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“Ich habe die Musen nie gesehen”

Von Mela­nia Lofor­ti - Der Dichter aus Bern, Vito Rus­so, hält in seinem Buch «Keine Wer­bung, prego!» sein Leben als Ital­iener zweit­er Gen­er­a­tion in der Schweiz in Versen fest. Der ständi­ge Zwies­palt mit der eige­nen Iden­tität und sein­er Mis­chkul­tur hat ihn zu diesem zweis­prachi­gen Werk bewegt. Im Gespräch mit ensuite — kul­tur­magazin spricht Vito Rus­so über Poe­sie, seine per­sön­lichen Äng­ste, die Zweis­prachigkeit und die unsicht­baren Musen.

ensuite — kul­tur­magazin: «Keine Wer­bung, prego!», titelt deine neuste Gedicht­samm­lung, die kür­zlich im Ver­lag Books On Demand erschienen ist. Wie kam es zu dieser Pub­lika­tion?

Vito Rus­so: Es war ein langer Weg. Die meis­ten Gedichte habe ich in den let­zten zwei Jahren geschrieben. 2006 ist «Spez­zati­no» (Gulasch) erschienen, eine Gedicht­samm­lung in ital­ienis­ch­er Sprache sowie in Bern­deutsch. Weil meine Lesun­gen erfol­gre­ich waren, wollte ich mich auch dem deutschsprachi­gen Pub­likum mit­teilen. So kam es zu dieser weit­eren ital­ienisch-deutschen Gedicht­samm­lung. Allerd­ings gestal­tete sich die Suche nach einem Ver­leger schwierig. Viele lehn­ten mich ab mit der Begrün­dung, Gedichte liessen sich nicht verkaufen. Schliesslich hat der Ver­lag Books On Demand meine Gedicht­samm­lung gedruckt.

Woll­test du ein bre­ites Pub­likum erre­ichen?

Erre­ichen wollte ich vor allem Leute aus Bern und mein per­sön­lich­es Umfeld mit The­men, die mir am Herzen liegen: Immi­gra­tion, Sec­on­dos, Zweis­prachigkeit und Herkun­ft beschäfti­gen mich oft. Durch die Über­set­zung mein­er Gedichte auf Deutsch habe ich zusät­zliche Deu­tungsmöglichkeit­en geschaf­fen. Es ging also nicht darum, ein bre­ites Pub­likum anzus­prechen. Vielmehr wollte ich meine Zweis­prachigkeit zum Aus­druck brin­gen.

Warum hast du die Lyrik als Aus­drucks­form gewählt und nicht eine andere Form wie zum Beispiel Prosa?

Ich geste­he, man hat mir ger­at­en, in Prosa zu schreiben. Allerd­ings sind Gedichte seit mein­er Zeit am Gym­na­si­um – also seit fün­fzehn Jahren – die Aus­drucks­form, die mir am näch­sten ist. Die wichti­gen The­men des Lebens, wie beispiel­sweise Angst, Sehn­sucht und Herkun­ft, faszinieren mich.

Was ist für dich Poe­sie?

Schwierige Frage… Es ist ein­er­seits das Leben, ander­er­seits ist es ein Handw­erk.
In Gedicht­en ste­hen das erste und das let­zte Wort miteinan­der in Verbindung. Gedichte sind eine Denkweise! Die Leute haben oft die Vorstel­lung eines Dichters, der ein «vie bohémi­enne» führt. Mein Leben, jedoch, ist eher lang­weilig. Ich arbeite als Gym­nasiallehrer, gehe früh zu Bett und kaum aus. Wirk­lich, ich lebe sehr beschei­den. In den Gedicht­en finde ich meine Aus­druck­sweise, die sehr assozia­tiv ist. Poe­sie ist eine Ent­deck­ungsreise.

Du hast an der Uni­ver­sität in Bern Ital­ienis­che und Franzö­sis­che Lit­er­atur studiert. Welch­es sind deine lit­er­arischen Vor­bilder?

Meine lit­er­arischen Vor­bilder sind sehr ver­schieden. Ich lese seit zwanzig Jahren Comics genau­so wie die Bibel oder Klas­sik­er wie jene von Dante und Baude­laire. Für den Unter­richt lese ich immer wieder mod­erne Lit­er­atur. Ich würde den­noch nicht von Vor­bildern sprechen. An der Uni habe ich beispiel­sweise die Lyrik des Dichters Euge­nio Mon­tale sehr geschätzt. In Prosa den franzö­sis­chen Dichter Claude Simon. Die bei­den Mundart-Autoren Pedro Lenz und Mas­si­mo Roc­chi faszinieren mich eben­so. Kurzum, ich schätze all jene, die eine frag­men­tarische Sprache pfle­gen. Die Zer­rüt­tung in der Sprache fasziniert mich. Ich mag es, nach dem Sinn in einem Gedicht zu suchen.

Wo find­est du deine Inspi­ra­tion?

Das ist schwierig zu sagen. Ich bin sel­ten inspiri­ert. Ich habe an der Uni mein Lizen­zi­at über den ital­ienis­chen Dichter Leonar­do Sin­is­gal­li geschrieben. Er ist ein Kün­stler, der die Inspi­ra­tion stets find­et! Sin­is­gal­li: «Vidi le Muse.…» /«Ich sah die Musen…» Ich aber habe die Musen nie gese­hen. (lacht) Meine Inspi­ra­tion ist viel mehr an Sit­u­a­tio­nen und Gefüh­le gebun­den. In mein­er Ver­gan­gen­heit beziehungsweise in mein­er Herkun­ft finde ich The­men, die mich bewe­gen. Solange es einem gut geht, entste­ht Unbrauch­bares. Zumin­d­est in meinem Fall trifft dies zu. Oft­mals sind es bek­lem­mende Gefüh­le, die mich zum Schreiben bewe­gen. Wenn diese Gefüh­le wiederkehrend sind, dann ver­spüre ich den Drang, meine Emo­tio­nen niederzuschreiben.

Du hast eben Pedro Lenz ange­sprochen. Pedro hat spanis­che Wurzeln, du ital­ienis­che.

Siehst du Par­al­le­len zum Bern­er Autor, der auch aus­ländis­che Wurzeln hat?
Die Par­al­lele hast du bere­its ange­sprochen. Meine Eltern stam­men aus Südi­tal­ien, aus der Prov­inz von Poten­za in der Basi­lika­ta. Ich möchte mich nicht mit Pedro Lenz ver­gle­ichen, denn er ist im Gegen­satz zu mir ein Profi. Ich sehe mich als Dilet­tan­ten. «Dilet­tar­si» bedeutet «etwas gerne machen»… Selb­st wenn ich die Möglichkeit hätte, das Schreiben als Beruf auszuüben, würde mir das nicht genü­gen! Ich kön­nte nicht alleine mit meinen Gedanken und Schriften auskom­men. Ich brauche den Aus­gle­ich in einem beru­flichen Umfeld, den ich im Lehrerkol­legium wieder finde. Die Iso­la­tion macht mir Angst.

Kön­ntest du kurz den roten Faden in deinen Gedicht­en resümieren?

Nicht ein­fach. Die Zweis­prachigkeit ist sehr zen­tral. Mit der Über­set­zung entste­ht oft ein drit­ter Sinn. «Keine Wer­bung, prego!» ist ein sehr wichtiges Gedicht, da es genau diesen Aspekt verdeut­licht. Ger­ade deswe­gen trägt die ganze Samm­lung diesen Titel. «Keine Wer­bung, prego! sul­la buca delle let­tere vini e sog­ni da sta­gionare in can­ti­na… /Keine Wer­bung, bitte! Auf dem Briefkas­ten Weine und Träume lagern im Keller… Wo ver­steck­en sich die wahrhafti­gen Gefüh­le?» Die Angst ist das zen­trale und wiederkehrende Ele­ment dieser Gedicht­samm­lung. Mit der Angst umzuge­hen, ist von Gedicht zu Gedicht unter­schiedlich. Oft wird der Leser selb­st aufge­fordert, mit dieser Angst umzuge­hen. «Riflet­tori /Scheinwerfer» resümiert das stets Unter­schwellige. «(Ce la farò?) / (Werde ich es schaf­fen?)» Es ste­ht in Klam­mern, um diese Unter­schwelligkeit zu unter­stre­ichen. Bei mir per­sön­lich sehe ich viel Hil­flosigkeit und Zweifel, welche ich mit weni­gen Worten zu ver­ar­beit­en ver­suche.

Zum The­ma Inte­gra­tion hast du dich neulich so geäussert: «Man muss aufeinan­der zu gehen. Vor allem aber muss man auf die eigene Angst zuge­hen.» Welch­es ist deine per­sön­liche Angst?

Meine Angst hat sehr stark mit meinen Eltern zu tun. Um noch ein­mal auf den Dichter Sin­is­gal­li zurück­zukom­men, ein­er sein­er Verse lautet: «Ogni sera mi vado incon­tro a ritroso!» Frei über­set­zt, kön­nte man dies so for­mulieren: «Jeden Abend komme ich auf mich rück­wärts zu.» Das bedeutet, der Ursprung unser­er Äng­ste liegt in der Ver­gan­gen­heit, beziehungsweise bei unseren Wurzeln. Meine Eltern kamen Ende der 1960-Jahre in die Schweiz. Sie waren, wie so manche, bestrebt, sich in der neuen Gesellschaft anzu­passen. Sie hat­ten jedoch oft Angst. Ich kann mich sehr genau erin­nern, wie sie mir und mein­er Schwest­er Maria sagten: «Psst, che non si dica che gli ital­iani fan­no rumore.» (Psst, seid still. Wir wollen nicht, dass die Leute denken, es seien die Ital­iener, die Krach machen.) Die ständi­ge Angst, ein Nach­bar kön­nte uns willkür­lich aus dem Land ver­weisen, war all­ge­gen­wär­tig und wurde auf uns Kinder über­tra­gen. Diese Angst kann man nicht vergessen. Sie hat mich sehr geprägt. Das Bewusst­sein zu entwick­eln und zu erken­nen, dass diese Angst im Zusam­men­hang mit meinen Eltern ste­ht, ist ein schwieriger Prozess.

Wie kommt es, dass diese so sehr auf dir lastet, wo es doch die Angst der Eltern war?

Gute Frage. Ich denke auch, das sei irra­tional. Im Vorder­grund ste­hen starke Schuldge­füh­le. Ich bin oft mit dieser Frage kon­fron­tiert. Warum über­haupt diese Schul­ge­füh­le? Die sind doch unberechtigt? In meinem Fall ist es auch ein man­gel­ndes Selb­st­wert­ge­fühl. Ich sehe dies aber auch bei anderen Sec­on­dos. Ich bin der Mei­n­ung, dass bei den Sec­on­dos diese Angst beson­ders aus­geprägt ist.

Bei den Sec­on­dos haben vor allem die Eltern die Inte­gra­tion im frem­den Land durch­lebt. Wie siehst du die Inte­gra­tion heute?

Die Prinzip­i­en sind sehr ähn­lich, obwohl die Immi­granten heute aus anderen Län­dern stam­men. Mein­er Mei­n­ung nach dominiert auch hier die unter­schwellige Angst, nicht zu reüssieren. Diese Angst wurde nie richtig ver­ar­beit­et. Ein Beispiel dafür ist der Ehrgeiz, den man vie­len Sec­on­dos zuschreibt. Dieser Ehrgeiz find­et seinen Ursprung genau in der Angst, nicht zu reüssieren. Ich masse mir nicht an, ein State­ment von heuti­gen Immi­granten abzugeben, weil ich schlicht zu wenig über deren Sit­u­a­tion weiss.

Sprechen wir über dein Gedicht «I figli di lotte / Die Kinder von Kämpfen», was ist hier die Botschaft?

Einige Gedichte stam­men aus mein­er ersten Samm­lung Spez­zati­no. Uns Sec­on­dos geht es gut. Warum also darüber schreiben, wenn es uns doch gut geht? Die Kämpfe sind aus­ge­tra­gen wor­den. Dies ist allen bekan­nt. Unsere Eltern mussten sich behaupten. Für sie war es nicht selb­stver­ständlich, eine Woh­nung oder eine Arbeit zu find­en. Durch diese Kämpfe, die sie für uns aus­ge­tra­gen haben, woll­ten sie uns ein besseres Leben sich­ern. Das ist ihnen auch gelun­gen. Den­noch sind wir, Sec­on­dos, stets die Kinder von Kämpfen.

Ich spüre viele Ressen­ti­ments. Fühlst du dich benachteiligt?

In der Schweiz füh­le ich mich keineswegs benachteiligt. Bei meinen Äng­sten geht es nicht um äussere Umstände. Vielmehr ver­suche ich, die Angst mein­er Eltern und meine eigene zu ver­ste­hen. Warum kom­men diese unsin­ni­gen Schuldge­füh­le und Äng­ste, die doch so unberechtigt sind, immer wieder auf?

Beson­ders schön ist der Vers «In un Puz­zle di Svizzera / In einem Schweiz­ergemisch». Die deutsche Über­set­zung hat allerd­ings eine andere Wirkung auf mich. Beste­ht beim Über­set­zen nicht grund­sät­zlich die Gefahr, dass der ursprüngliche Zauber ver­schwindet?

Die Allit­er­a­tion mit den «zz», den Zis­chlaut­en, die hier für eine Ungewis­sheit ste­hen, bilden so etwas wie eine Inter­ferenz. Diesen Effekt wollte ich auch in der deutschen Über­set­zung erzie­len. Allerd­ings wollte ich das englis­che Wort puz­zle bewusst ver­mei­den und so bin auf «sch», wie in Schweiz­ergemisch gekom­men (lacht). Es freut mich aber, wenn bei den Über­set­zun­gen andere Assozi­a­tio­nen entste­hen.

Warum hast du deine Gedichte nicht ins Bern­deutsche über­set­zt, wäre das in deinem Fall nicht authen­tis­ch­er?

Ein Schüler von mir, Lino – ihn darf ich ja an dieser Stelle zitieren –, hat wie du gesagt, es wäre doch authen­tis­ch­er, auf Bern­deutsch zu schreiben. Genau genom­men basiert meine Zweis­prachigkeit auf Ital­ienisch-Bern­deutsch. Ich habe mich den­noch für Deutsch entsch­ieden, weil ich mich daran störe, ganze Texte auf Bern­deutsch zu lesen beziehungsweise zu schreiben. Ich lasse aber gele­gentlich Lehn­wörter aus dem Bern­deutschen in meine Gedichte ein­fliessen.

Wenn ein zweis­prachiger Sprech­er inner­halb eines Gesprächs oder gar eines Satzes von ein­er Sprache in eine andere wech­selt, so spricht man im Fach­jar­gon von Codeswitch­ing. Wie ver­hält sich das bei dir?

Es gibt eine stetige Entwick­lung im Sprachge­brauch. Früher habe ich im Gespräch mit Ital­ienern oft von ein­er Sprache in die andere gewech­selt. Jet­zt bin ich darauf bedacht, mit meinen ital­ienis­chen Fre­un­den, die den gle­ichen sprach­lichen Hin­ter­grund haben, eine reine Sprache zu sprechen und möglichst wenig von der einen Sprache in die andere zu wech­seln.

Wie fühlst du dich: Als Schweiz­er oder Ital­iener?

Ich definiere mich gerne als poli­tis­chen Schweiz­er. Natür­lich, im Herzen bin ich Ital­iener. Wenn beispiel­sweise die ital­ienis­che National­mannschaft oder Juven­tus spielt, füh­le ich mich als Ital­iener. Auch hier gilt für mich die Mis­chform.

Wie würdest du den Sec­on­do definieren?

Es gibt sehr viele Klis­chees, die mit den ital­ienis­chen Sec­on­dos in Verbindung gebracht wer­den. Die Gemein­samkeit aller Sec­on­dos, egal in welchem Land deren Ursprung liegt, ist die Mis­chkul­tur. Diese ist von ver­schiede­nen Fak­toren geprägt. Eine typ­is­che Eigen­schaft der Sec­on­dos ist die Ken­nt­nis zweier Sprachen – ein sehr wichtiges Req­ui­sit. Das Binäre ist stets gegen­wär­tig. Auch für meine Gedichte gilt das Ambiva­lente, oder anders gesagt, das Zwiespältige. Aus der Angst entspringt das Gefühl, nir­gends wirk­lich dazu zu gehören. Wenn man keine Zuge­hörigkeit hat, fühlt man sich wed­er als Fisch noch als Vogel. Genau so sehe ich die Sec­on­dos.

Siehst du diese Mis­chkul­tur nicht vor allem als per­sön­liche Bere­icherung?

Dur­chaus. Ich glaube an das Gute. Ich bin ein opti­mistis­ch­er Melan­cho­lik­er.

Foto: zVg.
ensuite, März 2009

Artikel online veröffentlicht: 13. August 2018