Von Dr. Regula Stämpfli - Kürzlich beim Abendessen: «Ajatollah Khomeini war kein Diktator, sondern befreite Persien vom kolonialen Erbe und machte den modernen Iran.» Daher weht der Wind, dachte sich die ensuite-Essayistin. Hier ihre literarische Antwort.
Die Geschichte der Menschheit kennt einige Konstanten. So auch die der Verführung der Jugend durch Massenmörder. Lenin, Stalin, Hitler, Franco, Salazar, Pol Pot, Mao, Idi Amin, Haile Selassie, Ajatollah Khomeini, Saddam Hussein, Kim Il-sung, Jassir Arafat – um nur um die bekanntesten zu nennen – begeisterten zunächst die intellektuelle Elite, dann die Massen und füllten anschliessend die Gefängnisse. Der Historiker Frank Bösch hat mit «Deals mit Diktaturen» ein neues Werk vorgelegt, in dem viele der Erwähnten im Zusammenhang mit dem Aussenhandel der BRD und der Berliner Republik zur Sprache kommen. Böschs gewaltiges Buch, das sich leider nicht so flüssig liest wie sein «1979», welches ich hier nochmals empfehle, kommt auf Samtpfoten daher. «Der Umgang mit undemokratischen Staaten ist eine schwierige Herausforderung.» «Herausforderung» ist als Begriff wie ein Hauch im kriegerischen Sturm internationaler Finanz- und Wirtschaftspolitik. Meine eigene These in «Trumpism. Ein Phänomen verändert die Welt» sieht im Versagen Barack Obamas darin, den Finanzkapitalismus von Diktaturen und automatisch repetierten Fiktionen zu lösen, den Startschuss für den dritten Weltkrieg, der mit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen hat. So viel zum Begriff «Herausforderung» bei Bösch. Ich sehe den «Handel mit Diktaturen» nicht einfach als Challenge, sondern als völlig versemmelte Hausaufgaben von Demokratien, mit Diktaturen nur dann Handel zu treiben, wenn der Handel an Bedingungen geknüpft ist. Transaktionssteuer bspw. als Must, damit alle im internationalen Finanzmarkt teilnehmen dürfen, oder etwa umgekehrte Beweislast bei Verletzungen von sozialen und ökologischen Standards. Importverbot für Waren aus Ländern, die Kinderarbeit haben. In den 1990er-Jahren schon verfasste die ILO – damals, als die Sozialdemokratie noch was Praktisches konnte – gute Leitfäden für den «Wandel durch Handel», der im 21. Jahrhundert zum «Handel macht diktatorischen Weltwandel» geworden ist.
Dennoch ist das Buch von Frank Bösch aufschlussreich. Es erzählt die erstaunlich schlecht erforschte deutsche Aussenhandelspolitik und bringt Entsetzliches ans Tageslicht. Bonn unterhielt gute Beziehungen mit Francos Spanien, Salazars Portugal, hoffierte Griechenlands Diktatur, die Diktatur Südkoreas ebenso, unterstützte Mobutu in Zaire (Kongo), Gaddafi in Libyen und war, wie wir wissen, bei der Vergabe der Fussball-WM 2022 nach Katar massgebend. So weit, so schlecht.
Doch auch Frankreich war im Diktatorenkuscheln weit vorne. Als der Geistliche Ajatollah Khomeini am 1. Februar 1979 mit einer Sondermaschine der Air France (Alkohol wurde strikte verboten) in Teheran landete, klatschte tout Paris. Über 150 Journalisten reisten im Flugzeug mit. Dies war der Dank dafür, dass alle internationalen Journis, gross geworden im schrecklichen Vietnamkrieg, seitdem ausgestattet mit einer grossen Amerikaenttäuschung bis zum Amerikahass, im schiitischen Kleriker die «originäre, persische Lösung» der Entkolonialisierung vom Westen sahen. Ajatollah Khomeini war für die Linken Europas und der USA DER Heilsbringer gegen den verhassten «imperialistischen Kapitalismus». Der 76-jährige Mann versprach ihnen 19 Grundsätze von Demokratie, Menschenrechten, Säkularismus, Volkssouveränität. In seinem «Mein Kampf», dessen islamische Version «Der islamische Staat» heisst, stand aber schon 1970: «Das Gesetz ist nichts anderes als der Befehl Gottes.» Khomeini dachte keine Sekunde daran, westliche demokratische Menschenrechte in seinem Gottesstaat zuzulassen. Die Geistlichen waren von Anfang Exekutoren. Zudem: Der unermessliche Reichtum Persiens machte die Geistlichen völlig unabhängig vom Volk. Die Mullahs brauchen kein Volk, das Erdöl und die damit verbundene Industrie, alle Finanzen, Land, Währung, einfach alles gehört ihnen. Selbst die Nationalsozialisten hatten weniger totalitäre Zugriffsmacht über alle Bereiche von Gesellschaft, Ökonomie, Staat, Kultur und Wissenschaft. Die Mullahs können so viele Menschen umbringen wie damals die Adeligen im feudalen Europa, und sie tun es viel häufiger als die damaligen Adeligen. «Zieht euch schwarz an. Denn ihr geht zu einer Beerdigung. Ihr trauert um eure letzten Grundrechte, eure letzte Freiheit»: So beginnt Golineh Atais «Iran – die Freiheit ist weiblich», ein Buch, das für den Grimme-Preis nominiert war. Das Schwert der islamischen Revolution trifft immer zuerst die Frauen – wohl deshalb schweigt die Linke vornehm. Denn Frauen gehören zu den Problemen zweiter Klasse. «Wir haben keine Revolution gemacht, nur um Rückschritte hinnehmen zu müssen», skandierten die Frauen an der riesigen Frauendemonstration im Juli 1980. «Millionen Frauen aller Schichten hatten sich im Namen der Befreiung an der Revolution beteiligt, aber niemals hatten sie damit gerechnet, dass ihre Männer nun plötzlich mehrere Frauen heiraten, sich bedingungslos scheiden lassen und sich der Ehefrau wie eines Möbelstückes entledigen konnten. Niemals hatten sie geahnt, dass die Geschlechter in der Gesellschaft fortan rigoros getrennt würden.»
Die Welt blieb stumm. So wie Frank Bösch auch nichts über die Proteste gegen die Geschlechter-Apartheid in den Diktaturen berichtet – sie spielt in der Beurteilung von Menschenrechten kaum eine Rolle, wie wir auch aktuell am Umgang mit den Taliban in Afghanistan sehen, die von Genfer Lobbyisten aus gesehen als ganz «normale Staatsmänner» endlich international anerkannt werden sollen. Der alte Sozialist António Guterres, diese Schande von Generalsekretär der UNO, meinte erst kürzlich, wie viele «Fortschritte Afghanistan» doch im «Wiederaufbau» des Landes geleistet habe. Ach ja: die Taliban. Unterstützt von Iran – wie alle islamistischen Weltrevolutionen. Nicht nur gehört den Mullahs ihr eigenes Land, es bleiben genügend Milliarden übrig, um den internationalen Terrorismus mit Tonnen von Bomben zu versorgen. Auch darüber liest und hört man bei uns wenig. Viel zu wenig.
Dabei wäre es so einfach. Die Mullahs, die gesamte iranische Führung, gehören auf die Liste der international gesuchten Verbrecher; Iran gehört massiv sanktioniert und isoliert. Das Vermögen der Mullahs muss sofort eingefroren werden.
Wer anderes behauptet, ist an Demokratie nicht interessiert. Wie die sog. «feministische Aussenministerin» Baerbock. In der Iran-Frage reiht sie sich ein bei den ersten ex-nationalsozialistischen Funktionären des damaligen Auswärtigen Amtes: Demokratie spielte damals keine Rolle, Hauptsache, das Land kam wirtschaftlich wieder auf die Beine. Apropos nicht interessiert. Die Soziologen verweigern übrigens den Begriff «Diktatur» mit dem Hinweis, dieser sei wertend. Hannah Arendt würde sich bei so viel dreister antidemokratischer Dummheit im Grab umdrehen.
Nach seiner Ankunft 1979 fuhr der Ajatollah zum Friedhof Behescht‑e Zahra. Symbolischer hätte die Wahl des islamistischen Todesengels wohl nicht sein können. 1979 füllten noch viele Schah-Gegner die Gräber; dies sollte sich durch die Tausenden von neuen Leichen, ermordet vom Khomeini-Gottesstaat, sehr bald ändern. Das Ziel der islamistischen Mullahs bleibt bis heute die Verwandlung der ganzen Welt in einen Friedhof. Deshalb finanzieren sie Hamas, Hisbollah, Huthis, Boko Haram und wie sie alle heissen. Fun Fact übrigens: In der Schweiz gilt nach wie vor das iranische Familienrecht, sprich die Scharia. Dies aufgrund eines Staatsvertrags zwischen der Schweiz und Persien aus dem Jahr 1934. Der Bundesrat spricht sich aktuell für eine Überprüfung aus, Ironie off.
Wir erfahren in Böschs «1979», dem Jahr als die Gegenwart begann, wie die Einrichtung des islamischen Gottesstaates in Persien als Blaupause für alle folgenden islamischen Weltrevolutionen gelten kann. Insofern war al-Qaida eigentlich nur ein falscher Fokus nach 9/11: In Wahrheit ging es damals und geht es heute um die Eroberung der Welt durch den «bewaffneten Widerstand» (Zitat Judith Butler) der islamischen Weltrevolution. Auch darüber wird kaum geredet und wenn, nur von durchgeknallten Rechtsextremen, die damit das Thema erst recht aus der öffentlichen Debatte drängen.
Das Mullah-Regime in Iran verbindet nach über 40 Jahren Agitation mittlerweile alle islamistischen Strömungen, von denen beim historisch viel gelobten «traditionellen Islam» nichts mehr übrig bleibt: Al-Qaida, Taliban, Islamischer Staat, Hamas, Hisbollah, Boko Haram, Huthis, die ägyptische Muslimbruderschaft u. a. verbinden die fundamentale Zurückweisung westlicher Werte mit kriegerischer Weltpolitik, codierten Fiktionen und Alliierten in allen westlichen Kulturen, Medien und Universitäten inklusive. Es geht nicht um einen «Kampf der Kulturen», sondern um die Verfügungsgewalt über Rohstoffe, Energie, internationale Finanzen und um geopolitische Machtordnung. Die iranische Revolution fand übrigens, ohne Witz, nach eigener Zeitrechnung nicht im Jahr 1979 statt, sondern im Jahr 1399/1400. Passt doch, nicht wahr?
Historisch würde ich die Revolution in Iran im Jahr 1979 deshalb mit der der Kommunisten 1917 gleichsetzen, inklusive der gleichen Herausforderungen für die demokratische Welt. Deshalb wäre das Versagen Barack Obamas genauer zu untersuchen, so wie ich es in «Trumpism. Ein Phänomen verändert die Welt» getan habe – für dessen Fortsetzung ich schon längst einen Verlag suche.
1917 ging es um die internationale kommunistische Welteroberung, die das gesamte 20. Jahrhundert mit einer Blut- und Mordspur formte. 1979 begann die Vergewaltigungs- und Mordorgie der Islamisten gegen alles, was uns Frauen und DemokratInnen heilig ist.
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«Dies ist vielleicht die erste grosse Erhebung gegen die weltumspannenden Systeme, die modernste und irrsinnigste Form der Revolte», meinte Michel Foucault bewundernd im Hinblick auf Khomeini. Judith Butler faszinierten die «Schöpfungskraft politischer Spiritualität» und, erst kürzlich, der gigantische und wichtige «bewaffnete Widerstand» der Hamas, deren Strategie der Brandschatzung, Vergewaltigung und Folter für sie persönlich zwar «quälend» sei, aber dennoch diskutiert werden müsse. Really? Sie folgt darin Wladimir Iljitsch Lenin: «Der Charakter eines Krieges wird dadurch bestimmt, welche Politik der Krieg fortsetzt, welche Klasse den Krieg führt und welche Ziele sie dabei verfolgt.» In der DDR gehörte «Frieden» zum meistgebrauchten Begriff. Totalitärer Wirklichkeits- und Wahrheitsverlust waren schon immer das Kennzeichen linker und rechter Revolutionen: Es geht um die Kreation von neuen Menschen, neuen sozialen Beziehungen, neuen Machtstrukturen: das Dogma über die Wirklichkeit. Judith Butler ist dabei besonders perfide. Sie nutzt ein demokratisches Verletzungs-Vokabular, um Vergewaltigung, Folter und Mord strategisch sinnvoll zu machen. Dies ist auch die Strategie zweier linker Frauen in der deutschen Ampel-Regierung: Lisa Paus und Nancy Faeser. Mit dem Vokabular des sog. «Selbstbestimmungsgesetzes» und des «Demokratiefördergesetzes» sollen Sprechakte demokratische Grundrechte ausser Kraft setzen. Auch davon hört man wenig und wenn, wiederum nur in verdammten rechtsextremen Kreisen, die damit die wichtige Kritik an der Übernahme von Ideologie gegen die Demokratie unschädlich machen. Entsetzlich.
Dies ist die logische Folge der «Deals mit Diktaturen» sowie der Übernahme von deren Fiktionen, Narrativen, Erzählungen. Wer Handel mit Diktaturen betreibt, deren Fiktionen mit der Freizügigkeit von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen automatisch verbindet, trägt die Demokratie letztlich zur Schlachtbank. Die im Netz milliardenfach repetierten Sprechakte, Ideologien, Narrative, Fiktionen haben unsere westlichen Informationssysteme so zugemüllt, dass Tumblr und 4Chan als links- und rechtsradikale Nischen-Hassmaschinen schon längst im Mainstream angekommen sind. Auch dazu hat Angela Nagle in «Kill All Normies» viel Kluges erzählt. Deshalb haben sog. DemokratInnen bspw. den Banksprech «Equity» in die Grundrechte eingeführt. «Equity» ist der angelsächsische Begriff für einen Eigenkapitalanteil an einer Gesellschaft, insbesondere für Aktien. Nun wird «Equality» im neuen woken (Opus) DEI (Diversity, Equity, Inclusion) mit «Equity» bezeichnet und behauptet Gleichstellung – völliger Bullshit. Merkt denn niemand, wie DEI die neue Götterreligion der codierten finanzkapitalistischen Antidemokratien ist? Deshalb spielen Inhalte keine Rolle mehr, nur noch Algorithmen und die ihnen zugehörigen Sprechakte. Deshalb gibt es bei der Linken keine individuellen Rechte, sondern nur noch kategorische Rechte, Gruppensprech wie «Hautfarben», «Generation», «gelesenes Geschlecht». Es gibt auch keinen historischen Fortschritt mehr – lesen Sie Yuval Noah Harari –, sondern nur noch gleichförmige, gleichgestellte Evolution, egal ob es Diktaturen oder Demokratien sind. Hier spricht die «Mindful-Bewegung», die sich selber einredet, alles sei gleich, es komme nur auf die Wahrnehmung drauf an. Die Dalit in Indien würden ihm widersprechen, wäre ihnen denn der Schulbesuch erlaubt.
Der Ölmagnat Mukesh Ambani (66) baute sich in Mumbai ein Hochhaus von 173 Metern Höhe und mit 27 Stockwerken für sechs (!) Familienmitglieder, inklusive 600 (!) Angestellter. Laut «20 Minuten» beträgt der Wert des Hauses namens Antilia über 2 Milliarden Dollar. Die nicht weisse Familie feiert nun die kommende Hochzeit eines Sohnes mit einer drei Tage dauernden Superparty: Boulevard und seriöse Medien berichteten. Ein Maharadscha war ein Dreck dagegen. Die Details der Fête (in «Gala» nachzulesen) erinnerten an die Prunksucht des Schahs von Persien im Jahr 1971. Der liess damals Millionen springen für die sog. 2500-Jahr-Feier «seiner» Monarchie. Die aus Europa eingeflogenen 50 000 Singvögel verdursteten nach drei Tagen, die über 25 000 importierten Flaschen Wein waren dafür konsumiert, ebenso die Tonne schwarzen Kaviars. Der Unterschied zu damals indessen ist: Der Grössenwahn des Schahs trug zu dessen Sturz bei. Im 21. Jahrhundert, dem neuen Diktaturen-Zeitalter codierter Feudalismen, passiert das Gegenteil.
2024 feiern Medien weltweit die gigantische Pre-Wedding-Party. Sie ist sehr divers, übrigens; Rihanna wird extra eingeflogen: Die globalen Luxuseliten von Mark Zuckerberg über Royals, Milliardäre und Superstars, die gerne das Leid der armen Kinder in Gaza betrauern, sind alle anwesend. Die «Wedding-Industry» in Indien ist der viertgrösste Wirtschaftszweig im Lande. In einem Staat, in dem die Unberührbaren über ein Viertel der Bevölkerung ausmachen und in Umständen leben, die selbst im europäischen Mittelalter als unvorstellbar gegolten hätten. Davon erzählen übrigens zwei Bücher, vom Feuilleton verschmäht, doch millionenfach von Frauen gekauft: «Der Zopf» und «Das Mädchen mit dem Drachen» von Laetitia Colombani. In der indischen Verfassung sind die Unberührbaren, die «Nicht-Kaste» im unmenschlich archaischen Kastensystem Indiens, theoretisch gleichgestellt. In Wirklichkeit bilden sie den Boden, den die Superreichen aller Welt mit Helikoptern und Drohnen überfliegen. Schon von Manisha gehört? Selbst der Deutschlandfunk berichtete 2020 über die Unberührbare, deren Schicksal Hunderttausende teilen, hier und jetzt, in Indien. Die 19-Jährige wurde von einer Gruppe von Kasten-Männern gefoltert, vergewaltigt, regelrecht zum Spass und zwecks Pornografie, die weltweit alle Frauen eh bildlich zerstört, hingerichtet. Manishas Zunge war zerschnitten, ihr Rückgrat war gebrochen, der Nacken war verdreht, sie konnte weder Hände noch Beine bewegen und kaum mehr atmen. Zwei Wochen kämpfte sie um ihr Überleben, bis sie der erlittenen Folter erlag. Sie flüsterte die Namen der Täter, die Polizei kam sofort nach ihrem Tod, verbrannte die Frau und schloss die Familie der Unberührbaren von der «Bestattung» aus und stellte die Nachforschungen ein. Auf Wikipedia wird die gesamte Geschichte bis heute verfälscht, es wird gelogen, betrogen, verheimlicht: alles unter den Augen einer Weltöffentlichkeit, die sich um diese 300 Millionen gefolterten Menschen kümmern könnte. Zu den Dalit gab es indessen noch keine Verlautbarung des UNO-Generalsekretärs, der jeden zweiten Tag das Gift seines Antisemitismus über die öffentlichen Kanäle der internationalen Organisation verbreitet. Für die urbanen, diversen und globalen Eliten, die sich zum Superevent vor der richtigen Hochzeit zusammenfanden, sind die Foltergeschichten der Tausenden von indischen Mädchen so weit weg wie die Hexenverbrennung im Mittelalter für uns. So viel zum codierten, sog. inklusiven, intersektionalen Feminismus, der im bunten postkolonialen Gewand in Medien, Kultur und an den Universitäten nichts anderes als Misogynie und sein Grauen verbreitet.
Nochmals zum Iran: Im Rückblick gab es nur eine Intellektuelle, die den wahren Charakter der islamistischen Weltrevolution durch den Iran erkannte: Oriana Fallaci. Die grosse Journalistin und Autorin wurde 1930 als Tochter eines Antifaschisten in Florenz geboren und starb geächtet, gecancelt, vereinsamt 2006 ebenfalls in Florenz. Sie führte ein kurzes Jahrhundertleben, war schon als Kind im Widerstand gegen Mussolini engagiert, gehörte ihr Leben lang zu den freisten Personen, die es gibt. Ihre zwei Romane «Brief an nie geborenes Kind» (1977) und «Ein Mann» (1980) sind poetische Zeugnisse ihres politischen Schaffens und gehören zur Weltliteratur. In «Ein Mann» erzählt Oriana Fallaci die wahre Geschichte ihrer Liebe zum griechischen Widerstandskämpfer und Dichter Alekos Panagoulis. Panagoulis scheiterte 1968 mit dem Attentat auf den damaligen Junta-Diktator, wurde jahrelang in griechischen Gefängnissen gefoltert, wurde gegen seinen Willen freigelassen, lernte die Journalistin Fallaci kennen und lieben. Ausser «Belle du Seigneur» habe ich selten eine derart mein Leben umwälzende Liebesgeschichte gelesen wie Fallacis. Die Mischung aus Politik, Grausamkeit, Psychologie, Erotik, Fanatismus gehört zu den intensivsten Weltliteratur-Erlebnissen. Ihre Poesie ergänzte die Journalistin mit knallharten Interviews. Ihre Gespräche mit Jassir Arafat, Muammar al-Gaddafi, Deng Xiaoping, Willy Brandt, Henry Kissinger u. a. sind legendär. Letzteren brachte sie dazu, den Vietnamkrieg als «useless» und sich selbst als «Cowboy» zu bezeichnen. Am 16. September 1979 interviewte sie im Tschador Ajatollah Khomeini. Das Gespräch fand ein Ende, als sie mittendrin den Tschador abnahm, diesen «blöden Fetzen aus dem Mittelalter». Fallaci entlarvte den westlichen nihilistischen Kapitalismus ebenso wie den islamistischen Todeskult. Ihre Streitschrift «Wut und Stolz» von 2001, in der sie mit dem Phlegma des Westens betreffend die islamische Weltrevolution abrechnet, wurde von der Linken sexistisch als «Hasstirade» einer alten Frau und als rechtsextremen Schrott diffamiert. Die «Union der Muslime Italiens» rief nach diesem Buch offiziell zur Gewalt gegen Fallaci auf. Sie starb, kurz bevor sie verurteilt wurde – ihr Erbe liegt nun leider in den Händen der italienischen Rechten und Rechtsextremen. Der Oriana-Fallaci-Preis ist der grossen Antifaschistin so unwürdig, dass es schmerzt, ihn überhaupt zu erwähnen.
Es gäbe noch weitere Geschichten der Welt in Büchern, doch ich bin erschöpft. Die codierten Banalitäten in den sozialen Medien, die ständig den «bewaffneten Widerstand» wiederholen, selbst von Freundinnen wie Mithu Sanyal geteilt, haben die Kraft, die Schreibende zu zerstören. Eine Schreibende, die als Mädchen in der Unterschicht geboren, sich wahrhaft ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand in Europa erarbeiten konnte. Eine Freiheit, die sie allen Mädchen und Frauen weltweit wünscht, dafür weiterkämpft und nicht aufhören wird, die Verräterinnen demokratischer Grundrechte in ihrer Selbstzerstörung und ihrem falschen Krieg aufzuhalten. Wie habe ich an einer anderen Stelle mal geschrieben? Jede Demokratie misst sich am Zustand der Mädchen und der Frauen.
Bücher zum vorliegenden Essay:
· Frank Bösch: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. C.H.-Beck-Verlag.
· Frank Bösch: Deals mit Diktaturen. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. C.H.-Beck-Verlag.
· Eine Iran-Apologie ist vom Zentrum für politische Bildung bei «Aus Politik und Zeitgeschichte» 2020 erschienen (leider, das AuPZ ist ansonsten immer exzellent). Kostenlos über bpd.de runterzuladen.
· Golineh Atai: Iran – Die Freiheit ist weiblich. Rowohlt-Verlag.
· Angela Nagle: Kill All Normies. Online Culture Wars from 4Chan and Tumblr to Trump and the Alt-Right.
· Yuval Noah Harari: Sapiens – Das Spiel der Welten. C.H.-Beck-Verlag.
· Laetitia Colombani: Der Zopf. S. Fischer Verlage.
· Laetitia Colombani: Das Mädchen mit dem Drachen. S. Fischer Verlage.
· Oriana Fallaci: Ein Mann. Kiwi-Verlag.
· Oriana Fallaci: Brief an nie geborenes Kind. Ebersbach und Simon. Das Interview Fallacis mit Khomeini 1979 ist im Netz in der «N.Y. Times» abgedruckt.
· Zum Versagen der Linken in Zeiten algorithmischer Reproduktion siehe Regula Stämpfli: Europa zwischen Banksprech und Sehnsuchtsort. Darf man als europäische Intellektuelle Europa kritisieren? Gratis auf denknetz.ch