Von Sandro Wiedmer - Bereits zum 11. Mal findet in Neuenburg das Neuchâtel International Fantastic Film Festival (N.I.F.F.F.) statt. Einmal mehr wird sich vom 1. bis zum 9. Juli die beständig wachsende Gemeinde von Fans des Genre-Kinos versammeln, um den zahlreichen Vorpremieren, Projektionen von Filmen welche sonst kaum auf Leinwänden zu sehen sind, insbesondere Perlen aus der Filmgeschichte und Werken aus dem asiatischen Raum beizuwohnen.
Jahr für Jahr während des Sommers, wenn sich die Sonnenhungrigen und Badewütigen an den Gestaden des Neuenburgersees tummeln, versammelt sich um das Kino Apollo mit seinen drei Sälen als Zentrum des Festivals eine ganz andere Gesellschaft, die es vorzieht, sich im Dunkel der Kinos, welche seit einigen Jahren sogar über eine Klimaanlage verfügen, von Menschen fressenden Zombies, zerstörerischen Monstern, mordenden Psychopathen, Geistern, Ausserirdischen, aber auch dem ganz alltäglichen Horror erschrecken zu lassen. Von einer Gruppe befreundeter Gleichgesinnter im Jahr 2000 zum ersten Mal durchgeführt, gehört das N.I.F.F.F. längst zu den renommiertesten Veranstaltungen seiner Art, mit einer Ausstrahlung weit über Europa hinaus. Obwohl die Präsentation durch Bescheidenheit glänzt, keine roten Teppiche ausgerollt werden und jeglicher Glamour aussen vor bleibt, gehörten zu den illustren geladenen Gästen schon Grössen wie George A. Romero, Dario Argento, Joe Dante, John Landis, Terry Gilliam, Roger Corman, Hideo Nakata, Bong Joon-ho, Park Chan-wook oder, letztes Jahr, Sogo Ishii. Neben den Filmprogrammen, Retrospektiven und Projektionen von Kurzfilmen finden zudem jedes Jahr auch Ausstellungen, Symposien und Konferenzen zu verwandten Themen statt. Als das Festival durch den wachsenden Zuspruch aus allen Nähten zu platzen drohte, wurde ab 2007 ein Open Air eingerichtet, zum zehnten Jubiläum letztes Jahr zusätzlich der grosse Saal des Théâtre du Passage zum Kino umfunktioniert. Dieses Jahr nun, da zum ersten Mal das Freiluftkino aus organisatorischen Gründen wegfällt, wird im Temple du Bas ein weiterer Saal als Spielstelle zur Verfügung stehen.
Das diesjährige Programm, welches vom Freitag bis zum darauffolgenden Samstag dauert und zum ersten Mal zwei Wochenenden umfasst, soweit zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt, wird zwei neue Programmsegmente einführen: Neben den ständigen Sektoren des Internationalen Wettbewerbs, dessen Gewinner jeweils mit dem von H.R. Giger gestalteten «Narcissus» ausgezeichnet wird, während für den zum besten Europäischen Film gekürten der goldene Méliès verliehen wird, dem ebenfalls einen Wettbewerb beinhaltenden «New Cinema from Asia», und den Kurzfilmen, werden unter dem Titel «Films of the Third Kind» für das grosse Publikum bestimmte Vorpremieren der Saison aufgeführt, darunter der spektakuläre «Detective Dee and the Mystery of the Phantom Flame» von Tsui Hark, und mit der Reihe der «Ultra Movies» kommen spezielle Mitternachtsvorstellungen mit den extremsten, seltsamsten bizarren Auswüchsen des gestrigen und heutigen Genrekinos neu ins Angebot.
Dann wird dieses Jahr mit der Retrospektive «Just a Film» auch der Versuch unternommen, das Genre des Gore-Films vom Vorurteil des reinen Schunds zu befreien. Seine Wurzeln können bis zu den Stücken Shakespeares und zum Theater des Grand-Guignol zurückverfolgt werden, und die Filmgeschichte weist seit der Erfindung des Kinematografen Beispiele auf, wie die Körperlichkeit eingesetzt wird um Ängste darzustellen, Befremden und Schrecken hervorzurufen. Als Erfinder des Genres gilt allerdings Hershell Gordon Lewis, der «Godfather of Gore», der dieses Jahr zu den Ehrengästen des N.I.F.F.F. gehört. Geboren 1929 in Pittsburgh, nach einem Journalismus-Studium und einer Professur für Englische Literatur, Tätigkeiten für verschiedene Radios und dem Einstieg in die Werbe-Branche, begann Lewis in den 60er-Jahren Filme zu drehen. Erste in Guerilla-Manier abgedrehte B‑Pictures fielen vor allem durch mehr nackte Haut auf, als sie die Studios gemäss rigiden Zensur-Bestimmungen je hätten zeigen dürfen. Der Legende nach sah er dann einen Film, in welchem ein Mann von Maschinengewehrfeuer niedergestreckt wird, wobei er sich bloss an die Brust langt und zu Boden sinkt: Kein spritzendes Blut, keine herausquellenden Gedärme. Für ihn, der im Film ein Geschäft sieht, der Leute bedauert, für die er eine Kunstform darstellt, eröffnete sich in der expliziten Darstellung von Gewalt und deren Auswirkungen ein neues Feld, ein sensationslüsternes Publikum anzuziehen. Der Erfolg von «Blood Feast» (1963), in welchem der Inhaber einer Imbiss-Bude reihenweise Frauen umbringt, um aus ihren Körperteilen ein Opfer für die altägyptische Göttin Ishtar zu bereiten, gab ihm Recht, und mit «2000 Maniacs» (1964) folgte eine grössere Produktion. Darin liess er sich vom Musical «Brigadoon» (1947) inspirieren, später von Vincente Minnelli mit Gene Kelly verfilmt (1954): Die Geisterstadt von Schottland in die Südstaaten Amerikas verlegend, lässt er ein Kaff voll rachedürstenden Konföderierten eine Handvoll Touristen aus dem Norden auf erlesene Weise um die Ecke bringen. Bald drehte er um die zwei Filme pro Jahr mit mehr oder weniger Erfolg, bis die Zensurbestimmungen des Hays-Code 1968 in ein Rating-System umgewandelt wurden, und auch die Studios und einzelne Autoren die neu gewonnenen Freiheiten ausschöpfen konnten. «The Gore Gore Girls» (1972) war sein letzter Film, bevor er sich wieder ausschliesslich im Werbe-Geschäft betätigte. Den Traum eines Sequels zum Genre begründenden Film erfüllte er sich 2002 mit «Blood Feast 2: All You Can Eat».
Die Reihe «Just a Film» verfolgt, neben der Aufführung von ausgewählten Werken von H.G. Lewis, deren Auswirkungen bis in die 80er-Jahre, als Regisseure wie David Cronenberg, Sam Raimi oder Peter Jackson Elemente des Genres gar in den Mainstream einbrachten.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2011