Von Barbara Neugel — Hinterhöfe. Mitunter bieten sie ein trauriges Bild. Sie sind Abstellplätze für Müllcontainer, Autos, Fahrräder, fahrtüchtige und andere, Gartengeräte; und sie laden ein, Abfall achtlos hinzuwerfen. Es gibt Asphaltwüsten in Hinterhöfen, aber auch ungenutzte Grünflächen mit Bäumen und Sträuchern. Auch Überraschungen sind möglich. Hinter langen, grauen Hausfassaden liegen oftmals kleine Idyllen und fristen ihr unbeachtetes Dasein. Manchmal werden sie von Kindern zum Spielen benutzt, vielleicht sitzt auch ab und zu jemand unter einem Baum und liest, oder es steigt an einem schönen Sommer-Samstagabend ein Gartenfest. Für gewöhnlich jedoch sind Hinterhöfe kaum ein interessantes Thema.
Früher waren die Hinterhöfe Werkhöfe. Da wurde gearbeitet, angepflanzt, Wäsche aufgehängt, da wurden Teppiche geklopft. In den 50er-Jahren entstanden in den Hinterhöfen mehr und mehr Parkplätze für Autos. Ein wichtiger Arbeits‑, Begegnungs- und Lebensraum ging damit verloren. Niemand hielt sich länger im Hof auf als nötig. Wenn man bedenkt, dass Innen- und Hinterhöfe in einer Stadt einen Anteil von 25 bis 30 Prozent des gesamten Stadtraums einnehmen, so wird ersichtlich, wie viel Raum mehr oder weniger ungenutzt bleibt. Und das bedeutet für die Bevölkerung einen Verlust von Lebensqualität. Ganz abgesehen von den Immissionen, die von Autos verursacht werden – Abgase, Motorenlärm, Geräusche vom Türenschlagen. Das kann bis zu Nachtruhestörung führen. Ausserdem sind die doch meist düsteren Hinterhöfe nicht nur abweisend und trostlos, sondern oft auch unheimlich. Sie wirken dadurch gefährlich und werden mitunter für Geschäfte genutzt, die das Licht scheuen. Sie werden zu Unorten. Eigentlich schade drum.
Aus allen diesen und weiteren Überlegungen und der Tatsache, dass eine MieterInnen-Umfrage in Zürich ergeben hat, dass die Qualität der Nachbarschaftsbeziehungen wesentlich von der Nutzungsart der Höfe beeinflusst ist, ist das Projekt HOFgesang entstanden. In diesem Projekt geht es darum, die Bedeutung der Innen- und Hinterhöfe aufzuwerten, sie zu Erholungs- und Begegnungsräumen zu machen und damit die Wohn- und Lebensqualität in der Siedlung, im Quartier, in der Stadt allgemein zu verbessern. Sobald sich die HausbewohnerInnen mit dem Thema Hinterhof auseinanderzusetzen beginnen, wird Kommunikation nötig. Es entsteht eine Gemeinschaft, man lernt sich kennen, bezieht sich gegenseitig mit ein. Bei der Arbeit an dieser gemeinsamen Sache bildet sich eine Identifikation mit dem Wohnort, und es ist nicht mehr egal, was im Hof geschieht. Das Projekt HOFgesang will AnwohnerInnen und eine interessierte Öffentlichkeit dazu bringen, den aktuellen Zustand der Höfe und ihr Potenzial als Lebensraum wahrzunehmen und nachbarschaftliche Beziehungen herzustellen und zu pflegen. Als geeignetes Mittel dazu dient der Chorgesang. Chöre und Schulklassen besingen nacheinander einen einladenden, schönen und anschliessend einen benachbarten unwirtlichen Hof, den die Singenden in Begleitung des Publikums besuchen. Dieses Vorgehen macht den Kontrast direkt hör‑, sicht- und spürbar. Die Vortragsdauer sollte zwischen 15 und 30 Minuten liegen. Die Höfe werden in Absprache mit den Eigentümern und der Mieterschaft gewählt, die ausgewählten Stücke aus dem jeweiligen Repertoire sollten sich für eine Aufführung im Freien eignen. Ein Flier zur Ankündigung des HOFgesangs in der ausgewählten Siedlung macht den Auftritt perfekt.
Mit dem HOFgesang will das Projekt auch die Vielfältigkeit des Chorschaffens einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen und den direkten Kontakt von Bevölkerung und SängerInnen ermöglichen. Ein weiterer Aspekt ist auch die Sensibilisierung der Jugend für Gesang und Musik allgemein.
Angefangen hat HOFgesang in Zürich mit dem 1. Zürcher HOFgesang 2006. Der 2. Zürcher HOFgesang fand 2008 statt und der 3. HOFgesang ist in Zürich für den Frühsommer 2010 geplant. Pünktlich zum Europäischen Nachbarschaftstag am 26. Mai 2009 startet der 1. Berner HOFgesang. Gesungen wird bis am 10. Juni 2009. Ein Programm besteht bereits, Interessierte – Chöre und Schulklassen – können sich aber bis zum letzten Moment anmelden. Alle dazu nötigen Informationen finden InteressentInnen im Internet (Adresse siehe unten).
Andreas Diethelm, eine der Kontaktpersonen des Projekts HOFgesang, erzählt mit Begeisterung von der tollen Sache des HOFgesangs. Alle Chöre, die bisher mitgemacht hätten, seien begeistert und wollten immer wieder mitmachen. Die Städte brauchten allerdings lange für die Begeisterung, stellt er fest. Es sei auch nicht einfach, das Anliegen differenziert herüberzubringen. Anliegen des Projekts sei es, den Leuten die Hinterhöfe zur Pflege zu empfehlen, und dies nicht mit zu starkem didaktischem Drall, sondern im Sinne eines Impulses, sich der Höfe anzunehmen und damit verlorenen Lebensraum in Wohnungsnähe zurückzugewinnen. Alle sollen es so machen, wie es ihnen Spass mache, Hauptsache sei, meint Diethelm, dass sie es machten. Wichtig sei es auch, nicht nur die MieterInnen mit einzubeziehen, sondern auch die Hauseigentümer und die Verwaltungen. Das bedinge, dass man zusammensitze und bespreche, was man machen wolle. Diethelm hält fest, dass es auch ein Projekt sei zur Förderung des Gesangs, sei es zur Gewinnung neuer SängerInnen, sei es zur Überraschung von Leuten, die nicht in Konzerte gingen. Das Projekt hat also nicht nur einen städtebautechnischen Aspekt, sondern auch einen soziokulturellen: Gemäss Andreas Diethelm geht es um Integration, Kennenlernen der Nachbarn – und damit vielleicht auch anderer Kulturen.
Und übrigens: In Zürich haben 3 500 SängerInnen mitgemacht und mehr als 100 Hinterhöfe besungen. Der HOFgesang ist eine umweltfreundliche Angelegenheit: Es gibt keinen zusätzlichen Verkehr, keinen Abfall, keinen Rambazamba, keine Lärmimmissionen. Gesungen wird a cappella. Und Gesang verklingt.
Foto: zVg. / Bild: Hohlstr. 110, Zürich, Chor der HMT Winterthur
ensuite, Mai 2009