Von Fabienne Naegeli – Schweizer Erstaufführung von «Tage unter» am Stadttheater Bern: Von der Decke hängen Neonlampen wie in einem Labor. Darunter stehen vier Personen in spitalfarbener Kleidung, «Frau», «Mädchen», «Junge Peter» und «Besitzer». Die Situation ist beklemmend, beinahe klaustrophobisch, so dass einem ein Schauer über den Rücken läuft. Wir befinden uns in einem verlassenen Haus, genauer im Versuchsraum, einer Art fensterlosem Keller. «Besitzer» öffnet einen steril wirkenden Plastikbeutel und entnimmt ihm ein Jackett. «Ich habe nichts. Bin nichts. Bis jetzt. Ich hatte einmal. Ich war etwas. Aber nicht jetzt», behauptet er, dem wie auch allen anderen der bestimmte Artikel verloren gegangen ist. «Frau» widerspricht ihm: «Wir haben Prinzipien, ein Haus, einander, einen Einwegspiegel und einen Bunker.»
Im schalldichten Kellerverlies hält «Besitzer» Menschen gefangen, die er von der Strasse oder an einer Bushaltestelle mitnimmt. «Ich zerstöre. Ich stelle wieder her. Ich helfe. Ich baue auf.» In weltverbesserlicher Manier glaubt er, die kaputten und verlorenen Existenzen retten und ihnen eine neue Geschichte geben zu müssen. Er bricht die Persönlichkeit der Entführten, damit sie eine neue Identität gewinnen oder zumindest die alte ins Wanken gerät. Er selbst hat ebenfalls mit seinem alten Leben gebrochen. Nun verhilft er anderen zu ihrem Besten, zu ihrer Heilung, und zwingt ihnen seine Geschichte auf. Nach einem Monat im Bunker und einigen weiteren im Versuchsraum werden die Gefangenen mit der Auflage, nicht wieder kommen zu dürfen, entlassen. «Freiheit in Schritten» nennt «Besitzer» das.
Bei «Frau» hat die Methode gewirkt. Sie ist soweit, Eigenverantwortung zu übernehmen und in ein neues Leben zu treten, glaubt «Besitzer». Doch «Frau» leidet an totalem Selbstverlust, dem sogenannten Stockholm-Syndrom. «Bin nichts allein. Meine Geschichte ist leer.» Sie ist «Besitzer» hörig, fühlt sich in seiner Ordnung behütet, bei gleichzeitiger Angst vor ihm. Selbst zu entscheiden hat sie verlernt. Sie existiert nur noch für und durch «Besitzer». Er ist zu ihrem einzigen Orientierungspunkt geworden. Ein Leben ohne ihn kann sie sich nicht vorstellen. Eine regelrechte Liebesgeschichte verbindet die beiden. Gemeinsam mit ihm beobachtet sie als willfährige Komplizin die Gefangenen. Gegen ihren Willen muss sie den Schritt nach draussen versuchen.
Nach einem Monat darf «Mädchen» aus dem Verlies nach oben zu «Besitzer» und «Frau», die sich davor fürchtet, da es alles durcheinander bringen kann. «Mädchen» ist rebellisch und wehrt sich selbstbewusst gegen die Gefangenschaft. Sie versucht zu entkommen. Doch wer nicht mitmacht, dem drohen Verlust von Fingern und Zehen. Immer wieder wird die Folterszenerie mit in warmes Licht getauchten, kurzen Geschichten durchbrochen, welche die Vergangenheit und Zukunft der drei imaginieren. Die regelhafte Struktur gerät komplett aus den Fugen als versehentlich «Junge Peter» gefangen genommen wird. Er ist der Fehler in der Versuchsanordnung, der einzige mit Namen, der zudem von seinen Eltern gesucht wird. Plötzlich ist auch noch der «Besitzer» tot. Mit dessen Abwesenheit gestalten sich die Beziehungen unter den drei unfreiwillig sich selbst überlassen Verbliebenen neu. Die Gewaltspirale jedoch setzt sich fort. Jede der Figuren kann TäterIn, beziehungsweise Opfer sein und die Position des anderen übernehmen im Spiel der Möglichkeiten von Geschichten. Man manipuliert sich gegenseitig und lotet ständig wechselnde Machtverhältnisse aus.
Das Drama «Tage unter» von Arne Lygre fasziniert durch seine unterschiedlichen Narrationsebenen. Neben der direkten Rede, der gängigen Figurenperspektive, sprechen die Charaktere in der dritten Person über sich selbst und kommentieren ihre Handlungen: «Mädchen weint», «Frau betrachtet Besitzer». Dieses Schreibprinzip nennt der norwegische Dramatiker «Hyperrepliken». Die schreckliche Gewalt, die den Szenen teils innewohnt, wird in der Inszenierung nicht illustriert, sondern findet vor allem auf sprachlicher Ebene statt und bleibt infolgedessen meist der Imagination der Zuschauenden überlassen. Obwohl einem, allein durch den Handlungsort, unweigerlich Erinnerungen zu Kampusch und Fritzl in den Sinn kommen, zieht die Inszenierung keinerlei Verbindungen zu spezifischen Fällen. Vielmehr zeigt das zukünftige künstlerische Leitungsteam des Theater Marie mit «Tage unter» ein Stück über eine Extremsituation des Beherrschens und Beherrschtwerdens. Ein Spiel mit Behauptungen und humoristisch ironischen Momenten, in dem Menschen in ihren Rollenspielen und Prinzipien so gefangen sind, dass schon mal ein Fenster für unwichtig gehalten wird, oder man, anstatt zu befreien, sich mit einschliesst, um zusammen zu sein.
„Tage unter“
Spiel: Philip Hagmann, Marianne Hamre, Mona Kloos, Andri Schenardi.
Inszenierung: Olivier Bachmann. Bühne: Erik Noorlander. Musik: Pascal Nater.
Kostüm: Myriam Casanova.
Licht: Reto Dietrich.
Dramaturgie: Patric Bachmann.
www.stadttheaterbern.ch
www.theatermarie.ch
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2012