Prinzip der Syn­tax. Zwar find­en wir Aleatorik auch in Forsythes Chore­o­gra­phiev­er­fahren, aber viel mehr von der Sys­tem­atik eines Rudolf von Laban. Ein­mal mit ein­er Kniev­er­let­zung ans Bett gefes­selt, ver­tiefte sich Bill in dessen bewe­gungs­an­a­lytis­che Schriften. Indem auch das Bal­lett in Raum­rich­tun­gen eines Quadrats eingeteilt ist, um seine Posen auf das Umfeld auszuricht­en, ist es nicht abwegig, wenn sich Forsythe Labans The­o­rie zunutze machen will. Wir erin­nern uns, es waren eher die Pio­niere wie Mary Wig­man, die sich durch die geometrische Erfas­sung des Raumes durch den Kör­p­er gegän­gelt fühlten. Sie spürten den Raum, seine atmo­sphärische, in Marys Worten «kos­mis­che» Stim­mung. Ihre Gefüh­le kom­mu­nizierten über den Raum mit dem All. Bei Forsy­ht­es sind es die geometrischen Eige­narten der Anatomie, die mit dem Raum in Beziehung ste­hen. Welch ein ekla­tant ver­schieden­er Ansatz! Dass man auch Wig­mans Tanz nachträglich über Laban analysieren kann, ste­ht auss­er Frage. Für ihr schöpferisches Ver­fahren und Selb­stver­ständ­nis war die Sys­tem­atik eher hin­der­lich und musste samt den analysieren­den Exper­i­menten tief ins Unter­be­wusste sick­ern, um frucht­bar zu wer­den (sie mied auch zeitlebens eine weit­ere Zusam­me­nar­beit mit Laban). Forsythe dient jedes Detail der Chore­utik oder Eukinetik als Quelle ver­spiel­ter Erkun­dung. Impuls ein­er Bewe­gungs­folge in der Antrieb­slehre? Nehmen wir doch gle­ich zwei! Wür­fel um das Bewe­gungszen­trum herum? Dann nehmen wir halt zwei! Forsythes Kreativ­ität ist so span­nend wie es sich anhört. Seine CD «Impro­vi­sa­tion Tech­nolo­gies» führt es dem «ana­lytis­chen Tan­za­uge», wie der Unter­ti­tel heisst, anschaulich vor.

Und wie kommt es, dass Forsythes Bewe­gun­gen schlussendlich alles andere als geometrisch ausse­hen? Wie kommt es, dass trotz lauter unter­schiedlich­er Impulse der Ein­druck eher ein Fluss ist? Mer­ce Cun­ning­ham hat­te seinen Spass daran, Hal­tungs- und Bewe­gungs­frag­mente in ein kör­per­lich­es Gesamtereig­nis zusam­men­zuwür­feln. Dabei entste­ht Eck­iges und Inkom­pat­i­bles, was einen Charme für sich hat. Bei Forsythe wer­den geometrische Ent­deck­un­gen am Kör­p­er und um ihn herum (auch Abstände und Streck­en zwis­chen Kör­perteilen kön­nen geometrisch sein!) durch die Müh­le des Kör­perzen­trums wie durch einen Ver­dau­ungstrakt gewalzt. Das Mahlen ist die Vor­liebe Forsythes. Sein Tanz ist vielle­icht der lebendig­ste (Kunst-)Ausdruck zeit­gemässen Wiederver­w­ertens. Nicht wie Tingue­ly und Cun­ning­ham, die fer­tige Ver­satzstücke ab- und zusam­men­bauen (die eigentlichen Dekon­struk­tivis­ten). Forsythe nimmt eine klas­sis­che Posi­tion, lässt den Oberkör­p­er oder die Hüfte in ihr ein­mal rotieren, und die Posi­tion erscheint wie neu mit einem bizarren Beigeschmack. Oder er nimmt sie, fal­tet die Extrem­itäten an den Scharnieren ein, übern­immt den daraus entste­hen­den Impuls im Oberkör­p­er auf, durch­walzt ihn in ein­er Kör­per­welle und entlässt ihn am anderen Kör­perende wieder. Herge­bracht­es rezyk­lieren und unbe­deut­same Reste aus dem Schat­ten pan­tomimis­ch­er Impro­vi­sa­tio­nen ver­w­erten, das sind Geheim­rezepte aus sein­er Impro-Küche. Warum beschw­eren wir uns, dass wir zunehmend weniger an Forsy­hthes Tanz (wieder)erkennen? Wir ste­hen geban­nt vor der Sys­tem­atik sein­er Pro­duk­tion­s­maschiner­ie, was her­auskommt ist organ­isch. Oder verkrüp­pelt. Denn eines ist mit Forsythe gewiss: was her­auskommt ist ungewiss.

Über­win­dung the­atraler Struk­turen Forsythe hat seine Com­panie 2004 aus der herkömm­lichen Ein­bindung in ein­er Insti­tu­tion gelöst. Er bezog mit ein­er um die Hälfte ver­min­derten Truppe den Musen­tem­pel Heller­au bei Dres­den. Hier hat­ten vor hun­dert Jahren Mary Wig­mann und andere mod­erne Tänz­er ihre Ini­tial­isierung erfahren (bevor sie zum Monte Ver­ità pil­gerten). Von Heller­au aus bindet sich Forsythe «lose» an Häuser wie Zürich und Frank­furt. Schon in Frank­furt ver­suchte er mehrfach, sich aus den Zwän­gen der The­ater­struk­turen zu befreien — um den Tanz etwa ein­sam in einem acht Meter tiefen Schacht zu erkun­den (durch den Schacht wer­den gewöhn­lich Kulis­sen vom Maler­saal in die Schreinerei gelassen). War das seine Antwort auf die Kürzung der Gelder um 80 Prozent? Im Schacht, Teil ein­er installa­tiv­en Per­for­mance-Rei­he Wan­da Golonkas «An Antigone», spielte Forsythe mit der Wahrnehmung der Guck­kas­ten­bühne — von oben. Forsythe klebte als Per­former an den Seit­en­wän­den, von ihnen wie durch Schw­erkraft ange­zo­gen. Vorn und hin­ten war schon gar nicht auszu­machen. Wenn von oben geguckt wird, was ist da noch aufrecht? Der the­ater­wis­senschaftliche Blick von aussen (Forsythe schulte ihn an der Uni­ver­sität in Flori­da) wird empirisch erprobt am Blick­winkel eines Feld­forsch­ers. Ob das Feld nun weit oder eng ist. Instal­la­tio­nen präsen­tieren die Ergeb­nisse, das Feld dabei ist immer sel­tener eine Bühne. Die Zürich­er kön­nen seit gut zwei Jahren ein solch­es Feld in der Schiffs­bauhalle selb­st abschre­it­en. Sie erlebten dort haut­nah «Human Writes», «Kammer/ Kam­mer», in den Strassen ihrer Stadt «City of Abstracts», sowie «Het­ero­topia» und unlängst «Defend­ers». Forsythes weit­ere Entwick­lung? Das ist ein weites Feld…

Bild: Peter Welz & William Forsythe, still aus «When­ev­er on on on nohow on», 2005
ensuite, April 2008

 

 

Artikel online veröffentlicht: 9. Oktober 2017