Von Antonio Suárez Varela — Pedro Lenz ist einer der schweizweit bekanntesten Mundartdichter. Zurzeit arbeitet er an einem Romanprojekt mit dem Arbeitstitel «Inland». 2008 erhielt er den Kulturpreis der Stadt Bern. Im Interview mit ensuite — kulturmagazin spricht der Berner über die Sprache, die Schweizer Literaturszene, literarische Vorbilder, seine Arbeitsweise und seinen ungewöhnlichen Werdegang.
ensuite — kulturmagazin: Das Jahr 2008 war für dich sehr erfolgreich. Du bist mit dem Kulturpreis der Stadt Bern ausgezeichnet worden und hast als einziger Schweizer Autor in Klagenfurt am Wettlesen des Ingeborg-Bachmann-Preises teilgenommen. Was waren für dich die Highlights 2008?
Pedro Lenz: Für mich war der Literaturpreis der Stadt Bern schon wichtiger als die Nomination in Österreich, weil mir ein Preis nicht für einen Roman, sondern für die vielen Texte verliehen worden ist, die ich geschrieben habe. Mein Highlight war das Kurzstück, das ich für das Stadttheater geschrieben habe, ein Monolog für eine Frau, die von Heidi Maria Glössner verkörpert wurde. Das Stadttheater hat ein Autorenprojekt realisiert, für das es dreizehn Autorinnen und Autoren requiriert hat, um ein kurzes Stück von zwanzig bis dreissig Minuten zu schreiben. Ich habe einen Monolog auf Mundart geschrieben. Zuerst hiess es, dies ginge nicht auf Mundart, denn die Texte waren für das Berliner Heft «Theater der Zeit» bestimmt. Ich aber habe darauf bestanden, denn dieses Stück musste auf Mundart sein. Das haben sie schliesslich akzeptiert und auch so abgedruckt.
Und welche Erinnerungen verknüpfst du mit der Einladung an den Ingeborg-Bachmann-Literaturpreis?
Zuerst war ich überrascht, dass ich überhaupt eingeladen wurde. Sieben Jurymitglieder laden je zwei Autoren ein. Ich wurde von einem Jurymitglied aus der Schweiz eingeladen. Ich wusste von Autorenkollegen, dass diese Veranstaltung in ein Abschlachten ausarten kann. Ich hatte wegen des Fernsehformats zuerst Bedenken. Ich wusste nicht, ob ich mir das antun wollte. Doch ich dachte mir, dass ich jetzt alt genug bin, um damit umgehen zu können. Ich habe ein Textfragment aus einem Roman eingegeben [Titel: «Inland». A.d.R.], den ich in Klagenfurt las. Der kam aber bei der Jury nicht gut an. Vom Publikum und von Autorenkollegen erhielt ich positive Rückmeldungen, so dass ich trotzdem glücklich nach Hause gehen konnte. Um den Preis konnte ich leider nicht mehr mitkämpfen.
Ist diese Veranstaltung ein Club elitärer Literaturkritiker, die Literatur aus der Provinz nicht zu schätzen wissen?
Ich schrieb einen sehr mündlichen Text und hatte das Gefühl, dass die Jury nicht bereit war, sich damit ernsthaft auseinander zu setzen. Ich möchte ihr keinen Vorwurf machen. Vermutlich passte der Text einfach nicht in diesen Kontext. Doch es ist die Art von Literatur, die ich mache. Ich konnte mich nicht verbiegen und einen Text extra für Klagenfurt schreiben. Es handelte sich um einen Monolog einer Figur, die psychisch krank ist. Ausgehend von diesem Text, hätte man sich mit der Mündlichkeit in der Literatur auseinandersetzen müssen, eines meiner Hauptthemen. Es geht um die Frage, wie man mündliche Sprache in Literatur umsetzen kann, damit es so wirkt, als ob sie noch mündlich wäre. Dies wurde in Klagenfurt nicht goutiert.
Der Text stammt aus dem Eröffnungskapitel deines noch unveröffentlichten Romans «Inland».
Es handelt sich um eine Figur, die aus ihrer Jugend in der Provinz erzählt. Während sie das tut, macht sie immer wieder Rückblenden. Ich befasse mich mit der Idee, wie die Erinnerung funktioniert. Ihr fallen immer wieder Erinnerungen ein, die sich wie im Kreis immer wieder überschneiden und am Schluss ein Ganzes bilden. Es wird quasi ein ganzes Leben in kleinen Episoden erzählt. Erst im Verlauf der Lektüre erfährt man über den eigentlichen Antrieb dieses Erzählens.
Weshalb bevorzugst du für deine gesprochenen Texte so oft die Monologform?
Der Monolog ist eine sehr dankbare Form für Einzellesungen, denn er erlaubt mir, aus der Sicht der jeweiligen Figur zu sprechen. Dies bedingt natürlich, dass man sich in diese Figur hineinversetzt, doch es wirkt dann sehr unmittelbar in der Mündlichkeit, denn die erzählende Instanz fällt weg.
Du sprichst in deinen Texten vom Alltäglichen, von ganz normalen Leuten, die ganz normalen Berufen nachgehen. Trotzdem möchtest du nicht als Arbeiterliterat bezeichnet werden. Warum?
Ich möchte es so ausdrücken: Das, was ich mache, ist hochartifiziell. Es ist keine Arbeiterliteratur im klassischen Sinn, wie beispielsweise der soziale Realismus. Die Idee ist die, dass es wirken soll, als ob es sich um einen transkribierten Text handle. Es gibt Leute, die sagen: «Genau so spricht mein Grossvater». Doch der Prozess, um dorthin zu gelangen, also auf eine hochkünstliche Art Authentizität herzustellen, ist ein sehr künstlicher. Ich montiere die Sprache regelrecht, rhythmisiere sie. Daraus entsteht so etwas wie eine falsche Natürlichkeit.
Wie gehst du vor, wenn du Rhythmus in den gesprochenen Text bringen willst?
Zuallererst gehe ich davon aus, dass jede Sprache einen Rhythmus besitzt. Ich war 2005 sechs Monate in Schottland. Zuerst verstand ich das schottische Englisch nicht, obwohl ich Englisch verstehe. Dann merkte ich, dass es stets eine Frage des Rhythmus ist. Die Schotten haben zwar eine andere Betonung, doch das Hauptproblem bestand darin, dass sie über eine eigene Rhythmik und Sprachmelodie verfügen. Ich suche die Sprachmelodie in meiner Mundart. Dabei verfahre ich intuitiv. Doch beim Schreiben lese ich jeweils laut vor, um herauszufinden, ob ich die Sprachmelodie hinkriege. Daraus ergibt sich das Tempo meist von selbst, denn ich eliminiere alles, worüber ich beim Lesen stolpere. Ich forme den Text auch mit den Zeilenumbrüchen so, dass ich immer gleich vier bis fünf Sätze aufsagen kann, bevor ich wieder Luft holen muss.
Du bist ein künstlerischer Allrounder. Du bist Kolumnist, Slam-Poet, Romancier und Mundartdichter. Wie bringst du all diese Tätigkeiten unter einen Hut? Hast du bei über 300 Auftritten im Jahr noch Zeit für die Musse?
Im Moment kaum. Doch während Autorenkollegen den Vormittag oder Abend damit verbringen, ein Bohèmeleben zu führen, bin ich meist am Arbeiten. So kommt bei mir automatisch mehr heraus am Ende des Tages. Wenn ich täglich drei Seiten schreibe, was nicht sehr viel ist, dann habe ich Ende Jahr tausend Seiten. Das heisst, dass ich sehr oft am Arbeiten bin. Das Herumreisen zu den Lesungen gehört für mich zur Freizeit. Die freien Abende, an denen man nichts macht, vermisse ich gar nicht. Ich hatte davon schon genug in meinem Leben. Das ständige Schreiben ist für mich zum Lebensinhalt geworden.
Führst du also kein Bohèmeleben?
Nein, eigentlich nicht. Ich geniesse es natürlich schon intensiv, wenn ich an einem Ort auftrete. Denn obschon die Lesung vielleicht bloss eine halbe Stunde dauert, so verbringe ich letztlich trotzdem vier bis fünf Stunden unterwegs mit anderen Künstlern. Ich bin ja auch in einer Autorengruppe. Mein Bohèmeleben findet meist im Zug oder auf der Heimfahrt von einer Lesung statt. Es ist nicht so, dass ich um elf Uhr Vormittags aufstehe und dann langsam in den Tag hineinschlittere. Normalerweise sitze ich recht diszipliniert am Morgen um acht oder halb neun an meinem Bürotisch und schreibe.
Ist es aber nicht so, dass man Zeit und Musse
für die Inspiration braucht?
Darauf wurde ich oft angesprochen. Viele Leute glauben, die Inspiration käme vom Nichtstun. Bei mir kommt die Inspiration oft während des Schreibens und bei der Auseinandersetzung mit dem Text. Bei einer Kolumne habe ich einen Abgabetermin. Daher wäre es schlecht, wenn ich wegen eines Schreibstaus ein leeres Blatt abgeben müsste.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mit mir etwas geschieht, sobald ich anfange zu schreiben. Manchmal muss ich zuerst mit etwas anderem beginnen und mich nicht zu sehr auf die Kolumne fixieren. Sobald ich anfange zu schreiben, löst das bei mir einen Prozess aus, der mich zu Inspirationen führt.
Du machst sehr viele Dinge parallel. Wenn du auswählen müsstest, welche deiner Tätigkeiten findest du als Literat am spannendsten?
Ich kann das so nicht beantworten. Alles gehört für mich sehr eng zusammen. Die Kolumne ist eine Schreibform, die ich seit Jahren pflege, denn es war eine der ersten Möglichkeiten, mit Literatur Geld zu verdienen. Und ich spreche nicht von den Blabla-Kolumnen irgendwelcher Prominenten, von denen es heutzutage immer mehr gibt. Ich begreife die Kolumne als literarischen Artikel. Das war für mich sozusagen eine erste Liebe. Mich interessieren ausserdem die Bühnenliteratur, das Theater, das Hörspiel und Radiogeschichten. Ich glaube sehr fest an die Mündlichkeit in der Literatur. Gerade in einer Zeit, in der immer weniger gelesen wird, ist es wichtig, die Leute mit mehr Oralität zu erreichen. Ich habe gemerkt, dass ich mit Mündlichkeit an Leute herankomme, die mit Literatur nichts am Hut haben. Ich finde es interessant, Literatur zu machen, die sowohl dem literarisch Interessierten einen neuen Zugang eröffnet als auch dem literarisch Unerfahrenen. Es gibt viel Literatur, zu der der Zugang erschwert ist. Ich möchte einerseits die Zugangsschwelle möglichst tief halten, andererseits auch Finessen ausarbeiten, die der Kenner schätzen kann.
Wie gehst du vor, wenn du einen gesprochenen Text fürs Publikum schreibst?
Zuerst versuche ich herauszufinden, wie die Leute im Alltag oder in der Beiz sprechen. Dabei stelle ich fest, dass die Leute oft in Schlaufen sprechen, besonders ältere Menschen. Meist erzählen sie von sehr vielen verschiedenen Dingen, bevor sie auf den Punkt kommen. Diese Art des Sprechens versuche ich nachzubilden. Ein Beispiel: Ich sah einmal einen Hauswart, wie er ein Kind massregelte. Und während er dies tat, fing er plötzlich damit an, von seinen persönlichen Problemen zu sprechen. Ich merkte sofort, dass dies eine gute Ausgangssituation ist. Ich schrieb dann einen Text von einem Mann, der kleinen Kindern Märchen erzählen sollte. Während des Erzählens aber schweift er von der Prinzessin ab zu einem Rundumschlag gegen den heutigen Prominentenadel. Plötzlich erinnert er sich an seine Freundin, die ihn verlassen hat und wie weh ihm das tut. Und das alles erzählt er den Kindern. Die Figur verlässt also die eingeschlagene Erzählebene und fängt plötzlich an, über persönliche Dinge zu erzählen. Und das verleiht der tragischen Geschichte eine gewisse
Komik. Für mich stehen Humor und Tragik immer sehr nahe beieinander. Ich mache nie Humor um der Pointe willen, sondern weil er ein gutes Schmiermittel ist, um Tragisches zu erzählen.
Sprechen wir von deinen literarischen Vorbildern. Vermutlich liege ich nicht falsch, wenn die in Spanien zu finden sind…
Ich habe lange Spanisch studiert, das Studium aber nie abgeschlossen. Für mich war die spanische oder lateinamerikanische Literatur wie eine andere Welt. Ich habe dort auf verschiedenen Ebenen Vorbilder gefunden. Sei es zum Beispiel Josep Plà, ein Chronist der Provinz, der alltägliche kleine Reisen und Fusswanderungen in Literatur umwandelt, sei es ein Francisco Umbral, der ein meisterhafter Zeitungsschriftsteller war, von dem ich viel übers Kolumnenschreiben gelernt habe, aber auch ältere Autoren wie César González Ruano, der ein bedeutender Kolumnist in den 1930er- und 1940er-Jahren war. Und im Bereich der Romanliteratur war vor allem Juan Marsé wichtig. Auch in der deutschsprachigen Literatur hatte ich meine Vorbilder: Peter Bichsel zum Beispiel ermöglichte mir als noch ungebildeter Maurer den Zugang zur Literatur. Dann habe ich mich quer durch die literarische Landschaft gelesen. Bei den spanischen Autoren ist es so, dass ich die nächtelang lesen kann, um mich dann am nächsten Tag an den Schreibtisch zu setzen, ohne gleich deren Stil zu kopieren, weil ich ja auf Deutsch schreibe. Das hat sich bewährt.
Deine Sprachentwicklung war eher ungewöhnlich. Du hast bis ins Kindesalter im Elternhaus Spanisch gesprochen, bevor du den Berner Dialekt aufgenommen hast. Wie verlief dieser Prozess bei dir genau?
Meine Mutter ist Spanierin und mein Vater sprach sehr gut Spanisch. Deshalb sprachen wir zu Hause immer Spanisch. Die deutsche Mundart habe ich erworben, als ich von zu Hause auszog. Während den ersten vier Jahren sprach ich nur Spanisch, und als ich dann anfing, draussen zu spielen, kam immer mehr das Deutsche dazu. Als ich in die Schule kam, konnte ich bereits Deutsch. Ab sieben oder acht Jahren fing ich an, Deutsch mit den Geschwistern zu sprechen. Doch mit meiner Mutter sprach ich weiterhin Spanisch. Mit der Zeit aber wurde das Deutsche immer wichtiger. Ich erinnere mich, als unser Vater uns ganze Abende lang Wilhelm Busch vorlas, damit wir das Hochdeutsche lernten, bevor wir in die Schule kamen. Ich brauchte das Spanische dann nur noch, um mit meiner Mutter zu kommunizieren. Mit sechzehn Jahren fing ich eine Lehre an und arbeitete sieben Jahre lang auf dem Bau. Erst dann rückte das Spanische wieder in den Vordergrund, denn damals arbeiteten noch recht viele Spanier auf Baustellen. Später natürlich dann auch wieder während des Studiums. Meine jetzige Muttersprache, das Schweizerdeutsche, ist eigentlich eine Zweitsprache. Deshalb habe ich wahrscheinlich auch einen anderen Blick darauf. Ich kann mich noch sehr gut an meine Kindheit in Langenthal erinnern, als es noch wenige Ausländer gab. Ich schämte mich manchmal für meine Mutter, wenn sie in der Metzgerei siebenmal sagen musste, was sie wollte, bis der Metzger sie verstand. Das Gefühl des Fremdseins hat mir einen sehr wachen Blick auf die Sprache gegeben. Ich habe dadurch vermutlich auch etwas überkompensiert, indem ich zeigen wollte, dass ich ein noch besserer Berner sein konnte, um im Kanton Bern akzeptiert zu werden.
Und wie verlief die Entwicklung beim Verfassen von Texten?
Beim Schreiben war es anders. Ich wollte eigentlich nie auf Mundart schreiben. Ich empfand sie nie als Literatursprache. Ich bin von Guy Krneta und Beat Sterchi quasi dazu verleitet worden. Ich habe erst im Nachhinein gemerkt, welche Freiheiten sie einem gibt. Ich hatte von der Mundartliteratur lange Zeit ein falsches Bild. Ich verband sie nämlich mit dem Heimattümlichen oder der unsäglichen Erinnerungsliteratur mit ihrer Aussage, dass früher immer alles besser war. Damit wollte ich nichts zu tun haben. In Schottland aber habe ich gemerkt, dass Mundart auch etwas Avantgardistisches sein kann und nicht unbedingt etwas Bewahrendes sein muss.
Hast du das Gefühl, dass die Dialektliteratur in der Schweiz stiefmütterlich behandelt wird?
Ich glaube, dass ein Wandel im Gang ist. Ich habe Dialektologieseminare an der Uni belegt und mich intensiv mit Mundart befasst. Ich bin ein Verfechter der unreinen Sprache. Ich bin ein Antibewahrer, weil ich davon überzeugt bin, dass die Sprache ein lebendiger Organismus ist, der sich wandelt. Wenn man die Sprache museal bewahren will, dann stirbt sie. Ich begegne in meinen Kreisen oft sogenannten Sprachhygienikern und Sprachpolizisten. Das lässt mich kalt. Es bringt mich zum Lachen. Für mich ist Mundart der Sprachstand der Praxis. Wenn die jungen Leute von heute «Sorry» statt «Excüse» sagen, dann ist «Sorry» ein Mundartwort, so wie einst «Excüse» eins geworden ist. Ich nehme das auf, was umgangssprachlich gilt und arbeite damit. Das ist für mich etwas sehr Freies. Eine grosse Freiheit ist es, etwas zu gebrauchen, ohne es gleich zu bewerten. Ich halte nichts davon, im alten Berndeutschwörterbuch von Von Greyerz einen schönen alten Ausdruck zu suchen, um einen Text blumiger zu machen.
Wie war das, als du damit angefangen hast, auf Mundart zu schreiben? Es gibt ja keine akzeptierte Orthographie. War das ein Problem?
Eine offiziell anerkannte Orthographie gibt es zwar nicht, doch es gibt einige Päpste, die eine bestimmte Schreibweise vorschlagen. Genau aus diesem Grund habe ich zu Beginn auch nicht mundartlich publiziert. Mittlerweile bin ich in dieser Hinsicht lockerer geworden. Ich habe für mich eine Schreibweise gefunden, die in sich aufgeht. Ausserdem habe ich einen guten Lektor. Es gibt tausend Theorien zu Mundartschreibweisen, doch ich bin da ziemlich pragmatisch.
Ich möchte wieder auf deine schweizerisch-spanischen Wurzeln zurückkommen. Die Identität ist ja immer ein Konstrukt. Wie hast du dir deine Identität aufgebaut? Als was siehst du dich?
Einerseits sehe ich mich schon als Weltbürger, doch meine Freunde sagen mir, dass es kaum einen schweizerischeren Schweizer gäbe als ich. Ich habe meine Identität durch Überkompensation aufgebaut.
Wie meinst du das?
Das heisst zum Beispiel, noch pünktlicher zu sein als ein Schweizer, noch besser rasiert zu erscheinen… Ich habe die Schweizer Klischees verinnerlicht. Ich komme zufällig aus Langenthal, und ohne Patriot sein zu wollen, prägt einen das. Diese Prägung möchte ich weder abwaschen noch verleugnen. Ich glaube, dass man sich nur dort verwurzeln kann, wo man herkommt. Ausgehend von dieser Erkenntnis kann man offen durch die Welt gehen. Häufig sagt man mir nach, dass ich ein Provinzautor sei. Das mag stimmen. Doch alle Autoren, die ich schätze, sind oder waren erst einmal lokale Autoren. Die guten Autoren der Weltliteratur, meinetwegen William Faulkner oder auch Juan Marsé, schreiben meist nur über eine bestimmte Region. Für mich ist Weltliteratur nicht, wenn ein Autor seine Figuren durch die Welt reisen lässt.
Du hast sieben Jahre lang als Maurer auf Baustellen gearbeitet. Dein Werdegang zum Literaten war ziemlich ungewöhnlich. Wann kam bei dir eigentlich der Drang zum Schreiben auf?
Es war in der Tat ein Impetus. Ich zog mit neunzehn Jahren als junger Maurer nach Zürich. Ich wohnte alleine und kannte niemanden. Nach neun Stunden Arbeit auf dem Bau kehrte ich nach Hause zurück, kochte etwas für mich und setzte mich an eine alte Schreibmaschine, die ich von meinem Vater bekommen hatte. Ich muss dazu sagen, dass ich aus einem bildungsbürgerlichen Elternhaus stamme, wie man landläufig zu sagen pflegt. Zu Hause wurde gelesen. Ich stamme also nicht aus einem Arbeitermilieu und war auch nicht der erste in der Familie, der mit dem Lesen anfing. Die Arbeit als Maurer war wie eine Flucht in eine eigene Welt. Es war ein gesuchter Entscheid. In Zürich verspürte ich den Drang zum Schreiben, merkte aber auch bald, dass meine Möglichkeiten begrenzt waren. Das hat mich später dazu bewogen, die Matura nachzuholen. Ich hatte das Gefühl, dass mir Grundwissen fehlte.
Seit mehreren Jahren schon bist du ein schweizweit bekannter Autor. Du bist durch zahllose Kleintheater getingelt. Die Leute erkennen dich auf der Strasse. Wie gehst du mit deiner Bekanntheit um?
Die Leute sind sehr diskret. Es passiert sehr selten, dass mich jemand auf der Strasse anspricht und dann wegläuft. Dies ist ziemlich unangenehm. Wenn mir jemand am Zürcher Bahnhof hinterherläuft und meinen Namen ruft und ich mich dann umdrehe, meine ich im ersten Moment, dass es jemand sein muss, der mich kennt. Ich sage dann, ja, ich bin Pedro Lenz und erwarte dann ein Gespräch. Dann sagen sie mir: «Aha, ich hab’s mir gedacht!» Und dann gehen sie weiter. Das ist immer noch eigenartig für mich, denn für meine Freunde und die Leute aus meinem Umfeld bin ich hoffentlich immer noch derselbe geblieben. Was sich auch geändert hat, ist, dass ich nicht mehr alles selber machen kann, was oft schwer verständlich ist. Wenn ein Freund mich fragt, ob ich an seiner Hochzeit lese, sage ich ihm, dass er sich an meine Agentin wenden soll, weil ich meine Agenda nicht mehr selber führe. Das wirkt auf die Leute manchmal etwas arrogant, doch es ist nicht anders machbar.
Jetzt wo du ein bekannter Autor bist und den «Kuchen» quasi von innen kennst, wie nimmst du den Literaturbetrieb in der Schweiz allgemein wahr?
Im Unterschied zu den 1970er- oder 1980er-Jahren gibt es heute keine Übergötter mehr. Es gibt in der Schweiz zwar nach wie vor grosse bekannte Schriftsteller, doch sie schüchtern die jungen Autoren nicht mehr ein. Es ist ein sehr lebendiger Betrieb. Ich tausche mich sowohl mit jungen als auch mit älteren Autoren aus. Was mich anfangs überraschte, ist, dass die Kollegialität unter den Autoren sehr gross ist, und nicht wie ich ursprünglich befürchtet hatte, ein Haufen von Egoisten, die sich untereinander konkurrenzieren. Zurzeit empfinde ich die Schweizer Literaturszene als sehr spannend. Es gibt die paar grossen Namen, die alle kennen, doch dahinter gibt es ein breites Mittelfeld.
Drei Abschlussfragen: Welche Projekte verfolgst du zurzeit, welche werden dich in der unmittelbaren Zukunft noch beschäftigen und was würde dich noch reizen, was du bisher noch nicht gemacht hast?
Zurzeit arbeite ich an meinem Roman «Inland». Daneben schreibe ich weiterhin meine Kolumnen und Mundartmonologe für die Lesungen. Dieses Jahr möchte ich auch ein neues Projekt gemeinsam mit meinem Pianisten vom Duo «Hohe Stirnen» [Patrik Neuhaus. A.d.R.] realisieren. Mittelfristig würde es mich reizen, ein abendfüllendes Theaterstück zu schreiben. Theater ist eine sehr dankbare Disziplin. Ich habe zwar schon für diverse Projekte geschrieben, aber noch nicht das definitive Theaterstück, das für den Druck bestimmt sein könnte.
Pedro Lenz wurde 1965 in Langenthal geboren. 1981 fing er mit der Maurerlehre an und arbeitete anschliessend während sieben Jahren auf dem Bau. 1995 schloss er die Matura ab. Später studierte er mehrere Semester lang Hispanistik und Germanistik an der Universität Bern. Pedro Lenz schreibt regelmässig Kolumnen für die «WOZ», den «Bund» und das «Langenthaler Tagblatt». Gemeinsam mit Patrik Neuhaus bildet er das Duo «Hohe Stirnen» und ist Teil der Spoken-Word-Gruppe «Bern ist überall». Ausserdem schreibt er Theaterstücke und Hörspiele und produziert Radiobeiträge für Radio DRS. Pedro Lenz ist mehrfach ausgezeichnet worden. 2008 erhielt er den Kulturpreis der Stadt Bern. Er lebt und arbeitet in Bern.
Bild: zVg.
ensuite, Januar 2009