Von Jarom Radzik — Ein Interview über Kunst, ihren Nutzen, ihre Entwicklung, ihre Schöpfer und über einen Galeristen, der Kunst braucht wie andere Sauerstoff. Ein Gespräch mit Raphael Rigassi, Berner Galerist.
Herr Rigassi, noch immer stehen wir im Zeitalter der Krise. Was meinen Sie dazu?
Krise? Wohl eher Ausnüchterung vom Konsum. Das gleiche gilt für die Kunst. Sie hat sich auf den Kommerz eingelassen und zeigt nun die gleichen Symptome. Besonders auffällig ist die Orientierungslosigkeit. Heute wird mal dies gemacht, morgen mal jenes. Und immer die Haltung: Es muss gefallen, es muss sich verkaufen lassen.
Ich kenne diverse junge Künstler, die innerhalb kürzester Zeit von 5’000 Dollar pro Werk auf zwei Millionen regelrecht hochgeschraubt worden sind. Benebelt von ihrem Erfolg haben sie sich mit teuren Autos, Villen und anderem eingedeckt. Aber allzu oft will schon bald niemand mehr etwas von diesen Künstlern wissen. Von allen verlassen, verstehen sie die Welt nicht mehr. Was man mit diesem System dem Menschen antut, interessiert niemanden mehr. Da hat es gut, wer trotz Erfolg die Bodenhaftung behalten hat. Der hat nämlich wenigstens keinen Schuldenberg, den er noch alleine abtragen muss. Aber diese Gattung Künstler ist eben ein Ausdruck der Konsumkunst. Vergänglich wie die Grundlage, auf der sie ihren Erfolg gebaut haben.
Irgendwann musste die Blase platzen. Dem trauere ich nicht nach. Was ich vermisse, ist so etwas wie langfristige Voraussicht. Und wie es für die Wirtschaft nötig wäre, muss deshalb auch für Kunst ein tragfähiges Wertesystem her.
Und wie spiegelt sich Ihre Haltung in Ihrem Angebot wieder?
Gut, nehmen wir die beiden Künstler, die gleich eine Ausstellung bei mir haben werden: Beatrix Sitter-Liver und Christian Bolt. Die Werke Bolts basieren auf der Wahrnehmung des Körpers. Die Werke tragen nach aussen, was vom Innenleben wahrgenommen wird. Der Betrachter sieht also das Innere, nicht das Äussere. Letztlich ist es aber seine eigene Entwicklung, die mit der Entwicklung der Körper zusammenhängt, die er Tag für Tag erschafft. Unschwer zu erkennen, dass sich der Künstler lange und intensiv mit Thema und Ausdrucksweise auseinandersetzt. Bolt gründet seine Werke ja passenderweise auf dem Bezugspunkt der Klassik. Beatrix Sitter-Liver mag älter sein im Vergleich zu Christian Bolt, sie sucht aber noch mehr nach sich selbst. Dementsprechend ist ihre Arbeit wechselseitiger und ihre Haltung sich selbst gegenüber kritischer. Sie verarbeitet, was in der Natur in Erscheinung tritt. Spartanisch knapp und nüchtern und doch unendlich tiefsinnig ist die Bildsprache, die sie sich im Laufe der Zeit angeeignet hat.
Schön. Aber bereits in ihren Motiven weichen die beiden stark vom dem ab, was in der Gegenwartskunst Trend ist. Statt sich am Herrschenden zu orientieren, folgen sie ihrem eigenen Bedürfnis. Der Mainstream sucht Spass. Er macht sich keine Gedanken, schon gar keine tiefsinnigen. Kauf und sei glücklich! Alles fürs Geld: Sex, Mord und Totschlag. Darin spiegelt sich meine Haltung: Während der Mainstream das Gewissen und die Gefühle abzulenken und zu betäuben sucht, wähle ich Künstler, die den Menschen in den Herausforderungen seines Lebens bereichern.
Warum haben Sie denn ein Problem mit der Gegenwartskunst?
Heute werden Künstler wie Uhren am Fliessband produziert. Eine falsche Vorstellung von etwas, was man weder lernen noch von aussen dazu machen kann. So nennen sich nun viele Künstler, die nicht einmal ein Grundverständnis für Kunst aufzubringen vermögen. Zudem verliert Kunst an Tiefe, weil viele Kunstschaffende die Geschichte weder kennen noch begreifen. Wird Geschichte ausgeblendet, kann aber Gegenwart nicht verstanden werden. Viele haben das Vertrauen in die Gegenwartskunst verloren, weil Kommerzkunst ihnen auch keine Sicherheit bieten kann. Wie sollte sie auch? Sie vertritt ja gerade die Vergänglichkeit und den kurzlebigen Konsum.
Die Gegenwartskunst ist ihrer Meinung nach also kommerzialisiert. Und warum setzen ausgerechnet Sie trotzdem auf Gegenwartskunst?
Wir sind Produkt unserer eigenen Geschichte. Wir werden geboren und wachsen mit jenen Künstlern gross, die in unserer Zeit leben. Diese Geschichte ist ein gemeinsamer Bezugspunkt. Daher macht es auch Sinn, Gegenwartskunst zu erwerben. Dann basiert Kunst immer auf Geschichte. Ohne diese Vergangenheit gäbe es keine Gegenwart und ohne diese Gegenwart keine Zukunft. Die Gegenwart gehört also auch dazu, ihr muss man sich stellen, damit man eine Zukunft schaffen kann. Ich bin kein Kunsthistoriker. Ich kenne die Vergangenheit zu wenig. Und die Zukunft kann ich nicht vorweg nehmen, darum lebe ich in der Gegenwart. Schliesslich lohnt es sich, Gegenwartskunst zu erwerben. Denn sie eröffnet den Menschen einen gegenwärtigen Dialog und schafft damit einen Bezugspunkt, an dem man seine eigene Entwicklung anknüpfen kann.
Sie sagen, Kunst helfe bei der eigenen Entwicklung. Inwiefern hilft Ihnen denn der Umgang mit Kunst?
Kunst und der Umgang mit ihr, das ist keine einfache Sache. Ich bin schon viele Male auf die Nase gefallen. Ich erinnere mich an eine Begebenheit aus meinen Anfängen als Galerist. Damals wollte ich unbedingt eine private Louis Sutter-Sammlung erwerben. Der Besitzer streubte sich lange genug dagegen. Aber als ich meine Galerie eröffnet hatte, war er sehr beeindruckt und akzeptierte mein Angebot, obwohl es 1992/93 hier in der Schweiz erste Bankenpleiten gab. Er hielt mich wirklich für einen grossen Idealisten: Glücklicherweise habe ich bei einer Bank eine grössere Summe Geld aufgenommen. Enthusiastisch, wie ich war, sagte ich dem Sachbearbeiter noch: «Ich würde Ihnen das Geld am liebsten in sechs Monaten wieder zurückzahlen.» Nach der Ausstellung, dachte ich. Kein einziges Werk habe ich an dieser Ausstellung verkaufen können. Um liquide zu bleiben, musste ich sogar einige Werke auf Auktionen versteigern lassen. Ein paar Jahre später kehrte sich die Situation dann. Alle wollten Werke von Sutter erwerben. Aber ich habe abgelehnt. Zu sehr waren mir seine Werke ans Herz gewachsen, nun verkaufe ich sie aus Prinzip nicht mehr. So ist es mit der Kunst. Ich brauche sie wie Sauerstoff zum Atmen. Ohne sie könnte ich nicht leben. Es ist die Kunst, die mir in meinen grössten Niederlagen wieder auf die Beine geholfen hat. Es ist die Kunst, die mich motiviert, weiter zu gehen. Kunst bereichert mein Leben und gibt mir viel Kraft. Mit ihr bleibe ich in Bewegung, entwickle mich weiter. Deshalb kann ich Kunst nicht mit Zweckpessimismus und Konsumhaltung vereinen. Und ich verstehe niemanden, der, abgesehen von existentiellen Nöten, das Argument aufbringen kann, Kunst könne man zurzeit nicht kaufen, weil die Zeiten schlecht sind. Gerade jetzt macht Kunst besonders viel Sinn.
Vom Sinn und Unsinn der Gegenwartskunst sind wir zum Nutzen der Kunst vorgestossen. Nun frage ich Sie: Aber muss denn Kunst überhaupt einen Nutzen haben?
Kunst muss einen Nutzen haben, sonst braucht es keine Kunst. Die Frage ist: Welchen Nutzen bringt Kunst ihrem Betrachter? Meinen Sie, eine Frau ist glücklich, nur weil sie jeden Tag drei Handtaschen von Versace und zehn Kleider von Gucci kaufen kann? Nein, denn Konsum ist nur eine Kompensationshandlung. Konsum kann nicht das befriedigen, was Menschen wirklich brauchen. Ich sehe in Kunst eine echte Chance. Denn Kunst ist ein Mittel, das dem Menschen bei seiner Suche hilft. Warum ich das glaube? Weil Kunst eines der wenigen Dinge ist, die ein Mensch tatsächlich sein Leben lang um sich haben kann. Ich kann hundert Mal und mehr Mozart hören, ohne dass ich mich langweilen würde. Kunst ist unvergänglich. Sie erfreut, egal wie oft man ihr begegnet.
Die Kunstwerke beider Künstler lösen einen Dialog mit dem Betrachter aus. Wer den Mut und die Zeit findet, regelmässig mit Kunst in einen Dialog zu treten, versteht sich nicht nur selbst besser, sondern auch sein Gegenüber. Ich glaube sogar, dass Menschen, die sich mit Kunst auseinandersetzen, überlegter und sorgfältiger dem Leben begegnen. Das ist wie ein Dominoeffekt. Irgendwo beginnt es und überträgt seinen Impuls auf viele andere.
Fragt mich ein Kunde, ob er ein bestimmtes Werk kaufen soll, dann frage ich ihn: Spürst du das Werk. Spricht es zu dir. Ja? Dann nimm es. Geniesse es. Spielt doch keine Rolle, welchen Wert es auf dem Markt hat. Allein was zählt, ist der Wert für dich selbst. Und stimmt dann auch noch der Marktwert – schön!
Und wie geht es mit der Kunst weiter?
Die Kunst wird sich in neue Dimensionen entwickeln. Wenn die Identitätskrise dieser pluralistischen, multikulturellen und globalisierten Gesellschaft überwunden ist, wird eine Kunst entstehen, die stark genug ist, die eigene Kultur zu spiegeln und gleichzeitig das Fremde einzubeziehen. Multikünstler werden auftreten, welche diesem Anspruch gerecht werden. Ich sage immer, mit 35’000 bis 45’000 Jährchen Geschichte steht die Menschheit noch ganz am Anfang ihrer Entwicklung. Kunst wird in der Gesellschaft immer ihren Platz haben, auch wenn sich ihre Ausdrucksweise verändert.
Eine letzte Frage, damit die Leser sehen, dass Sie Ihre Erkenntnisse auch selbst ernst nehmen: Was tragen denn nun Sitter-Liver und Bolt zu dieser Entwicklung bei?
Die Zeit zeigt, ob ein Künstler Bestand hat oder nicht. Viele kommen, viele gehen. Und von den meisten hört man nie etwas oder nie wieder. Warum sollte man auch? Meist machen jene ja sowieso einfach nach, was andere machen oder bereits gemacht haben. Der Betrachter will aber spüren, wer hinter dem Werk steht. Noch bevor ich mich deshalb frage, ob ein Werk gut oder schlecht ist, muss es mir eigenständig erscheinen. Und ich stelle nur aus, womit ich persönlich etwas anfangen kann. Ein Werk, mit dem ich nicht in Dialog treten kann, ist bei mir fehl am Platz.
Christian Bolt und Beatrix Sitter-Liver genügen diesen Ansprüchen. Mit ihrer Arbeit tragen sie zur Gegenwartskunst bei. Sie arbeiten für und aus sich selbst, das aber immer im Erleben des grossen Ganzen von dem sie Teil sind: Natur. Aber ob das Ergebnis ihrer Arbeit als Teil der Gegenwartskunst die Welt verändern wird, weiss ich nicht.
Herr Rigassi, ich bedanke mich für das Gespräch.
Foto: Lukas Vogelsang
ensuite, April 2010