Von Dr. Regula Stämpfli - Vier Reden von Poetinnen und Poeten, die historisch sind oder es werden: Die Rede von Christa Wolf auf dem Alexanderplatz vom 4. November 1989 („Stellt Euch vor es ist Sozialismus und niemand will weg“), Friedrich Dürrenmatts „Die Schweiz – Ein Gefängnis“ von 1990 („Jeder Gefangene beweist seine Freiheit, indem er gleichzeitig Wärter ist“), Saša Stanišić anlässlich der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2019 („Das ich hier heute vor Ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt“) und neu die Rede von Lukas Bärfuss zum Georg Büchner-Preis vom 2.11.2019.
SRF-Online (wann wird dieses Newsportal à 20 Minuten endlich durch ein öffentlich-rechtliches Einstiegsportal wie ARD, BBC, ZDF ersetzt?) titelt „Brisante Dankesrede“. Zur Erinnerung: Der Georg Büchner-Preis wird seit 1923 verliehen, wurde während der Nazizeit in „Kulturpreis der Stadt Darmstadt“ umbenannt, nach dem Krieg jedoch zum wichtigsten Preis für deutschsprachige Literatur transformiert. Die Büchner-Preisträger sind u.a. Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Golo Mann, Elfriede Jelinek, Friederike Mayröcker, Sibylle Lweitscharoff u.a. Die Reden all dieser herausragenden Dichtenden sind „brisant“, um im Jargon dieses Viertklässlers nach jahrelangen Netflix-Konsum zu sprechen. „Brisant“, „umstritten“, „feurig“, „Leidenschaftlich“ benutzen die Kindersoldaten des Journalismus, d.h. die Quotenjäger mit einem ausschließlich binären Verständnis von Politik nach Null tendierend, gerne. Alles, was irgendwie nach Denken, Freiheit und Demokratie klingt, mutiert im Newsticker-Informationsstau zu „unbequem“, zu „heikel“ und letztlich zum Skandal. Man könnte meinen, alles was echt nach Welt riecht, muss sofort mit einem „Igitt“ belegt werden: Wehe Lukas Bärfuss wäre darüber hinaus eine Frau gewesen. Die Empörung über eine Schweizer-Hochdeutsch sprechende Intellektuelle, die ihre Jury indirekt als Nachkommen von Nazis entlarvt, hätte einen Eklat provoziert!
Als Mann jedoch schrammte Bärfuss am strengen deutschen Feuilleton knapp vorbei. Vielleicht auch, weil die Herren der Kulturschöpfung sein sehr schweizerisch geprägtes Hochdeutsch zunächst schlicht nicht verstanden haben.
Was passiert in der Rede?
Der Schriftsteller beschimpft zunächst „ein bisschen“ Jury und Publikum, um auf den schmalen Grat zwischen Koketterie und Bescheidenheit hinzuweisen. Bärfuss gibt zu, dass kein einziges Werk seinen eigenen Massstäben genüge, da sein Werk nur das Mögliche, nicht das Gewollte verkörpert. Bärfuss fragt sich auch, welcher Preis nun noch für ihn übrigbleiben wird. Der Georg Büchner-Preis gehört schliesslich zum höchstdotierten Preis für die Schriftstellerei. Nur drei Schweizer, so das Schweizer Fernsehen, hätten diesen Preis gewonnen. Was dieser Satz wohl wieder heissen soll?
Lukas Bärfuss gibt Zeugnis in seiner Rede. Die Beobachterposition und die Mittäterschaft beim Schauen des Grauens. Er ist Zeuge sämtlicher Niedertracht und Grausamkeit. „Meine besten Jahre verbrachte ich mit dem Studium der Gewalt, ich habe meinen Figuren eine Existenz geschenkt, um diese Existenz in eine Pein zu verwandeln.“ Bärfuss ist brutal ehrlich, denn: „Wenig war mir heilig“. Dann beweist Bärfuss eine selbstkritische Grösse, die er gegenüber Frauen in seinem Werk kaum Platz gibt (dies ein wichtiger Nebenschauplatz, doch wir lassen dies jetzt…) : „Die Frage wäre nicht abwegig, was denn zum Kuckuck mein Problem sei. … Ich bin ein Schriftsteller aus dem Europa des 20. Jahrhunderts und egal welchen Faden ich auch immer aufnehme, hinter der nächsten oder übernächsten Ecke führt er zu einem Massengrab.“ Die Aufgabe, die Lukas Bärfuss sich und uns allen stellt ist das Erinnern: Dieses sich der Verantwortung eines lebendigen Dazwischenseins von allen Menschen zu stellen.
Die Georg Büchner-Preisrede ist eine wahrhaft grandiose Erzählung Europas und Lukas Bärfuss ist ihr Poet, der „sein Europa“ besingt, in bester und klassischster Tradition Homers. Es ist zu wünschen, dass Lukas Bärfuss von nun ein Jahr vor allem Reden hält. Denn selten ist ein Autor so sehr Mensch wie wenn er leibhaftig mit Herz und Sinn uns alle beim Dichten zuschauen lässt.
„Es braucht keine Chirurgen, um uns das Böse aus den Leibern herauszuoperieren.“