Von Fabienne Naegeli — Pichet Klunchun (Thailand) und Mass & Fieber (Schweiz): Seit über 30 Jahren stürmt in die kulturelle Sommerflaute das Zürcher Theater Spektakel mit einem Programm, das seinen Namen wahrlich verdient. Es lockt erfolgreich mit Theater‑, Tanz- und Performance-Produktionen aus der ganzen Welt Gross und Klein auf die Landiwiese. Rund 25 bis 30 innovative, ausländische Gruppen oder EinzelkünstlerInnen lädt die Programmleitung jährlich ein. Nach Lateinamerika geht es in diesem Jahr auf die andere Seite des Globus. Das Theater Spektakel richtet seinen Blick nämlich nach Ost- und Südostasien, in einen geographischen Raum, der durch rasante politische und soziale Veränderungen gekennzeichnet ist. Ein herausragender Künstler dieses Erdteils ist der aus Bangkok stammende Choreograph und Khon-Tanz-Meister Pichet Klunchun. In seinen Projekten insbesondere in «Pichet Klunchun and Myself» , das 2006 am Theaterhaus Gessnerallee zu sehen war, geht es ihm um die Verständigung unterschiedlicher Kulturen und die Integration von zeitgenössischen Elementen in den traditionellen Khon-Tanz seiner Heimat Thailand. In der genannten Arbeit, die er gemeinsam mit dem französischen Choreographen Jérôme Bel realisiert hatte, entstand durch gegenseitige Befragung ein spannender Dialog über kulturelle Unterschiede und künstlerische Affinitäten. Ebenso tritt Klunchun in «Nijinsky Siam», das am diesjährigen Theater Spektakel zu sehen sein wird, in einen Dialog, dieses Mal jedoch mit einem bereits verstorbenen Tänzer. Im autobiographischen Schattentanztheater «Nijinsky Siam» verbindet er die Tradition des Khon mit der westlichen Tanz-Kunst des russischen Ausnahmechoreographen Vaslav Nijinsky, der mit den Ballets Russes zu Beginn des 20. Jahrhunderts an verschiedenen Opernhäusern tanzte. Per Zufall stiess Klunchun auf Fotografien der Aufführung «L‘Après-Midi d‘un Faune» («Nachmittag eines Fauns», Claude Debussy) von 1912 an der Pariser Opéra, bei der Nijinsky als Choreograph debütierte. Die Gesten, Posen und Kostüme erinnerten Klunchun stark an den Khon. Tatsächlich hatte Nijinsky 1910 das Gastspiel einer siamesischen Tanzgruppe in Sankt Petersburg gesehen, und machte sich die Schönheit des klassischen Thai-Tanzes zu etwas Eigenem. Mit diesem Blick von aussen, so Klunchun, sorgte Nijinsky für neue Impulse in der Entwicklung der alten Tanzformen, und ermöglichte, eine Seite des Tanzes zu sehen, die Eingeweihten bisher verborgen blieb. Die Frage, warum sich Nijinsky die exotischen Gesten angeeignet hatte, steht für Klunchun im Hintergrund seines Stücks «Nijinsky Siam», wichtig ist ihm vielmehr, wie diese Aneignung funktioniert hatte. Über archivierte Fragmente begann Klunchun seine Reise auf dem Weg zur Belebung dieses legendären Tänzers. Mit zwei weiteren Khon-Tänzern seiner Dance Company, und in Verbindung mit dem Schatten der Nang Yai-Lederstabpuppen lässt Klunchun den Geist Nijinsky wieder aufleben, schafft eine tänzerische wie auch musikalische Begegnung zwischen Asien und Europa, und reflektiert so über Rekonstruktion und Neuinterpretation von Kultur. Nebenbei bemerkt ist Pichet Klunchun einer der fünf Nominierten für den Förderpreis der Zürcher Kantonalbank, einer seit 1986 im Rahmen des Festivals verliehenen Auszeichnung für junge, unverwechselbare Produktionen, die einen innovativen Umgang mit neuen Theaterformen pflegen. Abgesehen von Kunstschaffenden des diesjährigen Fokus Asien, sowie den zwei Schwellenländern Südafrika und Brasilien, mit deren Kulturszenen in den vergangenen Jahren intensiv zusammengearbeitet wurde, sind auch Schweizer Theater- und Tanzschaffende am Theater Spektakel 2010 präsent. Zum Beispiel die Gruppe Mass & Fieber, eine 1996 gegründete Kooperation von Theatermachern, Musikern und SchauspielerInnen, die sich nach «Bambifikation» oder «Die schwarze Kammer» in ihrem neusten Stück «Geld und Gott – Superhelden-Komödie nach Dante» mit den Absurditäten unserer heutigen Wirtschaft auseinandersetzen, und so versuchen, der aktuellen Weltsituation eine Utopie entgegenzuhalten. In typischer ScrewBall-Comedy-Manier, einem vom Crime Noir inspirierten Genre, das in den 1930er-Jahren während der Wirtschaftskrise die Komödienform revolutionierte, begegnen sich durch Zufälle vier leicht angeschlagene Menschen in der Grossstadt Gotham City am Mittelmeer, und geraten durch komplizierte Verwicklungen in völlig unnormale Zustände. Der Anwalt Maximilian trinkt auf einen Anruf für eine halblegale Geldübergabe wartend die ganze Nacht mit der einsamen, erfolglosen Schauspielerin Betty in der Hotelbar. Am Morgen stürzt sich ein Mann im Superheldenkostüm, Horst, aus dem Fenster in den Tod, worauf die gestresste Polizistin Josefine, die ihren senilen Vater aus Geldnöten zu Hause hat, um auf ihr Kind aufzupassen, in diesem Fall ermitteln muss. Indessen trifft der schlaflos durch die Stadt wandernde, depressive Hotelkoch Juan auf einen Mann, der aussieht wie Bob Dylan, und ihn nach dem Vorbild von Dantes «Göttlicher Komödie» zu einem höllenhaften Rundgang durchs diesseitige Jenseits einlädt. Doch wie das Leben in einer Stadt, wo jeder kurzatmig rennt und stolpert, aber keiner vorankommt, halt so spielt, werden dem Anwalt die drei Millionen gestohlen, und wo kann das Geld wohl anderes sein als im Umfeld des reichsten Manns von Gotham, dem nervenden Otto Gott. So begegnen sich die vier Menschen bei einer Party der Schönen und machthungrigen Superreichen auf Gottes Jacht Purgatoria. Aber das Geld singt eben nicht für jeden, und das mit der Rückführung ins Paradies ist halt auch eine schwierige Sache, für die eigentlich übermenschliche Fähigkeiten nötig wären. So beschliessen die Vier eine Bande ganz im Sinne der Superheldencomics zu bilden, um gemeinsam zurückzuschlagen, und im Schlauchboot die zukünftige Welt zu retten. Auf einer kaum möblierten Bühne, mit Gotham-Swing und in rasantem Gangsterslang, erzählen Mass & Fieber in ihrer am kommenden Theater Spektakel Uraufführung feiernden Produktion «Geld und Gott» vom durch Handlungsunfähigkeit geprägten Leben, dessen krisenhaftem Stillstand nur durch ein superheldengleiches: «Zusammen sind wir stark!» entgegengewirkt werden kann. Neben den beiden herausgepickten Produktionen wartet das diesjährige Theater-Spektakel noch mit einer ganzen Reihe weiterer Highlights auf, wie dem Noveau Cirque-Stück «Chouf Ouchouf» von Zimmermann & de Perrot, dem Puppentheater über die Zustände in Afghanistan von Neville Tranter, der belgischen Produktion «Gardenia» über Transsexualität, oder der interkulturellen Open-Air-Inszenierung «La Cérémonie – Eine Geisterbahn» von 400asa & Peng Hao Theater, über bürgerliche Zeremonien und die Wiederbelebung von revolutionären Traditionen. Des Weiteren werden, ergänzend zu Theateraufführungen und Performances, Videos von und über KünstlerInnen und deren Arbeiten gezeigt, es finden Konzerte von Schtärneföifi oder dem Ho Orchestra statt, sowie Künstlergespräche und «Tafelrunden» mit ExpertInnen, und der «Kiosk à gogo» von Herrn und Frau Sommer, oder Matsune & Subal’s «Performance-Store» laden zum tauschen und shoppen ein. Übrigens, falls Sie sich bereits über das Motiv der Werbeplakate gewundert haben: Das sind Kaijus, japanische Monsterfiguren oder sogenannte «rätselhafte Bestien», die da abgebildet sind. Ihr berühmter Übervater ist die filmbekannte Riesenechse Godzilla. Ursprung der Kaiju-Welt ist die Mythologie Japans. Für die Theater-Spektakel-Kampagne hat der Fotograf Hans-Jörg Walter einige Kaijus aus der Sammlung des Rockmusikers Martin Strickler inszeniert.
Foto: zVg.
ensuite, August 2010