Von Till Hillbrecht - Von Zeit zu Zeit entstehen Beziehungen zwischen Dingen, die in ihrem Wesen grundverschieden zueinander sind, ihr Zusammenspiel, ihre Kompatibilität sich aber als lebensnotwendige Grundlage bedingt. Unerklärbar, weshalb die wie von kosmischer Überhand geleitete und zusammengeführte Symbiose so gut gedeiht. Verbindungen, die sich bereits totgesagt über die Mehrheit hinwegsetzen, verborgen in unserer Gesellschaft mitlaufen und uns dann und wann mit einem kurzen Aufschrei, einem kleinen Seitenhieb an sich erinnern lassen. Solche Beziehungen findet man hie und da, man muss derweil ein wenig suchen. Oder im Stillen darauf warten, bis sie an einen herantreten. Denn es gibt sie. Und sie werden Dich finden. Menschen mit empfänglichen Ohren haben bessere Chancen.
Das ist die Geschichte der Liaison zwischen einer Kunststoffscheibe und einem Musiker. Eine Liebe zwischen einem Ding, welches von einigen als schwarzes Gold bezeichnet wird, von welchem andere gar nicht mehr wissen, was es ist und einem Mann, dessen ganze Kreativität, dessen ganzes Musikvermächtnis bis heute und auch in Zukunft auf dieser Beziehung beruht. Jenem Mann, von dem Herbie Hancock sagt, er mache den Jazz des 21. Jahrhunderts. Es ist dies die Liebesgeschichte der Schallplatte und DJ Danny Williamson, bekannt als LTJ Bukem, einem der Pioniere des Drum’n’Bass. Erzählt und ans Herz gelegt in Berns grösstem Secondhand-Plattenladen, ein paar Stunden vor Bukems Auftritt in der Grossen Reithalle am «Unreal» Drum’n’Bass-Spektakel. MC Conrad, Freund der Familie und Bukems Live-Support auf der Bühne seit Jahren, ist auch dabei.
Die beiden schauen sich um. Der Raum ist bis unter die Decke mit Schallplatten gefüllt, einige Zehntausend werden es sein. Conrad fragt direkt nach der Hip-Hop-Abteilung und beginnt in den Plattenkisten zu wühlen. Er wird es für die ganze nächste Stunde tun. Das hätte er nicht erwartet, meint Danny: «So kannst Du Dir in etwa mein Wohnzimmer vorstellen.» Sein Schmunzeln verrät, dass der Vergleich nicht ganz ernst gemeint ist, aber die beiden Briten erwecken momentan sowieso eher den Eindruck zweier Kinder, die mit ihrer Mum gerade einen Spielzeugladen in der Vorweihnachtszeit besuchen.
«Heutzutage treffe ich einen Promoter und der schaut mit ungläubigen Augen meine Tasche voller Platten an. Remember…? DJ? Disc Jockey? Records? Hey, was soll das, ich will keine Musik auglegen, die ich nicht berühren kann». Danny spricht nicht verärgert, sondern vielmehr belustigt über das heutige Verständnis der DJs. Dass er es vermissen würde, seine Platten nicht aus der Hülle zu nehmen und auf den Plattenspieler zu legen: «Platten lassen dem Discjockey Fehler zu. Das mag ich. Sie verlangen eine absolute Konzentration von Dir, die Mechanik zwischen Medium und Plattenspieler zwingt Dich dazu, ständig bei der Sache zu sein.» Einen verdammten Dinosaurier nennt sich Danny in dieser Beziehung, aber er wäre gelangweilt ohne all das. «There’s only vinyl man», sagt er. Keine CDs oder mp3. Der Dinosaurier passt nicht ganz: Er hat nicht überlebt, DJs von der Sorte Bukem existieren noch. Aber ja — sie sind vom Aussterben bedroht. Conrad findet derweil alte Mantronix-Scheiben, Danny will James Brown hören. Sein Mobiltelefon klingelt, er ist ein gefragter Mann an diesem Abend.
Danny Williamson setzt sich früh mit Musik auseinander, lernt als Junge Trompete, Schlagzeug spielen. Vor allem aber Klavier fasziniert den Engländer, sein Musiklehrer sagt ihm grosses Talent nach. In verschiedenen Bands gibt er sich vor allem der Jazzimprovisation hin, bis der Hang zur Platte Überhand nimmt — zum Ärger seines Musiklehrers: «Als Musiker muss man jeden Tag üben, üben, üben. Als ich dann als DJ an ng, war ich von Platten besessen. Shit, mein Lehrer hätte mir sogar die Ausbildung an der Musikhochschule bezahlt», sagt Danny und lacht.
Der zunehmende Erfolg als DJ wird entscheidend: Ende der 80er Jahre spielt Bukem erstmals vor 10’000 Menschen, sein erster Release «Delitefol» wird veröffentlicht, die Gründung sein Labels «Good Looking» folgt. Es ist die Zeit der grossen Raves, DJs wie Hype, Grooverider oder Jumpin’ Jack Frost werden bekannt und prägen diesen einen von vielen Musikstilen, die England in den 90ern als Mutter der elektronischen Musik gebärt. Vieles stirbt früh, Ragga-Jungle hält sich ein paar Jahre über Wasser, Drum’n’Bass lässt sich ein wenig mehr Zeit, um später erst richtig aufzublühen.
Danny durchstöbert die Funkabteilung, die drei Reihen Drum’n’Bass-Platten wird er während des ganzen Abends nicht einmal überfliegen. «I’m a Soulman», antwortet er auf die Frage, welche Stile er anbieten würde, wären alle wichtigen musikalischen Einflüsse in seinem Kopf wie ein eigener Plattenladen. «Aber ich mag mich nicht auf einen Stil festlegen. Mein Plattenladen müsste viel Reggae haben, das alte Studio One Zeug. Jazz hätte seinen Platz, aber auch Hip Hop war immer ein wichtiger Begleiter in meinem Leben, bis heute.» «Yo Con, wie heisst dieser Westcoast-Typ, den wir kürzlich erst…etwas mit Lip, mein verdammtes Namensgedächtnis ist schrecklich. Lip oder so was.» Conrad: «Madlib?» Danny: «Ja genau! Madlib! Der bringt Soul und Jazz in die Beats. Diesen Scheiss liebe ich.» Diesen Scheiss liebt der Soulman und abermals meint sein Telefon, dass er jetzt dann wirklich langsam gehen sollte.
Die Vorliebe für Downbeat stillt Bukem erstmals 1996 mit der Compilation «EARTH» Vol. 1, deren Fortsetzung, bis dato Volumen 7, eine der erfolgreichsten und hochwertigsten Compilation-Serien im überfüllten Downbeat/ Ambientsektor wurde und dem Willen ihres Schöpfers nach auch in Zukunft weitergeführt wird. Eigene Produktionen stehen in ständiger Konkurrenz zu Bukems filigranen Live-Mixkünsten, die er auf nunmehr zehn Progression-Session-Mixalben auf Platte gepresst hat. Nummer elf ist im Kasten. Was ist also dieser Danny Williamson? Produzent, DJ oder Labelchef?
Wagen wir den Vergleich eines grossen Mischpults, dessen Kanäle je mit einer Funktion belegt sind. Mal ist der Produzentenkanal voll offen, mal der Fader des Labels und mit ihm viele andere Support-Knöpfe verschiedenster Künstler, die Bukem pushen will. «It’s a megamix», sagt Danny und lacht laut heraus. Er sei ein Kontrollfreak und habe es am liebsten, wenn alle Fäden durch seine Hände laufen. Aber einfach sei es nicht. «Die Tage haben zu wenig Stunden für mich. Ich stehe morgens früh auf, weil ich meine Ideen realisieren möchte und gehe abends spät ins Bett, weil ich noch ein paar Platten mischen will», sagt er. Doch dass er machen dürfe, was er liebe, bezeichnet Danny als Segen. «Ständig als DJ um die Welt zu reisen, ist nicht einfach», meint er, «Producer zu sein ist nicht einfach. Aber dass Musik mein Beruf ist, dafür bin ich sehr dankbar.»
Nur der DJ-Kanal auf unserem Mischpult, der ist ständig auf maximalem Pegel und liefert nonstop Output. «I can’t live without a mix», sagt Bukem, es geht nicht um die Show: «Für mich geht es um den Mix, das Mischen der Platten. Wenn ich auflege, stelle ich mir immer vor: Das ist mein allerletztes Set. Es ist zu wichtig für mich. Manchmal komme ich um vier Uhr morgens nach Hause und lege für mich auf. Dann denke ich: Wow, dieser Track tönt grossartig mit diesem und freue mich wie ein kleines Kind, weil zwei Platten zusammen so gut klingen. Dann rufe ich Conrad an: Hey Con, hör Dir das mal an!»
Conrad verdreht die Augen und bestätigt, er hört sich immer noch Mantronix an. Danny lacht, wird wieder ruhig und sagt besonnen und mit ehrlichem Ernst, dass er auch nach 25 Jahren als DJ immer noch komplett vom Mixen fasziniert sei und es kein Grund gäbe, dass sich daran etwas ändert. Noch nie ans Aufhören gedacht? «Ich kann mir wirklich vorstellen, noch mit sechzig aufzulegen», sagt Bukem, «auch wenn das meine nicht Freundin nicht gerne hört. Die Leute sagen, ich sehe genervt aus, wenn ich spiele, dabei bin ich einfach konzentriert. Hinter den Plattenspielern verbringe ich meine wertvollste Zeit: Es ist die Zeit meines inneren Friedens, wenn ich vor 10’000 Leuten einen Mix mache, den ich zuvor in meinem Schlafzimmer ausprobiert habe und er funktioniert.»
Bukems Sound entwickelt sich schon früh zu flächengefüllten Soundscapes, die sich von schnellen Jazz- und Funkbreaks treiben lassen. Vielleicht hat ihn die Stärke oben gehalten, nie auf einen der vielen Zügen aufzuspringen, die so schnell sie anbrausten, gleich wieder in einem Tunnel in Musiklandschaft verschwanden oder nach kurzem auf dem Abstellgleis landeten. Sondern dass er sich vielmehr von all diesen Einflüssen inspirieren liess und sich Scheiben davon für seine eigenen Produktionen abgeschnitten hat. «Ich mag alle verschiedenen Drum’n’Bass/ Jungle-Richtungen, aber ich habe meinen eigenen Weg darin gefunden», beschreibt Danny seine Sicht der Dinge: «Wenn ich mal etwas Hartes, etwas Aggressives spiele, sagen die Leute: Oh, schau an, der Bukem. Er spielt den dunklen Shit, was ist los? Dabei ist es so: Ich habe euch anfangs 90er Jahre diesen Shit gebracht! Früher war ein Track wie vier Stücke zusammen: Erst ein harter Ragga-Beat, dann Breaks, plötzlich House-Elemente, Streicher. Wir waren damals diejenigen, die das gemacht haben. Das wissen die Kids gar nicht mehr, die kommen zum Gig und fragen sich: Oh, warum hat es da Streicher? Warum tönt das so und so… weshalb? Weil… wir haben nie was anderes gemacht!»
Genauso ärgert es ihn, wenn etwas nicht funktioniert. Er ist einer der wenigen DJs, die es für nötig halten, einen Soundcheck zu machen. Seine Vorbereitung ist jene sorgfältige eines Musikers: «Wenn ich auf die Bühne gehe und dann merke, dass die Plattenspieler nicht genügend stabilisiert sind, spiele ich nicht. Als noch niemand mit dem Computer aufgelegt hat, war das Wichtigste von allem ein solider Tisch für die Plattenspieler. Der beste Plattenspieler ist jener, der direkt in den Boden geschraubt ist. Heute gehst Du an einen Gig und auf der Bühne steht ein verdammter Picknick-Tisch.» Danny lacht und dreht sich zu Conrad und ruft: «Con, wir blasen den Gig heute ab. Ich will im Laden bleiben und Musik hören.» Con: «Yeah. Wicked.»
Danny sucht die Platte «I’m a Believer» von The Monkees, Conrad ist inzwischen bei Eric B. angelangt. Er schnippt mit den Fingern, schwingt die Hüfte und sagt laut zu allen: «That’s the heavy rumby stuff». Man hört’s. Der Sound in seinen Kopfhörern würde jedem anderen einen Ohrenschaden bescheren.
«Meine erste Platte?», Danny überlegt kurz, schaut üchtig auf sein Handy und probiert sich zu erinnern: «Die war von einem Typ namens Bert Weedon, ein Gitarrist, der The Shadows coverte. Und dann Scott Joplin, ‹The Entertainer›, ich wollte dieses Stück spielen können. Und The Jam. Das waren die ersten Scheiben, unterschiedliches Zeug». Wir gehen auf die Suche. «I’m a Believer» findet Danny ganz hinten beim Pop/Rock 70er/80er Jahre.
Diesem unterschiedlichen Zeug bleibt Bukem noch immer treu, er hat seinen soliden Musikpfad zwar geschustert, als Musikliebhaber ist er aber offen für alles. Er beteuert, auf das harte, dunkle Zeug zu stehen, nach wie vor. Wenn es denn eine gewisse Qualität von Dunkelheit besitze, nicht bloss harte Basslines. Es muss etwas haben, das Danny packt, auch wenn er nicht sagen kann, was es genau ist. Ein inneres Gefühl, welches ihm sagt: Das ist das richtige Stück für diesen Moment in diesem Set. Darauf baut Danny: «Ich spiele immer das, was ich will. Ich spiele nie für das Publikum. Das tönt blöd, aber ein DJ, der sagt, er spiele für das Publikum, ist ein Lügner. Wenn du das sagst, musst du zu Beginn der Show an der Türe stehen und jeden fragen: Was willst du hören heute Abend? Und du? Und du?»
Bukem wird an diesem Abend in der Reithalle am Unreal Drum’n’Bass-Event auflegen. 2000 Menschen werden erwartet, die nebst Bukem auch DJ Hype und Adam F sehen wollen. Allesamt Pioniere in ihrem Genre. Und doch inzwischen weit voneinander entfernt. «Ich spiele mein Zeug, Hype wird sein Zeug spielen und es wird völlig verschieden sein. Du kannst die Leute nur faszinieren, wenn du spielst, was dich selbst fasziniert. Du faszinierst niemanden, wenn du dich ins Rampenlicht stellst und rumhüpfst, aber dein Set scheisse ist», antwortet Danny auf die Frage, was er von dem bevorstehenden Event hält; «so war es auch früher in den Anfängen. Da waren Hype, Grooverider, Fabio, Jumpin’ Jack Frost, ich…alle zusammen und jeder mit seinem eigenen, differenzierten Sound. Und so sollte doch Musik sein. Menschen sollten fähig sein, alle möglichen Arten von Musik hören zu können und keine Schubladen zu bilden. Manchmal kommen Freunde zu mir nach Hause mit ihren Taschen voller Platten. Wir hören uns das Zeug an und wenn ich etwas gut finde, ist es mir egal, was es ist. Dann finde ich es einfach gut und will es beim nächsten Gig in meiner eigenen Tasche dabei haben.»
Was hält LTJ Bukem von der Bezeichnung Intelligent Drum’n’Bass, die allgemein für seinen Musikstil verwendet wird? Er muss lachen und ruft: «Intelligent D’n’B? Was ist denn das? Mein Gott, will mir jemand sagen, mein Sound sei intelligent? Und Hypes Sound ist dumm oder was?» Es sei doch vor allem die Presse, die solche Dinge erfindet, meint Danny und ist froh um das Versprechen, dass man diese Sicht in der Berner Presse ja widerlegen könne.
Dannys Mobiltelefon. Klingelt und klingelt. Er müsse jetzt wirklich gehen. «Aber ich komme wieder, auf jeden Fall», ruft er. Hey Danny, was ist dein Ding? Er schaut kurz auf und sagt mit ruhiger Stimme und als ob er gleich sein Geheimrezept verraten würde: «Mein Ding ist es, Leute auf eine Reise mitzunehmen, eine musikalische Reise. Du sollst am morgen aufwachen und das Gefühl haben, die ganze Nacht durch Klanglandschaften geflogen zu sein. Es soll mehr sein als ein Set, es soll Dich darüber hinaus begleiten. Das ist es.» Es begleitet mich seit über zehn Jahren.
Nachtrag, 15.12., 04:00 h - LTJ Bukems Set war wie… siehe letzter Abschnitt.
Nachtrag, 15.12., 11:00 h - Danny steht am Morgen nach seinem Auftritt wieder im Laden. Und muss wohl beim Rückflug Übergewicht bezahlen. Schallplatten sind schwer. Und der Soulman geht mit einigen Scheiben mehr heim als er gekommen ist.
Dank an Oldies Shop Bern.
Foto: Beat Schweizer
ensuite, Januar 2008