Von Bettina Gafner - Désirée Scheideggers Erstlingswerk „Aaregeflüster. Fliessende Geschichten“ ist eine vielfältige Reise. Das Buch führt den Leser durch die Stadt Bern, durch alle literarischen Gattungen und durch die Phantasie der jungen Autorin. Désirée Scheidegger ist seit ihrem Abschluss an der Pädagogischen Hochschule Bern als Lehrerin tätig und verbrachte einige Zeit in Irland. Dort schrieb sie aus den Schätzen ihrer Erinnerung Geschichten, die ihren Schauplatz in Bern haben. Die Aare habe sie am meisten vermisst, als sie im Ausland war.
„Aaregeflüster“ steht ganz im Zeichen des unaufhaltsamen Laufs des Lebens und der Verbundenheit und Individualität seiner Protagonisten. Dies fängt bereits beim Buchumschlag an. Die Aare auf dem Umschlag ist handgemalt und erscheint deshalb bei jedem Exemplar in leicht anderer Farbe. Handelt es sich beim Leser um einen ortskundigen Berner, wird dieser den Schauplatz der Kurzgeschichten kennen, denn die Titel der Geschichten sind zugleich Ortsangaben. Chindlifrässer-Brunnen, Marzili oder Zibelemärit. So herumgeführt, lernen wir die verschiedensten Persönlichkeiten kennen. Wir sitzen mit Oma Frida auf ihrem Bänkli in der Matte, rätseln mit Nils und Anton über den Namen im Stein, fühlen uns verbunden mit dem Lacher im Sibni-Tram oder fürchten uns mit Timo, Luis und Fabian vor dem Hummel, der im Grunde gar nichts tut. Und wir fühlen uns verbunden, weil wir eigene Erinnerungen haben an die Orte, an die Désirée Scheidegger uns entführt. Und was, wenn wir gar nicht von Bern sind? Fremde und Reisende lernen die Stadt ein wenig kennen, haben vielleicht sogar den Anreiz, diese Orte einmal zu besuchen und sich selbst ein Bild zu machen, so Scheidegger.
Die Autorin schreibt vielfältig – nicht nur die Charaktereigenschaften ihrer Protagonisten betreffend, sondern auch was die literarische Form der kurzen Reisen angeht. Neben Prosatexten sind einige der Geschichten in Form eines Dialogs geschrieben oder kommen als Gedichte daher. Das Leben in der Stadt Bern wird auch durch die Sprache gespiegelt. Gelegentlich findet sich eine berndeutsche Geschichte, und die Margerite in „jardin botanique“ vertraut uns ihre Gedanken auf Französisch an. Auf die Frage, ob ihr Erstlingswerk teils autobiografische Züge habe, antwortet die Autorin, es sei eher eine Mischung aus Erinnerung und Kreativität. „Ich habe eigene Erlebnisse, Personen, die ich kenne, und unabhängige Ideen zu einem Teig zusammengemischt, und daraus neue Kuchen gebacken.“
Eine Besonderheit von „Aaregeflüster“ besteht darin, dass die Kurzgeschichten nicht immer in sich abgeschlossen sind, sondern oft weiterfliessen und ineinander hineingreifen. Nebenfiguren aus einer Dialoggeschichte sind Wiedergänger als Protagonisten in einem Prosatext. Papierflieger verlassen eine Geschichte, um in einer anderen wieder aufzutauchen. Man kennt sich plötzlich, wo gerade noch Unbekanntes war. Auf diese Weise kreiert Désirée Scheidegger eine Berner Stadtfamilie, die viele lustige, manchmal verrückte und auch traurige Momente miteinander teilt. Wichtig war der Autorin aber, dass ihre Charaktere nicht unsympathisch sind. „Es gibt keine Person in dem Buch, die ich nicht gerne kennenlernen würde.“
Die Lektüre fühlt sich oft traumartig bekannt an. Beim Eintauchen in die Gefühlswelten der Protagonisten werden einem die Augen für Details geöffnet, und man erkennt, dass kleine Dinge wie ein ungeöffneter Brief Glück bedeuten können, oder fühlt sich angesteckt von Karl, der mit einer Schachfigur davonrennt um in ein neues Leben aufzubrechen. „Etwas Wenigem viel Platz geben“, das war der Autorin wichtig. Dies spiegelt sich beispielsweise auch in den Fragen, die zwischendurch auf einer leeren Buchseite anzutreffen sind. Hier wirft das Buch einen interaktiven Moment ein, andernorts entschleunigt es den Leser der modernen Welt. Müssen alle Fragen beantwortet werden, die das Leben stellt? Kann eine Verrücktheit auch mal als unerklärbar stehengelassen werden? Die Fragen, mit denen die Autorin uns konfrontiert, gehen über die Welt in den Kurzgeschichten hinaus. Sie sind nützlich für das Leben in diesen Zeiten – für jene, die hinsehen wollen.
Für Stillstand ist im Leben von Désirée Scheidegger kein Platz. Beruflich bildet sie sich weiter zur Lehrerin für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache und auch kreativ steht ein Richtungswechsel an. Das nächste Buchprojekt wird eine Zusammenarbeit mit ihrer Zwillingsschwester. Dabei möchte sie diesmal einer Stilrichtung treu bleiben und sich etwas vertiefter einem einzelnen Charakter zuwenden.
Désirée Scheidegger
Aaregeflüster
156 Seiten, Klappenbroschur,
13,5 x 20,5 cm
ISBN 978–3‑906311–31‑9
Erschienen im Knapp Verlag | CH-4600 Olten