Von Walter Rohrbach — Um die Welt des Musikschaffens mit dem 4. Musikfilm Festival norient. Die Haltestellen sind unter anderem: New Orleans, Israel, Bulgarien, Norwegen und Zimbabwe.
Musik und Geräusche sind etwas Faszinierendes. Wie klingst du? Wie klingt das? Wie klingt die Welt? Tickst du noch richtig? Musik und Rhythmik geben Hinweise auf unterschiedliche Kulturen, Charakteristiken, und verweisen auf Bräuche, Lebensstile und Eigenheiten. Doch was sind eigentlich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Musikerinnen und Musiker, und wie unterscheiden sich diese voneinander in den verschiedenen Regionen dieser Welt? Wie interagiert und wie beeinflusst diese riesige Vielfalt an Musikkulturen‑, ‑stilen und ‑formen einander in einer Welt der zunehmenden digitalen Vernetzung? Einer Welt der globalen digitalen Nähe mittels Youtube, Soundcloud und Facebook. Hier ergeben sich doch neue Einflüsse und Handlungsweisen. Musikalische und kulturelle Grenzen werden aufgebrochen, und eine Vermischung müsste sichtbar werden. Trotzdem: so einfach ist es nicht. Wenngleich die Bild- und Tondateien mit Leichtigkeit Grenzen überwinden können. Einige Musikerinnen und Musiker können dies nicht. Neben der fiktiven Cyberfreiheit existieren reale Grenzen und determinieren und beschränken die reale Teilhabe an der vernetzten globalen Musikszene. Dies die Beobachtung des promovierten Musikethnologen und Musikjournalisten Thomas Burkhalter, Mitorganisator des im Januar stattfindenden Musikfilm Festivals «norient». Zusammen mit Michael Spahr, seines Zeichens Historiker, Filmemacher und Journalist, hat er ein Filmprogramm rund um die Musik in verschiedenen Regionen dieser Erde ausgewählt. Präsentiert wird das musikfilmische Schaffen in den Hallen der Reitschule, wo es ehemals nach Pferdeballen roch, im als «alternatives» gepriesenen Kino. Das Programm setzt nicht auf Quantität, sondern es werden klar Schwerpunkte gesetzt. Filmisch wie auch musikalisch. Neben Filmen gibt es ebenso Konzerte, DJ Sets und Tanzstunden in den Räumen des Progr, des Club Bonsoir und der Reitschule zu rezipieren.
Beispielsweise können wir einen ungewohnten Blick nach Israel werfen. Den Staat, der, wie es scheint, die negativen Schlagzeilen in den Hauptnachrichten seit Jahrzeiten reserviert hat, und mit Begriffen wie Terror, Konflikten und Krieg verbunden wird. Nun dürfen wir dank dem Film «Children of the Bible» von Nitza Gonen einen neuen Begriff kennenlernen: Beta Juden. Dies die Benennung der äthiopischen Juden, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts getrennt von Israelis als Minderheit in der Diaspora lebten. Gonens Film porträtiert die Lebensgeschichte eines engagierten Rappers und Beta Juden. So finden wir uns in einem Wohnzimmer in Israel ein. Ein Zimmer, gefüllt mit interessierten, weitgeöffneten, dunklen Kinderaugen, die gebannt zu ihm schauen: Jeremy Cool Habasch. Der erzählt seine Geschichte. Nein, nicht nur seine. Die Geschichte steht für den Weg vieler Beta Juden, die sich Mitte der 80er auf den Weg ins gelobte Land machten. Mit geschwungenen hebräischen Sätzen skizziert der Rapper den Exodus. Seinen Exodus. Es ist mehr als eine Geschichte, wird dem Zuschauer dieser Szenerie klar. Die Darbietung ähnelt eher einem Ritual. Mit gekonnten Handbewegungen und gebets-artigen Formulierungen wird das Erzählte untermauert, und gewinnt so an Dramatik. Jeremy erzählt die Geschichte einer wohlhabenden Familie, die Musik mochte. Deren Mutter war eine Sängerin, die ihren Kindern das Singen beibrachte. Der Vater dieser Familie indes erzählte die Geschichte von Tempeln, vom Glauben, und vom Land der Vorfahren: von Jerusalem. Einem Ort, der voll Frieden und frei von Hass sein soll. Gebannt verfolgen die Kinder Jeremys Erzählungen, vom Aufbruch und der Beschwerlichkeit der zwei Jahre dauernden Reise von Äthiopien in den Sudan, um schliesslich und endlich das gelobte Land zu erreichen. Tatsächlich machten sich damals ca. 11’000 Beta Juden auf den Weg in die sudanesischen Flüchtlingslager. Um die 4’000 allerdings sollten das Ziel nie erreichen. Heute leben schätzungsweise 135’000 Menschen von äthiopisch-israelischer Herkunft in Israel und prägen das Leben der israelischen Gesellschaft mit. Hier knüpft der 52-minütige Film an, begleitet Jeremy Cool Habasch auf der Suche nach seinen Wurzeln nach Äthiopien, und dokumentiert seinen engagierten Kampf um mehr Rechte für seine Landsleute. Hier spielt der Rap als Ausdrucksform und Instrument ebenso eine identifikationsstiftende wie bindende Komponente für viele junge Mitglieder der äthiopisch-jüdischen Gemeinschaft. Schliesslich fühlen sich viele immer noch ausgegrenzt und marginalisiert von der jüdischen Mehrheit.
Weitere interessante Einblicke in das Musikschaffen können durch dieses Festival gewonnen werden. Vor allem aber auch durch das Buch: «Out of the Absurdity of Live – Globale Musik», welches am Festival vorgestellt und im Traversion Verlag im Dezember erschienen ist. In spannenden Artikeln werden Zeitfragen und Trends des globalisierten Musikschaffens diskutiert und durchleuchtet. Eine durchaus spannende Thematik, und wer sich für die in der Einleitung gestellten Fragen bezüglich Wirkungsweisen der Globalisierung auf das Musikschaffen interessiert, kann auf das 327 Seiten umfassende Buch mit gutem Gewissen verwiesen werden. In welchem nicht nur die Seiten farbenfroh gestaltet sind. Denn: «Globales Musikschaffen ist hedonistisches «Copy and Paste». Sounds, Stile, Ideen und ihre Bedeutungen werden frisch durcheinandergewirbelt und frei in neue Kontexte übersetzt». Eine spannende Sache!
Der international tätige Verein norient – Network for Local and Global Sounds and Media Culture – versteht sich als Schnittstelle von Musik, Gesellschaft, Wissenschaft, Journalismus und Blogkultur. norient produziert, neben dem norient-magazin, zudem eine monatliche Radiosendung auf Radio Bern RaBe.
www.norient.com
Festival: Die Veranstaltungsorte waren die Reitschule, der Club Bonsoir und der Progr. Weitere Infos finden sich unter:
musikfilmfestival.norient.com
Buch: Out of the Absurdity of Life – Globale Musik. Herausgegeben von Theresa Beyer und Thomas Burkhalter. Traversion Verlag.
buch2012.norient.com
Foto: zVg.
ensuite, Januar 2013