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Freilichttheater: «The Matterhorn Story» zum Zweiten

Interview mit der Autorin und Regisseurin Livia Anne Richard

Von Anna Vogel­sang — Ende Mai sitze ich am frühen Nach­mit­tag mit der Regis­seurin und Autorin Livia Anne Richard auf der Zuschauer­tribüne. An diesem Tag probt die The­atertruppe die Neuin­sze­nierung von «The Mat­ter­horn Sto­ry» zum ersten Mal nicht in den Proberäu­men, son­dern auf der Open-Air-Bühne. Alle sind in Kostü­men, da an diesem Tag auch das Foto­shoot­ing anste­ht. Wir sind ober­halb von Zer­matt, auf dem Rif­fel­berg auf 2582 m ü. M. Um uns herum liegt noch Schnee, und doch ist es an diesem Tag fast 30 Grad heiss – der Som­mer kommt. Unten im Dorf schlep­pen einige Touris­ten in voller alpin­er Mon­tur ihre Ski herum, während andere in T‑Shirt und kurzen Hosen herum­laufen.

2015 wurde «The Mat­ter­horn Sto­ry» uraufge­führt. Jet­zt, zehn Jahre später und 160 Jahre nach der Erst­bestei­gung des Mat­ter­horns, kommt das Spiel an diesem Orig­i­nalort wieder auf die Bühne. Die ambi­tion­ierte Idee der Organ­isatoren (Des­ti­na­tion Zer­matt) ist, das Stück später auch zu den näch­sten Jubiläen – alle zehn Jahre – zu spie­len und so die Geschichte wieder­au­fleben zu lassen. Die Finanzierung wird denn auch von Des­ti­na­tion Zer­matt gesichert.

Die Neuau­flage soll sich von der Erst­fas­sung abheben: Neue Fig­uren und neue Nebengeschicht­en wur­den dazugeschrieben, um die Kom­plex­ität des Geschehenen darzustellen. Ein kom­plett neues Musikkonzept steuerten die Zer­mat­ter Band Win­ter­shome und der Bern­er Pianist Elia Gasser bei. Doch die DNA der Geschichte, die auf wahren Begeben­heit­en basiert, blieb unverän­dert. Auch beson­ders ist die Tat­sache, dass in zwei Haup­trollen direk­te Nach­fol­ger der Taug­walders (Erst­besteiger des Mat­ter­horns) zu sehen sind: David Taug­walder (als Peter Taug­walder Sohn) und Pino Maz­zone (als Peter Taug­walder Vater).

Wie kam es zu der Idee für diese Wieder­auf­nahme?

Im April 2024 wurde ich von den Vertretern von Des­ti­na­tion Zer­matt offiziell ange­fragt, ob ich Lust hätte, das noch mal zu machen. Ich hat­te sofort ein gutes Gefühl, und es ist ein­fach ein ein­ma­lig schön­er Arbeit­splatz – es ist wirk­lich bom­bastisch hier oben!

Wann habt ihr mit den Proben ange­fan­gen?

Ich insze­niere mit ein­er Koregie: mit der Bern­er The­ater­schaf­fend­en Lil­ian Naef. Sie hat im März 2025 ange­fan­gen, und ich habe im Mai über­nom­men und mache weit­er bis zur Pre­miere. Wir haben uns die Arbeit so aufgeteilt, weil ich im März noch an einem Roman­pro­jekt im Aus­land gear­beit­et habe: Es wird ein Buch über die Flüchtlingskrise auf den Kanarischen Inseln.

Was war der Haupt­grund, warum du die neue Fas­sung des Stücks «The Mat­ter­horn Sto­ry» geschrieben hast? Hat es mit der neuen Reflex­ion der Ver­gan­gen­heit zu tun, oder hat dich etwas zu dieser Umschrei­bung bewegt, das heute passiert, das wir heute erleben?

Ich denke, bei­des. Ein­er­seits habe ich fest­gestellt, dass bes­timmt auch damals die Frauen stärk­er waren, als ich sie in der ersten Insze­nierung zu Wort habe kom­men lassen. Man muss sich das vorstellen, diese «Bergführer» – ob im Wal­lis oder im Bern­er Ober­land –, das waren ja keine aus­ge­bilde­ten Bergführer. Das waren Berg­bauern, die damals plöt­zlich gemerkt haben: Oh, jet­zt kom­men all die Gäste, die auf diese Berge wollen! Das war ein totales Learn­ing by Doing. Das hiess aber auch, dass die Frauen zu Hause den ganzen Job macht­en, während die Män­ner irgend­wo an einem Berg waren – natür­lich, die haben dann Geld nach Hause gebracht. Aber es müssen ganz, ganz starke Frauen gewe­sen sein. Und ich habe die Frauen­rollen wesentlich stärk­er geze­ich­net als vor zehn Jahren in der Reflex­ion.
Ich habe mich nochmals inten­siv mit der ganzen Materie befasst, und ich glaube, ich bin heute, mit 56 Jahren und zehn Beruf­s­jahren mehr, fähiger, mich ganz tief in die Materie, in die Psy­cholo­gie dieser Fig­uren und des dama­li­gen Lebens hineinzu­ver­set­zen. Ich glaube, dass mit dem Alter auch die Empathie, das Vorstel­lungsver­mö­gen steigt. Das macht mir Freude: das Stück neu in die Hände zu nehmen und zu kneten, sozusagen.

Wie set­zt sich das Ensem­ble zusam­men, sind das Profi- oder Laien­darstel­lerIn­nen?

Das ist ein gemis­cht­es Ensem­ble. Zum Beispiel die Fig­ur von Rev­erend Hud­son ist ein Profi, oder die Fig­ur von Bar­bara Salzge­ber wird von der Profis­chaus­pielerin Sab­ri­na Pollinger gespielt, und die Musik­er sind natür­lich Profis. Dann gibt es viele, wie zum Beispiel der Darsteller von Alexan­der Seil­er (Anm. Red.: gespielt von Hel­mut Will­iner). Er selb­st sagt wahrschein­lich nicht, dass er ein Profi ist – aber er spielt schon so lange The­ater, dass ich ihn wie einen Profi rechne!

Während wir sprechen, laufen dauern Touris­ten um und hin­ter der offe­nen Bühne herum. Kann so etwas auch während der Vorstel­lung passieren?

Wir haben während der Vorstel­lun­gen über­all frei­willige Helfer, die ste­hen unter anderem hin­ter der Kapelle. Dort starten nor­maler­weise Touren mit Gleitschir­men, das ver­hin­dern wir. Und abends ist es hier sowieso etwas ruhiger. Wir spie­len von 19.30 bis 21 Uhr, und es gibt Spezial­bah­n­fahrten vor und nach der Vorstel­lung.
Es ist ein­fach eine wun­der­schöne Abend­stim­mung hier. Die Sonne geht da hin­ten langsam unter. Das heisst, am Anfang haben die Leute noch ein biss­chen Sonne, dann kommt die Däm­merung, dann zeich­nen sich die Berge wie riesige Scheren­schnitte ab.

Erlaube mir eine etwas prag­ma­tis­che Frage. Vielle­icht würde jemand sagen, man kön­nte das Stück der Ein­fach­heit hal­ber auch im Tal spie­len. Warum kom­men die ZuschauerIn­nen hier hoch und nehmen diesen lan­gen Weg auf sich?

Erstens ist das ein Stück Welt­geschichte. Zweit­ens ist dieser Ort extrem authen­tisch, weil der Gletsch­er direkt da aufge­füllt war (Anm. Red.: Die Regis­seurin zeigt direkt hin­ter die Bühne auf sicht­bare Striche der ehe­ma­li­gen Gletscher­gren­ze an der Berg­wand). Dieses Hotel rechts von uns hat es 1865 schon gegeben: Das wurde 1853 erbaut. Das heisst, von hier aus kon­nten die direkt über den Gletsch­er in die Berge laufen. Ich kann im Dorf unten keinen Winkel find­en, der authen­tisch ist. Es gibt einen kleinen Teil altes Zer­matt, da haben wir das erste Foto­shoot­ing gemacht. Aber das ist alles, das sind ganz enge Gäss­chen, da kannst du keine Tribüne hin­stellen. Ich bin hier, weil der Ort die höch­st­mögliche Authen­tiz­ität bietet: Kargheit und Armut. Man muss ein­fach wis­sen: Die Schweiz war 1865 das Armen­haus von Europa. Zer­matt war mausarm und hat ein unglaublich unor­gan­is­ches Wach­s­tum hin­ter sich, es ist förm­lich explodiert. Und mir ist das ganz wichtig, wenn ich eine solche Geschichte mache, dass ich das nicht hin­be­haupte, son­dern dass ich an einem Ort bin, wo die Sto­ry auch glaub­haft ist.

Im Stück geht es um Pio­niergeist, um eine gewisse Naiv­ität, aber auch um Eit­elkeit und Ver­rat. Siehst du gewisse Par­al­le­len zu dem, was wir heute erleben, und zwar mit dem all­ge­gen­wär­ti­gen Lebens­mot­to «Ich will meine Gren­zen spren­gen» oder auch mit der ganzen Social-Media-Kul­tur: Ich will das beste Self­ie, den besten Aus­flug, die läng­ste, toll­ste Reise und so weit­er? Find­est du, dass wir uns eigentlich gar nicht gross verän­dert haben?

Mit dieser Erst­bestei­gung 1865 und dieser Katas­tro­phe mit vier Toten unter den sieben Erst­besteigern ist Zer­matt welt­berühmt gewor­den. Und gle­ichzeit­ig ist das für mich der Beginn der Selb­st­darstel­lung – es hat das vorher so noch nicht gegeben. Edward Whym­per (Anm. Red.: gespielt von Andreas Per­ry Hein­rich) hat sich dann auf der ganzen Welt mit sein­er Ver­sion, dass Taug­walder Vater das Seil durch­schnit­ten habe, als elo­quenter, gebilde­ter und gut betuchter Men­sch durch­set­zen kön­nen. Und die Taug­walders, unsere Schweiz­er Taug­walders, waren damals die Sher­pas von heute, das waren Anal­pha­beten, sie kon­nten in Erman­gelung von Bil­dung und wegen fehlen­den Geldes ihre Ver­sion gar nicht in die Welt hin­aus­tra­gen. Whym­per hat sich dargestellt, wie wir heute Self­ies machen – ich bin der Held, oder ich bin die Schön­ste und was uns auf Insta­gram und Co. alles vorge­gaukelt wird.
Und nicht nur das, nicht nur diese Par­al­lele gibt es zur heuti­gen Welt, son­dern generell hat diese Geschichte ein­fach eine Meta­pher, einen Über­bau, denn dies ist die Geschichte von über­steigertem Ehrgeiz, von Über­stürzung und von Wet­tkampf: Denn gle­ichzeit­ig waren die Ital­iener von «ihrer» Seite her unter­wegs, nach­dem man jahrhun­dert­lang dieses Mat­ter­horn nur als Gefahr gese­hen hat­te! Die Hybris des Men­schen, sich selb­st ein Denkmal set­zen zu wollen, kön­nte also exem­plar­isch­er nicht sein. Deshalb, weil die Geschichte uni­verselle Gültigkeit hat, weil sie über­all auf der Welt spie­len kön­nte – in ander­er Form, mit anderen Pro­tag­o­nis­ten –, hat mich das so inter­essiert und so umgetrieben.

Ich danke dir für das Gespräch!

Das Inter­view fand am 31. Mai 2025 neben der höch­sten Freilicht­bühne Europas auf 2582 m ü. M. am Rif­fel­berg statt. Gespielt wird 31-mal, vom 28. Juni bis zum 23. August 2025. Tick­ets und alle Infor­ma­tio­nen gibt es unter www.freilichtspielezermatt.ch

Fotos: Lukas Vogel­sang, am 31. Mai 2025, während der ersten Probe vor Ort.