Von Lukas Vogelsang — Aus dem Blätterwald des Medienherbsts ist ein fröhliches Singen zu hören. Zwar sind die Verkaufszahlen der Werbung nicht besser als zuvor – einfach anders -, aber es gibt so viel Neues, Frisches, Abgestaubtes und Abgegucktes zu bestaunen. Und alle Zeitungen machen gleichzeitig einen Tanz! Es herrscht Aufwind in den Medien – man könnte einen Drachen fliegen lassen.
Dabei war ich masslos erstaunt, als ich am 18. September auf dem Blog von Artur K. Vogel (Chefredaktor des «Bund») las: «Diese Woche hat die Schulung der ‹Bund›-Redaktion begonnen. Doch wichtige Applikationen des neuen Programms sind noch nicht bereit. Es wird mit Hochdruck daran gearbeitet; Überstunden häufen sich an. Ob alle Woodwing-Werkzeuge (Woodwing ist das neue Redaktionssystem, welches die Tamedia verwendet / Anmerk. Redaktion) am kommenden Montag eingesetzt werden können, wenn die nächsten Kolleginnen und Kollegen geschult werden, steht noch nicht mit Sicherheit fest.» Oder noch besser, ein paar Zeilen weiter unten: «Es gibt neben allem Stress auch gute Nachrichten: Gestern haben wir einen grossen Teil der von Barbara Birchler und Anita Pascarella erarbeiteten Musterseiten für den ‹Bund› verabschiedet. Wie die Front- und Auftaktseiten, das Samstagsinterview, Themen‑, Wirtschaft‑, Bern- und Sportseiten, ‹Panorama›- und Meinungsseiten künftig aussehen werden, ist jetzt klar; der ‹Kleine Bund› ist ebenfalls am Entstehen.» Da hat die Tamedia seit einem Jahr angekündigt, dass ein neues Layout kommt, der «Bund» hat seit Januar damit geworben, dass jetzt ein neues Layout kommt – doch knapp 28 Tage vor dem Neustart ist davon wenig vorhanden. Das neue Flagschiff, «Der kleine Bund», ist noch unterentwickelt und schwirrt immer noch als Phantom in den Redaktionsräumen. Mir kam auch schräg vor, als der neue Leiter der neuen Bundeshausredaktion sich noch vor dem Start des «Bund» vom prestigeträchtigen Job trennte.
Es klingt basisdemokratisch, was die TamedianerInnen zur Zeit kreieren. Mir fehlt ein sichtbares Konzept, welches entwickelt wurde und dem man in der Umsetzung nun folgt. Da kritisieren die JournalistInnen aus diesem Hause zu Hauf die schleppenden PolitikerInnen, die zum Beispiel im Fall Gaddafi unglaublich konzept- und visionslos sein sollen – doch wenn man genau hinsieht, täuscht die Medienbranche mit diesen lächerlichen Zwischentönen über die eigenen Chaos-Zustände hinweg.
Und es ist schlimm, was jetzt als Resultat dieser «jahrelangen Forschung und Erfahrung» auf dem Tisch liegt. Am 15. Oktober hatte ich gemeint, ich hätte drei Zeitungen gekauft – doch so recht will mir das nicht einleuchten: «NZZ», «Tagi» und «Der Bund» sind sich zu ähnlich – doch das wirklich Einzige, was sie gemeinsam aufweisen, ist, dass sie vor dem Relaunch wesentlich besser und vertrauenswürdiger ausgesehen haben. Die «NZZ» kämpft heute mit den Titelschriften, der «Tagi» – oder eben die Tamedia – mit Abständen von Strichen, Farbe und mit der Leseführung und «Der Bund» – mal abgesehen von den Tamedia-Grundfehlern – hat sein Flagschiff «Der kleine Bund» so verunstaltet, geschüttelt und gerührt, dass einem visuell fast schlecht wird. Bei allen Zeitungen gilt: «What you see is what you get!», was heute leider soviel heisst wie: «Sorry, wir haben keine Idee und keinen Sinn – du musst selber ran.» Unweigerlich denkt man an des Kaisers neue Kleider und an füdliblutte ZeitungsmacherInnen… Da ist wenigstens der «Blick» konsequent und hat das Seite-3-Girl wieder aus dem Dämmerschlaf und auf die Frontpage geholt – übrigens gerade rechtzeitig zusammen mit dem Sexualaufklärungshype der PolitikerInnen…
Nachdem ich mir all die neuen Layouts und Zeitungsrevivals zu Gemüte geführt hatte, kam, was nach der Überdosis Selbstlobhudelei der Medienbranche kommen musste: Der Schredder. Also der Journalistenschredder, wohlverstanden. Das ist der blogdessennamenmansichnichtmerkenkann.wordpress.com – und das ist alles andere als ein Witz. Hier wird ironisch ein wundersamer Ausgleich zur Medienwelt geschaffen. Hier wird neutralisiert, was zuvor mit grossen Worten proletet wurde. Ich kann die Lektüre dieses Blogs anstelle all dieser belanglosen Herbstblätter wärmstens empfehlen.
Cartoon: www.fauser.ch
ensuite, November 2009