Von Fabienne Naegeli – She She Pop und Jaïbi/Baccar am Zürcher Theater Spektakel: Seit über dreissig Jahren lockt das Zürcher Theater Spektakel während der sommerlichen Open Air-Zeit mit zahlreichen internationalen Tanz-/Theater-/Musik-/Nouveau Cirque-Produktionen das Publikum auf die Landiwiese am See. Dieses Jahr steht das spartenübergreifende Festival ganz im Zeichen der Generationen und Revolutionen. Die aus Deutschland stammende Performance-Gruppe She She Pop, welche zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen wurde, spielt in ihrem Stück «Testament – Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach Lear» den Generationenkonflikt auf sehr persönliche Weise durch. Sie liessen sich von Shakespeares «König Lear» inspirieren und haben ihre eigenen Väter auf die Bühne gebeten, um mit ihnen offene Fragen zu klären, und die Wahrheit in der Beziehung zwischen den Generationen zu suchen.
Shakespeares alternder König Lear be-schliesst, sein Reich bereits zu Lebzeiten unter seinen drei Töchtern aufzuteilen, und dabei eine Absprache bezüglich seiner Altersvorsorge zu treffen. Hierzu veranstaltet er eine Art Liebestest, um herauszufinden, welche seiner Töchter ihn am meisten liebt. Inständig hofft er, dass seine Lieblingstochter Cordelia siegt. Als diese jedoch beteuert, dass sie ihn nicht mehr und nicht weniger liebe, wie eine Tochter ihren Vater zu lieben habe, ist er über diese Antwort so enttäuscht, dass er sie zur Strafe enterbt und sein Reich den beiden scheinheiligen älteren Töchtern vermacht. Diese verstossen ihren Vater, der in den Sturm zieht, und, völlig verwirrt, schliesslich an seinem tiefen Kummer stirbt. Bei Shakespeare scheitert der väterliche Plan der Machtübergabe, und die Verknüpfung von Liebe und Geld führt ins familiäre Verderben. Doch was passiert bei She She Pop?
Mit Trompeten-Fanfaren werden die drei Könige angekündigt. Auf der als Wohnzimmer eingerichteten Bühne warten bereits die drei Töchter und der eine Sohn. Umgehend wird das Publikum zum Hofstaat erklärt. Die Verhandlung des komplizierten, mit Missverständnissen und Fehlern behafteten Tauschgeschäfts zwischen den Generationen kann beginnen. Singend, tanzend, teils nur in Unterwäsche und Socken, werden mit kritischem Blick auf Shakespears König Lear Themen wie Pflicht, Verantwortung, Erwartungen, Anerkennung, Machtverhältnisse, Verletzlichkeit, Liebe und Respekt besprochen. Wie soll man mit dem Alter, der Pflege und dem Tod der eigenen Eltern umgehen? Wo sollen die 100 Bücher-Ritter des Vaters im kleinen Appartement der Tochter verstaut werden, wenn dieser nicht mehr allein wohnen kann? Und welche Auswirkungen hat der zeitliche Pflege-Aufwand für den Vater auf die Aufteilung seines finanziellen Erbes unter den Geschwistern? She She Pop bewegt sich in «Testament» an der Grenze zwischen öffentlicher Auseinandersetzung, familiärer Privatheit und Tabu, reflektiert das Unbehagen, die Zweifel und die Neugier der Väter während des Probeprozesses, und nutzt das Theater als Verhandlungsraum, um die uns alle betreffenden Unklarheiten des Generationswechsels zu diskutieren.
Neben den Generations-Umbrüchen sind aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen wie die Revolutionen im arabischen Raum ein weiterer Schwerpunkt im Programm des Theater Spektakels. Das Stück der aus Tunesien stammenden Kunstschaffenden Fadhel Jaïbi und Jalila Baccar «Yahia Yaïch – Amnesia» wurde 2010 uraufgeführt. Durch eine Palastrevolte gestürzt, muss der tyrannische Herrscher Yahia Yaïch das Land verlassen. Da er jedoch keine Reisepapiere besitzt, wird er vorerst unter Hausarrest gestellt. Nach einem Brand in der Bibliothek, der die Zerstörung aller Dokumente zur Folge hat, kommt Yahia Yaïch in die Psychiatrie, wo er mit seiner und der Geschichte seines Landes konfrontiert wird. Jaïbi/Baccars Stück befasst sich mit den Gegebenheiten eines diktatorischen, korrupten Regimes, und hat den im Januar 2011 tatsächlich erfolgten Sturz des tunesischen Regierungschefs Ben Ali aufgrund von Protesten auf beinahe prophetische Weise vorweg-
genommen.
Foto: zVg.
ensuite, August 2011