Von Belinda Meier — Am Bahnhofstreffpunkt treffen Menschen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Einzig das Warten verbindet sie. Dieser gemeinsam geteilte Zustand erzeugt das Bedürfnis nach Kontakt. Was passiert aber, wenn sich diese Menschen plötzlich in einem Dialog wieder finden? BeST, das Berner Student/-innen Theater hat es erprobt. Seine Antwort ist radikal.
«Ich bin ein Wort – holt mich hier raus» – so heisst die neuste Produktion von BeST, die vom 1. bis 13. April im Berner Tojo Theater aufgeführt wurde. Unter der Regie von Claudia Bossard und Bea Schild geht das Stück dem menschlichen Werkzeug Sprache auf den Grund.
Menschen am Bahnhofstreffpunkt Die Bühne ist übersät mit kniehohen SBB-blauen Kuben, in deren Mitte der Kubus mit dem SBB-Treffpunkt-Symbol steht. Er ist mit einem weissen Kreis und 4 Pfeilen bedruckt, die von den Ecken diagonal zum Kreis zeigen. An der Wand hängt prominent die tickende Bahnhofsuhr. Sie zeigt 20.30 Uhr an, die tatsächliche Uhrzeit und damit Zeitpunkt des Stückbeginns. Auf dem Kubus mit dem Treffpunkt-Symbol sitzt eine junge Frau. Sie äussert ihre Gedanken über den Tod, später über ihre Andersartigkeit und fragt sich, ob die Eltern schuld seien, wenn man anders ist, oder ob man selber die Schuld dafür trage. Unterdessen hat sich der Treffpunkt mit zahlreichen weiteren Personen gefüllt, die es der Frau gleichtun und ihre Gedanken, Meinungen und Wünsche äussern. Die eine schwärmt von Istanbul und Peking, der andere beklagt sich über den Fluglärm, die dritte macht sich Gedanken zur Hochzeit, der vierte ist ein Börsianer, wohnt auf dem Land, arbeitet in der Stadt und nimmt den Zug nur, weil die Parkplatzsuche zu mühsam ist. Wieder einer, ein Greenpeace-Mitarbeiter, kritisiert diesen für dessen Überheblichkeit und endet mit dem Satz «Immer mehr Autos, Staus, Tunnels, mehr Abgase», den er in einer Endlosschlaufe wiederholt, dabei lauter und rhythmischer wird, bis alle Wartenden im Chor mehrmals mitsprechen. Dann ist es wieder still.
Das Wort beherrscht (uns) Es folgen nacheinander, miteinander, gleichzeitig oder überlappend Gedankenfetzen, Mini-Dialoge, kurze und längere Statements, die an sich nicht viel miteinander gemein haben, aber als Konglomerat aktueller Stimmungen verstanden werden können. Aussagen wie «Schlechte Erinnerungen geben die besseren Geschichten ab», «Glück hat keine Identität, keine Grenzen – Glück ist grenzenlos» oder «Es gibt kein Mein, es gibt kein Ich», gehören dabei eher zur ernsteren Sorte. Sie haben Gehalt und neigen zur Poesie. Andere hingegen, wie beispielsweise «Das Richtige tun heisst Rücksicht nehmen aufeinander und endlich auf der Rolltreppe rechts stehen», «Blumenwiesen hüpfen ist gefährlich, vor allem für die Blumen» oder «Robert ist Pekinese, das heisst, er ist kurz vor dem Erstickungstod» beweisen Humor und zaubern so manchem Zuschauer ein Schmunzeln ins Gesicht. Die Rhythmik und verschiedenen Tempi der Sprüche bringen ebenso wie die zahlreichen Interaktionswechsel zusätzliche Dynamik und Spannung ins Stück. Hinzu kommt, dass neben dem gesprochenen Wort auch das geschriebene eine tragende Rolle spielt. Denn viele der im Raum stehenden Kuben sind mit Buchstaben beschriftet. Diese werden von den Akteuren umhergetragen, verschoben, aufeinander getürmt und nebeneinander gestellt, bis schliesslich Wörter wie «du», «Fisch», «Rosamunde», «Wunde», «Wunder», «Hot Dog», «Juli», «God», «Goethe», «Promi», «Quoi?», «Comment?», «Fun», «Freiheit», «Smog» und «Sucht» entstehen. Durch sie erhalten die gesprochenen Aussagen, die sich langsam aber sicher zu einer Wortlawine entwickeln, eine neue Dimension. Sie geben dem gesprochenen Wort die nötige Intensität oder eröffnen einen neuen Blickwinkel.
Das Wort formt die Realität Die Personen, die als Fremde am Bahnhofstreffpunkt zueinander gestossen sind, um auf etwas oder jemanden zu warten, sind und bleiben anonym, modellhaft und austauschbar. Nicht die Menschen, sondern einzig das Wort lässt die Realität entstehen. So entwickeln sich die anfänglich noch zusammenhangslosen Monologe zu Dialogformen, zu Strukturen des Miteinanders. Ein Kosmos aktueller Gedanken‑, Themen- und Interessenwelten bildet sich, der als real und konkret empfunden werden kann. Die Menschen hinter den Geschichten bleiben hingegen abstrakt. Sie dienen nur als Sprachrohr für diese Welten, die uns allen so bekannt sind. Welten, die eben nicht nur von Einzelnen, sondern von einem Kollektiv empfunden, gedacht und erlebt werden. Was bleibt, ist das menschliche Wort, das sozusagen als einzig konstanter «Protagonist» in Aktion tritt und damit mehr denn je seine alle Zeit überdauernde Präsenz und Mächtigkeit deutlich macht. Der Titel «Ich bin ein Wort – holt mich hier raus» treibt die Eigenschaft des Wortes, aktiv zu werden und Welten wie Realitäten zu formen, schliesslich auf die Spitze. Der neutrale Ort des Bahnhoftreffpunkts scheint daher ein idealer Ort für die Darstellung dieser fast unberechenbaren Macht des Wortes zu sein.
Foto: Gabriel Kloter
ensuite, Mai 2011