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Glückspilze – Lucky Devils

Von Son­ja Wenger — So genau weiss nie­mand in St. Peters­burg, wie viele Strassenkinder Tag für Tag und Nacht für Nacht ohne die Wärme und den Schutz eines Eltern­haus­es auskom­men müssen. Die Organ­i­sa­tion «Hil­fe für Strassenkinder» schätzt, dass es min­destens 8’500 Mäd­chen und Buben jeden Alters sind, die fest auf den Strassen der nor­drus­sis­chen Stadt leben – jene nicht mit­gezählt, die immer wieder von zuhause wegren­nen, weil sie die Gewalt und Ver­nach­läs­si­gung dort, und die Dro­gen- und Alko­hol­prob­leme der Fam­i­lie nicht aushal­ten. Greift die Polizei diese Kinder auf, wer­den sie oft ver­prügelt, meist bestohlen, manch­mal miss­braucht, und im besten Falle in ein staatlich­es Erziehung­sheim gesteckt.

Dass diese all­ge­gen­wär­tige Gewalt in den See­len der Kinder und Jugendlichen Spuren hin­ter­lässt, über­rascht wenig. Die wirtschaftliche und soziale Per­spek­tiven­losigkeit des Lan­des tut das ihre, die Stim­mung gedrückt und die Welt grau und monot­on erscheinen zu lassen. Den­noch gibt es auch hier Men­schen, die sich engagieren und gegen die Hoff­nungslosigkeit und das Sys­tem mit kreativ­en Meth­o­d­en ankämpfen. Ein solch­er Men­sch ist Laris­sa Afana­se­va. Sie ist die kün­st­lerische Lei­t­erin des «Zirkus Upsala». Seit elf Jahren arbeit­et die Regis­seurin zusam­men mit Akro­batik­train­ern in diesem sozialen Pro­jekt, das pro­fes­sionelle Zirkus- und The­aterkun­st direkt mit Sozialar­beit verbindet, und gezielt Kinder und Jugendliche aus sozialen Risiko­grup­pen fördert.

Wie genau dies aussieht, hat die Bern­er Regis­seurin Ver­e­na Endt­ner in ihrem neuen Doku­men­tarfilm «Glück­spilze» fest­ge­hal­ten. Darin porträtiert Endt­ner die vier Pro­tag­o­nis­ten Dan­ja, Igor, Mis­cha und Nast­ja, begleit­et sie in ihr Zuhause und zeigt ihre Fam­i­lien- oder Lebenssi­t­u­a­tio­nen. Doch nicht alle vier gehören zu den Glück­spilzen. Während Mis­cha, ein ehe­ma­liges Strassenkind, seit zehn Jahren dabei ist und heute zu den Train­ern gehört, hat­te Nast­ja nie das Glück, vom Zirkus Upsala ent­deckt zu wer­den. Sie lebt, eben­falls seit zehn Jahren, auf der Strasse. Und während der sech­sjährige Dan­ja durch das Zirkus­train­ing eine atem­ber­aubende Verän­derung direkt vor der Kam­era durch­lebt, scheit­ert Igor bere­its an den Grun­dan­forderun­gen der Gruppe.

Diese sind in der Tat fordernd. Zwis­chen 25 und 50 Kinder, die aus Heimen oder zer­rüt­teten Fam­i­lien kom­men, erhal­ten im Zirkus Upsala während jew­eils drei Jahren eine inten­sive Aus­bil­dung. Dabei geht es nicht nur um Akro­batik. In der kün­st­lerischen Arbeit ler­nen sie, ihre eige­nen Fähigkeit­en zu erken­nen und Ver­ant­wor­tung für andere zu übernehmen. Oft find­en sie im Zirkus erst­mals Lebens­freude und kindliche Unbeschw­ertheit. Die Erfahrun­gen der Zirkusauf­führun­gen – auch auf Tourneen im Aus­land – ver­mit­teln ihnen zudem das Gefühl, mit ihrer Arbeit Erfolg zu haben und ihrem Leben einen Sinn zu geben. Die meis­ten dieser Kinder und Jugendlichen gehen gestärkt in ihr ursprünglich­es Leben zurück, und sind danach bess­er inte­gri­ert in Schule oder Beruf.

Diese Prozesse hat Endt­ner mit teils infor­ma­tiv­en, teils ent­lar­ven­den, aber auch erschüt­tern­den Inter­views ergänzt. Ihre Stad­tan­sicht­en von St. Peters­burg und ernüchtern­den Auf­nah­men aus dem rus­sis­chen All­t­ag ver­an­schaulichen zusät­zlich die Gegen­sätze, mit denen auch die Kinder kon­fron­tiert sind, die während ihrer Zeit im Zirkus und bei den Auf­führun­gen im In- und Aus­land eine ganz andere Welt erleben. Mit einem herz­er­wär­menden Gas­tauftritt der Schweiz­er Clown­in Gar­di Hut­ter, unter­malt mit ein­er dezent beschwingten Musik, die sich gängi­gen Rus­s­land­klis­chees entzieht, und einem angenehmen Grund­ton der auf Pathos verzichtet, ist «Glück­spilze» ein berühren­der, kurzweiliger Film über ein The­ma, das nicht nur Rus­s­land beschäftigt.

«Glück­spilze», Schweiz 2013. Regie: Ver­e­na Endt­ner. Länge: 95 Minuten.

Hin­ter­grund­ma­te­r­i­al und Infor­ma­tio­nen über Spezialauf­führun­gen find­en Sie unter: www.glueckspilze-film.ch

Foto: zVg.
ensuite, Jan­u­ar 2014

Artikel online veröffentlicht: 29. Mai 2019