Drei Filmausblicke von Walter Rohrbach — Gleichmässig dreht sich die Discokugel in dem weissen Zelt, das an eine ghaddafische Zeltstadt erinnert. Jedenfalls hätte ich mir eine solche so vorgestellt. Doch in der Wüste sind wir nicht. In der filmischen schon gar nicht. Auf dem SechseläutenPlatz wo sich die gestylte Prominenz trifft, klingen die Gläser (vorwiegend Sektgläser). Der Barkeeper öffnet mit zürcherischer Effizienz Flasche um Flasche. Schallwellen des Tom Jones-Klassikers mit dem Titel «Sexbomb» tönen aus den Lautsprechern und prallen auf die bunten Ballkleider und die meist dunklen Herrensakos der feinen Gesellschaft. Grund dieses Schauspiels ist das 9. Zürich Film Festival, worauf drei Filme Ein- und Ausblicke in den nächsten Zeilen geben werden.
Der Film, dem bei diesem Festival nicht ausgewichen werden kann, ist «Rush». Der Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals fand grosse mediale Beachtung. Insbesondere auch Dank der Anwesenheit des Schauspielers Daniel Brühl. Normalerweise finde ich Motorsport so spannend, wie der Bewegungsfreudigkeit einer Steinstatue zu folgen. Soweit meine persönliche Disposition zu der benzinlastigen Sportart, welche Lebensmittelpunkt und Lebensinhalt der beiden Hauptprotagonisten des Films darstellt. Doch das 123-minütige Rennspektakel geht über rauchende Reifen und überhitzte Motoren hinaus, und thematisiert eindrücklich das Verhältnis zwischen zwei Kontrahenten, die Mitte der 70er Jahre um den Weltmeistertitel in der Formel 1 kämpften: James Hunt und Niki Lauda lieferten sich damals spektakuläre Zweikämpfe auf und neben der Piste. Ein Kampf, der rauh, direkt und mit harten Bandagen ausgetragen wurde; für Siege mussten hohe Risiken eingegangen werden. Rennfahrer wurden zu Popikonen. Um die charismatischen Fahrer kursierten Mythen, welche bis heute zu vernehmen sind. Speziell zutreffend ist dies für den britischen Rennfahrer James Hunt. Er entsprach dem Idealtypus des attraktiven und draufgängerischen Frauenhelden, der sich gerne an der Seite von schönen Frauen an ausschweifenden Partys präsentierte und zünftig mitfeierte – so zumindest der Mythos. Das Gegenbild stellte Niki Lauda dar. Der strenge österreichische Dialekt symbiotisiert ausgezeichnet mit den ihm zugerechneten Charakterbeschreibungen: pragmatisch, zielorientiert, verbissen, unzugänglich, ehrgeizig. Die Betonung dieser Unterschiede macht den Film interessant. Gelungen dargestellt von Daniel Brühl und Chris Hemsworth prallen die unterschiedlichen Charaktere und Lebensphilosophien der beiden Steuermänner aufeinander, umringt von einer Scheinwelt aus roten Lederkombis, nach Öl riechenden Boxengassen und von Fans überfüllten Asphaltstrassenrändern. Nicht verwunderlich diese originelle Inszenierung, denn Ron Howard, bekannt für diverse Blockbuster wie «Apollo 13» (1995) und «A Beautiful Mind» (2001), hat Regie geführt, und die beiden Kontrahenten ins rechte Licht gerückt, welches zwar manchmal gar stark ins Reich von Hollywood scheint. Dennoch ist es ein Film mit gutem Tempo, der auf die Hauptthematik fokussiert bleibt: Die Darstellung zweier Rivalen die einander Verbunden sind, von der Rivalität ebenso angetrieben wie gefordert werden, und persönlich und sportlich von dem Wettstreit profitieren. «Wenn zwei sich streiten, lacht nicht notwendigerweise der Dritte» könnte als Quintessenz entnommen werden. Ein Film um Lebensphilosophien und Sympathien auf der Rennstecke des Lebens zwischen Verbissenheit und Lockerheit, zwischen Ehrgeiz und Gleichgültigkeit.
«Imagine a science-fiction film. We’re in a cold, distant urban landscape: Imagine that we live in that future right now. The megacity is a reality, and it looks a lot like the visions of science-fiction films through the 20th century. Gigacities are soon to be.»
Dies der wortgewaltige Einstieg zum Dokumentarfilm «The Human Scale» vom jungen dänischen Filmemacher Andreas M. Dalsgaard, welcher sich dem spannenden Thema der Stadtgestaltung und der Lebensqualität der Menschen widmet. Was oft vergessen wird, wird hier betont und mit nachdrücklicher Erzählerstimme und faszinierenden Kameraperspektiven aufgezeigt. Der Gehalt dieser Aussagen wird durch die Bilder einiger Grossstädte schnell greifbar und verständlich: Grosstädte sehen komisch aus! Sie sind nicht auf den Menschen und seine Bedürfnisse angepasst. Sie sehen künstlich aus! Der öffentliche Raum hat oftmals nichts Einladendes, hat nichts Anziehendes und graut in farbloser Langweile vor sich hin. Hie und da mal ein öder Brunnen. Zum durchhetzen bestimmt gibt es wenige Orte zum Verweilen, zum Parlieren, zum Kaffieren, zum sich Treffen. Wenig Raum für Tratsch und Klatsch, zum Küssen, zum Schimpfen oder was auch immer. Ein Paradox! Ist doch der Mensch neben Vielem, ab und zu ein soziales Wesen mit Bedürfnissen nach Begegnungen. Die Frage ist berechtigt, warum der öffentliche Raum für den Menschen so unvorteilmässig gestaltet wurde, warum uns das wenig kümmert und warum wir nur wenig darüber wissen: «Sometimes I would say that even today, we know much more about a good habitat for mountain gorillas or Siberian tigers than we know about a good urban habitat for Homo sapiens»- lautet den auch der Kommentar von Jan Gehl. Er beobachtet das Verhalten der Menschen in den Städten bereits seit 40 Jahren und stellt fest, dass sich dieses sehr stark an den physischen Gegebenheiten einer Stadt anpasst. Er begann mit Studien und Beobachtungen an öffentlichen Plätzen. Er zählte die Anzahl Leute und dokumentierte deren Verhalten. Wer weilt? Wer eilt? Was macht einen Platz angenehm für die Menschen? …und so weiter. Erstaunlicherweise gibt es so etwas wie einen globalen Mainstream darüber, was Menschen als angenehm empfinden bei öffentlichen Plätzen. Seine Überlegungen fanden internationalen Anklang und wurden in Städten wie Melbourne, Dhaka, New York, Chongqing und Christchurch angewendet. Diese bilden die Hauptschauplätze des Dokumentarfilms. So sieht man, wie sich aus stauenden Autostrassen (bsp. New York) oder aus öden Nebenstrassen (bsp. Melbourne) menschengesäumte Treffpunkte mit Läden und Cafes entwickelten. Wie sich durch das Aufstellen von Bänken und Tischen und durch das Vorhandensein von Verweil- und Begegnungsplätzen das Verhalten der Menschen anpasste. Die Hauptbotschaft der Dalsgaard-Doku ist klar. Es geht darum, die Städte für den Menschen zu designen. Oder in den Worten von Gehl: «…we can build cities in a way, which takes human needs for inclusion and intimacy into account». Insgesamt ein intelligenter Film, der zum Nachdenken anregt und Gedanken über Veränderungsmöglichkeiten in der eigenen Umgebung anstösst. Ein relevanter und ein vorausschauender Film: Mittlerweile leben 50% der Weltbevölkerung in urbanen Gebieten und es wird davon ausgegangen, dass es 2050 80% sein werden. Allerdings fallen die gebotenen Lösungsvorschläge der Stadtentwicklung von Dalsgaard allzu einfach aus und manchmal reibt man sich die Augen und wird das Gefühl eines Werbefilms für ein Architekturbüro nicht los. Dies sind aber rare Sequenzen und das Prädikat sehenswert kann mit gutem Gewissen erteilt werden.
«Fire in the blood» ist Dylan Mohan Gray›s erster Wurf in der Kategorie des Langzeitfilms. Ein Film der ins Blut geht, politisch ist und eine klare Position einnimmt. Ein Drama um «Leben und Tod», um «Gut und Böse». Eine Dokumentation über «Arm und Reich», über Gerechtigkeit, die Fragen nach Verantwortung und Ethik aufwirft. Eine Geschichte mit kapitalorientierten Bösewichten in den Pharmakonzernen, in der die Entwicklungsländer wieder einmal das Nachsehen haben. Was sich ab den 80iger Jahren zuträgt könnte genauso gut Inhalt eines apokalyptischen Films sein. HI (Human Immunodeficiency) heisst der Virus der sich über den Globus ausbreitet, der Schrecken und Elend beinhaltet und unseren Umgang mit der Sexualität nachhaltig beeinflussen wird. Am Anfang noch unbehandelbar, gilt er als tödliche Hypothek mit stetiger Unsicherheit des Ausbruches und wird viele Menschen in den Tod reissen. Dies ändert sich mit der Entwicklung von Medikamenten. Genauer der medikamentösen Kombinationstherapie, einer aus mindestens drei antiretroviralen Wirkstoffen bestehenden Behandlung, welche das Virus selbst zwar nicht zerstören sondern die Vermehrung der Viren aufhalten kann. Ein unglaublicher Durchbruch und ein Lichtblick für alle, die den HI-Virus in sich tragen. Was nun folgt ist eine Verbesserung der Lebensbedingungen der infizierten Personen und eine annähernd gleiche Lebenserwartung der Betroffenen wie bei gesunden Menschen. Allerdings mit der Einschränkung, dass diese ein Leben lang an die Medikamente und deren Nebenwirkungen gebunden sind. Dies gilt natürlich nur für Menschen, die Zugang zu den Medikamenten haben. Hier setzt «Fire in the Blood» ein und erzählt die unfassbar anmutende Geschichte, die sich nach 1996 zugetragen hat in der die westlichen Pharmakonzerne und Regierungen den Zugang zu günstigen Aidsmedikamenten für Afrika und den globalen Süden verhinderten und damit zehn Millionen Menschenleben in Kauf genommen haben sollen. Grosse Konzerne wie Pfizer und GlaxoSmithKline beharrten auf ihre Patente und verunmöglichten so die Produktion von erschwinglicheren Generikamedikamenten: Der anfängliche Preis für die antiretroviralen Medikamente lag bei 15›000 US Dollar pro Person und Jahr. Dies bescherte den Konzernen riesige Profite und sie waren nicht bereit auf die Patentrechte in den Entwicklungsländer zu verzichten obwohl dort für ihre teuren Originalprodukte nur ein sehr geringer Absatzmarkt bestand. Für die Dokumentation hat der Regisseur Dylan Mohan Gray auf vier Kontinenten gedreht und wichtige Persönlichkeiten und Akteure befragt. Unter anderem kommen Bill Clinton, Desmond Tutu und Joseph Stiglitz zu Wort. Gray, der Filmemacher aus Indien, stiess durch einen Zeitungsartikel auf die Thematik und recherchierte und filmte insgesamt sechs Jahre für die bewegenden 87 Minuten erzählte Geschichte, die in Vergessenheit zu geraten drohte: «And finally, when it became clear to me that the story was being lost, swept under the rug and forgotten, that there was a very real threat no lessons would be taken from this unimaginable atrocity and that the drug industry and major Western governments were actively working to shut down future production of lowcost generic medicine in the global south». Dies ist ein unglaublicher Fakt, der durch verschiedene Aktivisten geschildert wird. Politik und Öffentlichkeit kümmerten sich nicht (oder nur gering) um die Tatsache, dass in den Entwicklungsländern Millionen von Menschen qualvoll an den Folgen des HI-Virus starben. Es wurde als gegebene Tatsache angenommen. Obwohl in der Folge sich immer mehr Aktivisten für die Geschehnisse politisieren und mobilisieren liessen, unterliess beispielsweise die WHO die Errechnung der möglichen Kosten für Generikamedikamente. Dies mussten Aktivisten übernehmen und sie fanden in Yusuf Hamied einen indischen Wissenschaftler und Vorsitzenden eines Generikapharmakonzerns, der bereit war, die billigst möglichen Kosten für die Rohstoffe der Produktion der Aidsmedikamente zu errechnen: Er kam auf 350 US Dollar pro Person und Jahr. Ein krasser Gegensatz zu den verlangten 15›000 US Dollar für die Originalprodukte. Erst hier gelang ein Umlenken der Politik und die Ermöglichung der günstigen Medikamente für die Entwicklungsländer. Ein langer Weg mit vielen Einzelkämpfern und Frustrationen. Ein eindrücklicher und entlarvender Film. Allerdings muss sich Gray die Kritik der Einseitigkeit gefallen lassen. Dies sei er aber bewusst eingegangen und die Sichtweise der Pharmakonzerne fand keine Erwähnung im Film, erklärt der Regisseur im Gespräch. Denn die Pharmakonzerne waren zu keiner Stellungnahme bereit und wenn, dann wurde immer wieder auf die damalige «andere Zeit» hingewiesen. Die Dokumentation verweist damit auf gravierende Systemmängel die in ihrer Konsequenz für andere Menschen verheerend sind. «We have discovered so many things in the world and we cannot fail to discover a formula where business can continue and prosper and poor people dont have to pay the price with their lives», dies die Aussage von Peter Mugyenyi, einem porträtierten Aktivisten. Der Film ist denn auch aus einer anwaltschaftlichen Perspektive zu verstehen und kämpft an gegen die Lethargie der informationsüberfluteten Massen, denen es schwer fällt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Die Geschichte betrifft aber nicht nur die Vergangenheit: Ebenso heute gibt es viele «Opfer» und «Ausgeschlossene» von überteuerten Medikamenten ‑auch in der westlichen Welt. Ein sehenswerter Film, um sich die Umstände bewusst werden zu lassen. Ein Film der aufzeigt, was mit dem Dokumentarfilm im Gegensatz zu dem häufigen Mainstreamjournalismus möglich ist: Die Fokussierung auf ein Thema und die zeitlichen und manchmal auch finanziellen Ressourcen um an verschiedene Orte zu reisen, um mit wichtigen Akteuren zu sprechen und ein filmisches Bild zu malen.
Foto: zVg.
ensuite, November 2013