Von Luca D’Alessandro — In Italien hat es sich eine junge Musikergeneration zur Aufgabe gemacht, an innovativen Ausdrucksformen zu tüfteln. So auch Andrea Manzoni, ein junger Pianist, der die Grenzen zwischen Jazz, Rock und Pop aufhebt und mit seinem aktuellen Album «Destination Under Construction» dafür sorgt, dass Jazzmusik nicht nur eine eingefleischte Gilde anspricht. Am 15. Februar 2014 tastiert Manzoni mit Bassist Luca Curcio und Schlagzeuger Andrea Beccaro im Blauen Saal im Zürcher Volkshaus.
Andrea Manzoni, Sie haben Ihr neues Album «Destination Under Construction» getauft. Das klingt nach Baustelle…
Das ist richtig. Ich bin ständig auf der Suche nach neuen Klangrichtungen. Die Arbeit im Trio mit Luca Curcio und Andrea Beccaro bietet mir die Chance, die Grenzen des Zusammenspiels zwischen Klavier, Bass und Schlagzeug auszuloten. Der Albumtitel versinnbildlicht meine aktuelle Stimmung, mein Leben und den Prozess, den ich durchlaufe. Ich fühle mich so, als würde ich auf einer Dauerbaustelle arbeiten.
Vor etwa eineinhalb Jahren haben Sie mit «Quantum Discord» ein Album veröffentlicht, das der Jazztradition verpflichtet ist. Mit «Destination Under Construction» vollziehen Sie eine Wende. Wieso?
Diese Wende habe ich nicht bewusst eingeleitet. Sie ist während der Arbeit am Klavier entstanden: von sich aus, sozusagen.
Sie meinen, die aktuelle CD sei eher zufällig entstanden?
Mehr oder weniger. Ein Klassikkomponist erarbeitet seine Musikwerke meistens am Schreibtisch, meine entstehen während der praktischen Arbeit; also dann, wenn ich an meinem Instrument sitze und neue Variationen ausprobiere. Diese Arbeitsmethode entspricht eindeutig der Jazztradition. Sie erlaubt mir einen flexiblen Zugang zur Musik und bietet mir die Chance, Erfahrungen aus dem Alltag, die Eindrücke und Stimmungen gezielter einzubeziehen. Es ist dies eine emotionsgesteuerte Kompositionstechnik, welche mich in Bewegung hält und nicht auf Altbewährtem erstarren lässt. Ich betrete gerne neue Wiesen – am liebsten ausserhalb des Jazz.
Es scheint fast, als hätten Sie dem reinen Jazz abgeschworen.
Gewiss hat meine Ausbildung im Klassikbereich ein grösseres Gewicht auf meine Kompositionsmethode als die Jazzausbildung. Sie haben soeben den Begriff der «Reinheit» verwendet: Meines Erachtens ist diese in den Pianosoli des US-amerikanischen Jazzpianisten Cecil Taylor oder in der «Verklärten Nacht» des österreichischen Komponisten Arnold Schönberg zu finden. Ich persönlich stelle mir meine Musik so vor: Verschiedene Wellen bewegen sich in eine Richtung. Gelegentlich überlagern sie sich und schaffen die Basis für Minifiguren, die mal mit Beat/Rock, mal mit Rock’n’Roll vergleichbar sind, oder an einer anderen Stelle mit einem Klavier- oder Orchesterkonzert à la Rachmaninow oder dem Pop der 1980er Jahre.
Ihr Sound ist leidenschaftlich kräftig und solide. Man hat den Eindruck, Sie müssten sich austoben. Genau so, wie es der britische Pianist Neil Cowley vor zwei Jahren mit seinem Album «The Face Of Mount Molehill» getan hat.
Eine interessante Beobachtung … mehr weiss ich dazu allerdings nicht zu sagen, da ich Neil Cowley nicht kenne. Ich werde mich aber gerne über ihn informieren. Es ist immer reizvoll zu sehen, was andere machen. Was die Kraft und Solidität betrifft: Beides steht im Zusammenhang mit meinem Zugang zum Klavier. Beim Spielen geht es mir nicht um Machtausübung in Form von physischer Kraft. Es geht vielmehr um das Herausstreichen eines brillanten Sounds, der dank seiner Klarheit und Intensität die Menschen direkt anspricht. Ein Beispiel ist unser Drummer: Ich bin überzeugt, dass er mit seiner rockigen Art beim Publikum gut ankommen wird.
Ist dieses Zusammenspiel zwischen Jazzpiano und Rockdrum die wichtigste Innovation auf Ihrer CD?
Die CD lebt nicht von ausgefallenen Innovationen, vielmehr von zeitgemässen Kompositionen, die sowohl Vergangenes als auch Zukünftiges berücksichtigen. Die CD ist alles andere als eine Momentaufnahme. Vielmehr gewährt sie einen Überblick darüber, was bisher gewesen ist und wahrscheinlich noch sein wird.
Haben Sie ein Idol, welches Sie inspiriert?
Durchaus! Es sind dies The Bad Plus, Vijay Iyer, Svenson und Thelonious Monk.
Welches Stück spiegelt Ihren aktuellen Gefühlszustand am ehesten?
Gewiss ist es der Titeltrack «Destination Under Construction». Ein vollständig durchkomponiertes Stück ohne Impro. Kraftvoll und dynamisch – genau so, wie ich es von meinem Leben wünschen würde. Oder genau so, wie sich mein Leben momentan entwickelt.
Werfen wir einen Blick auf die anderen Titel…
… oh ja, «Always Stay Alive» möchte ich hier unbedingt erwähnen, weil es etwas von einem Kinofilm-Intro hat. Obwohl es fürs Piano geschrieben wurde, hat es einen aussergewöhnlich-orchestralen Charakter. Und das Beste ist, es spricht mit dir: «Hey du, wach auf, was immer auch sein oder geschehen möge, es gibt immer einen Ausweg. Schau genau hin, denn er ist in dir drin.» Als musikalischen Gegenpol habe ich «Schicksal in Arbeit» gesetzt.
Ein deutscher Titel?
Genau, eine Widmung an die italienische Progressive-Rock und Jazz-Fusion Band «Area» aus den Siebzigern, deren Diskographie auch ein paar deutsche Titel enthält. «Schicksal in Arbeit» ist ein in drei Teile gegliedertes Prog-Stück, dessen Einstieg und Schluss besonders einfahren.
«Destination Under Construction» wird vom Label Meat Beat vertrieben, welches im alpinen Aosta seine Niederlassung hat.
Die Wahl ist sozusagen zufälligerweise auf Meat Beat gefallen. Geschäftsführer Raffaele Neda D’Anello hat sich bei mir gemeldet und sein Interesse an meiner Arbeit bekundet. Wir haben uns prächtig verstanden. Mir war sofort klar, dass ich «Destination Under Construction» diesem Label anvertrauen wollte. Neda ist ein offener Mensch und musikalisch äusserst flexibel. Einen solchen Produzenten habe ich dringend gebraucht.
Vor etwas mehr als einem Jahr standen Sie noch beim Tessiner Label Altrisuoni unter Vertrag.
Das ist richtig. Mit Neda hat es sich nun aber anders ergeben. «Quantum Discord» war mein Debütalbum und Altrisuoni war bereit, diese Produktion zu publizieren. Dafür bin ich dem Label sehr dankbar, insbesondere dem Manager Dimitri Loringett, der mich in den vergangenen Jahren aktiv unterstützt hat und es heute noch tut. Allerdings nicht mehr in der Rolle als Labelmanager von Altrisuoni.
Und schliesslich ist noch Rete Due im Spiel…
Rete Due hat sich entschlossen, für «Destination Under Construction» die Co-Produktion zu übernehmen. Das hat mich sehr gefreut: Schliesslich bekommt man nicht alle Tage die Gelegenheit, die Aufnahmen im berüchtigten Studio Due in Lugano zu machen. Ein Juwel betreffend Aufnahmetechnik und Infrastruktur. Die Aufnahmen haben eineinhalb Tage gedauert. Ich bin heute noch begeistert.
Sie sind ein Kommunikator und sowohl in der Fach- als auch in der norditalienischen Tagespresse einigermassen präsent. Worin unterscheidet sich Ihr medialer Dialog mit jenem Dialog, den Sie mit Ihrem Publikum führen?
Die Kommunikation mit den Medien erfolgt über das gesprochene oder geschriebene Wort. Die Kommunikation mit dem Publikum findet für gewöhnlich über das Instrument statt und hat dadurch etwas Einseitiges. Ausserdem findet sie auf der Gefühlsebene statt. Die Botschaft wird von Hörerin zu Hörer unterschiedlich interpretiert, wobei die subjektive Wahrnehmung des Empfängers eine wichtige Rolle spielt. Die einen brauchen ein Konzert der Berliner Philharmoniker, um sich wohl zu fühlen, während die anderen Trance und Techno begehren. Die Geschmäcker sind dermassen unterschiedlich, dass eine Botschaft, welche über die Musik verbreitet wird, sich erst beim Empfänger entfalten kann. Der Musiker als Kommunikator ist da zweitrangig.
Umso wichtiger scheint folglich die Kommunikation über die Medien und die sozialen Netzwerke zu sein. In diesem Bereich sind Sie besonders aktiv.
Ich habe keine andere Wahl: Die Präsenz in den elektronischen Medien ist für den Aufbau der eigenen Karriere genau so wichtig, wie das Klavierspielen. Wenn du dich als Musiker nicht mit 2.0 befasst, bist du inexistent. Dass überhaupt Leute an deine Konzerte kommen hat damit zu tun, dass sie dich und deine Musik über die sozialen Netzwerke verfolgen und sich freuen, wenn in ihrer Stadt demnächst eines deiner Konzerte stattfindet. Diese Menschen wollen bei dir sein, mit dir die Entwicklung neuer Ideen miterleben. Sie wollen teilhaben, weil sie dich für deine Arbeit bewundern. Diese bidirektionale Kommunikationsbeziehung ist nicht zu unterschätzen.
Ausserdem bietet sie die Möglichkeit, die Erwartungen des Publikums abzuhören.
Nein, das nicht. Wenn ein Musiker nicht auf die eigene Stimme hört, verliert er seine Seriosität und Glaubwürdigkeit. Ausserdem darf er sich nicht leiten lassen von dem, was gerade hip ist. Einen Musikmarkt gibt es inzwischen nicht mehr. Wir befinden uns in einem regellosen Zustand. In diesem Kontext ist es enorm schwierig, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Unter diesen Voraussetzungen hilft es nur, sich selbst treu zu bleiben.
Als Musiker ist es in der Tat schwierig, überhaupt ein Auskommen zu haben. Haben Sie einen Tipp für angehende Profis?
Ja, sie sollen an ihre Projekte glauben, an ihnen dran bleiben und feilen. Alles investieren und sich nicht ablenken lassen. Sich flexibel zeigen und neuen Situationen stets mit Offenheit begegnen. Sich vernetzen und aktiv die Zusammenarbeit mit anderen Musikern und Veranstaltern suchen. Das sind aus meiner Sicht die Erfolgsfaktoren. Nur so ist eine Karriere, die einen zufriedenstellen soll, überhaupt möglich. Wenn es aber darum geht, viel Geld zu verdienen, müsste man Michael Jackson um Rat bitten.
Das Interview wurde in italienischer Sprache geführt.
Konzert und CD Präsentation von Andrea Manzoni findet am 15. Februar 2014, 20.30 Uhr, im Volkshaus Zürich / Blauer Saal, statt.
Info: www.manzoniandrea.com
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2014