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Goethe gegen Goethe lesen

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Kür­zlich suchte ich in Sig­mund Freuds «Unbe­ha­gen in der Kul­tur» Trost – ein von Beginn weg para­dox­es Unternehmen, doch nicht ohne Fol­gewirkung: inspiri­erte mich doch der san­fte Wiener zu völ­lig ungeziem­lichen Aben­teuern – wie zum Beispiel, ein Goethe-Zitat völ­lig gegen den Strich zu lesen.

«Wer Wis­senschaft und Kun­st besitzt, hat auch Reli­gion; wer jene bei­den nicht besitzt, der habe Reli­gion.» Nor­maler­weise lesen alle diese Zeilen als einen typ­is­chen Goethe-Gegen­satz zwis­chen Kun­st und Natur, wobei let­zter­er immer der Vor­rang zuste­ht (was übri­gens auch die bru­tale Seite von deutsch­er Sen­ti­men­tal­ität erk­lärt). Im Brief an Luise von Sach­sen-Weimar (ach, waren dies noch Zeit­en, als beg­nadete Kün­stler Briefe an intellek­tuelle Frauen schrieben und sich nicht darauf spezial­isierten, junge Stu­dentin­nen flachzule­gen) meinte der grosse Wolf­gang 1787, nach einem öffentlichen Gartenbe­such: «… die Natur­w­erke sind immer wie ein frisch aus­ge­sproch­enes Wort Gottes.»

Spricht der Satz also dafür, dass Reli­gion «natür­lich» ist und als solche so per­fekt, dass sie Wis­senschaft und Kun­st gar nicht nötig hat? Nein, das Gegen­teil ist der Fall. Goethe hat etwas ganz Richtiges gesagt, aber sich sel­ber völ­lig gegen den Strich sein­er Aus­sage inter­pretiert. Der Dichter hat die Brisanz sein­er Zeilen eben nicht erkan­nt. Denn eigentlich beschreibt er mit diesem Satz viele «Post»-Situationen der Gegen­wart. Wis­senschaft und Kun­st bergen tat­säch­lich immer etwas Religiös­es, sie sind Teil der Fein­stof­flichkeit in ein­er durch und durch mate­ri­al­is­tis­chen Welt. So kann nur wer einen Spritzer Spir­i­tu­al­ität in sich trägt, im Sinne eines Ver­ständ­niss­es, dass es mehr gibt als dass sich die Men­schheit träu­men lässt, die Wis­senschaften voran­brin­gen. Leben ist durch die Zwis­chen­räume und das Drumherum gestal­tet. Denken wir nur an Heisen­berg. Meinen die über­laut­en Mate­ri­al­is­ten tat­säch­lich, sie hät­ten der Quan­ten­physik auf die Spur kom­men kön­nen, indem sie ein­fach Tabellen nebeneinan­der­stellen und irgendwelche Zahlen­rei­hen studieren? Selb­st Ein­stein kam auf die Rel­a­tiv­ität­s­the­o­rie durch eingängiges Studi­um von klas­sis­chen Schriften, und nicht durch Empirie. Gedichte, Denken, Inspi­ra­tion sind eben­so Teil der Wis­senschaften wie die anschliessende logis­che Bewe­is­führung.

In Alter­na­tiv­en denken – und nur das ist Wis­senschaft – bedeutet mitunter auch Altes neu erzählen, neu denken und anders auf die beste­hen­den Instru­mente anwen­den. Zahlmeis­ter ste­hen im Ver­gle­ich dazu immer nur auf der Seite von Herrschaft und Macht und nicht der Erken­nt­nis. Deshalb ist, wer nur auf Materie pocht, eben­so ein fanatis­ch­er Ide­olo­gie- wie ein klas­sisch fanatis­ch­er Sek­ten- und Reli­gion­s­men­sch.

George Orwell ver­ab­scheute all jene, die meinen, die Weisheit mit dem Löf­fel gefressen zu haben: Religiöse eben­so wie Wis­senschaftler, denn:

«Sie wer­den sich, wenn sie kön­nen, seines Gehirns bemächti­gen, und ihm bis in die let­zten Einzel­heit­en vorschreiben, wie er zu denken hat.» Glaubenslehren wie der mate­ri­al­is­tis­che Athe­is­mus beispiel­sweise sind hier nicht ausgenom­men, er man­i­festiert sich oft auch in einem religiösen Furor. «Tritt man näm­lich ein­er Bewe­gung bei, die frei vom gewöhn­lichen Schmutz» des Aber­glaubens (Orwell schreibt «Poli­tik») zu sein scheint – «einem Glauben also, von dem man für sich selb­st kein­er­lei materielle Vorteile erwarten kann -, so ist das sicher­lich ein Beweis dafür, dass man recht hat. Und je fes­ter man davon überzeugt ist, im Recht zu sein, desto natür­lich­er ist der Wun­sch, jeden anderen mit allen Mit­teln dahin zu brin­gen, eben­so zu denken.» (Gedanken 1947)

Deshalb lese ich Goethe gegen Goethe: Wer nicht wahrhaftige Wis­senschaften als kri­tis­che Infragestel­lung und Vielfalt hat, wer nicht wahrhaftig Kun­st im Sinne von Vielfalt, Kri­tik, Schön­heit, Hässlichkeit, Real­ität und Imag­i­na­tion hat, hat nur Reli­gion, d.h. Ide­olo­gie. Wis­senschaft und Kun­st ihrer­seits sel­ber sind dann Reli­gion, wenn sie keine Reli­gion besitzen. Reli­gion im Sinne von Fein­stof­flichkeit, von ein­er Spir­i­tu­al­ität in Zwis­chen­räu­men, in Leer­stellen, in Offen­heit und Vielfalt. Wer auss­chliesslich nur Wis­senschaft besitzt, wird dies ohne Leer­stellen, offene Fra­gen, Möglichkeit­sräume nicht schaf­fen. Ohne Meta­physik verkom­men Wis­senschaft und Kun­st sel­ber zur Reli­gion, sprich Ide­olo­gie.

 

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