Von Alexander Hunziker / Frank E.P. Dievernich -Lexikon der erklärungsbedürftigen Alltagsphänomene (XXIII): Ignoranz bezeichnet allgemein das Nichtkennen, Nichtwissen, Nichtbeachten von wichtigen Tatsachen und erstreckt sich in seiner Bedeutung bis hin zur Dummheit. Damit wäre eigentlich alles Wichtige bereits gesagt. Wäre da nicht die Tatsache, dass in unserer Wissensgesellschaft Ignoranz so negativ belegt ist, dass man nicht umhinkommt, Verdacht zu schöpfen. Warum verteufeln wir die Ignoranz so sehr? Wo liegt die Qualität der Ignoranz? Wann ist Ignoranz eine Leistung, auf die man stolz sein könnte? Bevor jetzt müde gelächelt wird, sollte Folgendes bedacht werden: Unsere Wirtschaft ist eine gigantische Maschine, die vorgibt, uns glücklich zu machen, indem sie uns mit Gütern versorgt. In Wirklichkeit ist die Güterversorgung längst zum Selbstzweck geworden. Wissenschaftliche Studien belegen dies zentnerschwer. Aber hier stossen wir auf die unglaubliche Fähigkeit vieler Ökonomen, Empirie selektiv wahrzunehmen, oder anders gesagt: auf Ignoranz.
Die Ignoranz schützt Menschen im Allgemeinen davor, ihr lebenslang mühsam aufgebautes Wissen als irrelevant zu erkennen. Es wäre zu schmerzhaft, sich das einzugestehen. Andererseits hindert diese Ignoranz die Spezies der Ökonomen daran, an neuen, besseren Modellen zu arbeiten. Natürlich ist es einfach, über Ökonomen zu lästern – aber betrachten wir uns doch einfach mal selbst: Wir alle sind Konsumenten und damit aktiver Teil des ökonomischen Systems. Wir werden überhäuft mit Sonderangeboten, Bonusprogrammen und «persönlichen» Preisabschlägen. Obwohl solche Angebote im Grundsatz willkommen sind, stellen sie uns vor ein Problem. Viele Menschen haben es aufgegeben, die Cummulus- oder Super-Card, in der Apotheke, im Kaffee um die Ecke und im Sportshop die jeweilige Bonus-Karte zu zücken. Ja, bisweilen werden sogar Gutscheine einfach fortgeworfen. Vielleicht im Wissen, dass man sie eh nicht dabei hätte, wenn man sie bräuchte. Alles in allem: Zu kompliziert, zu nervig. Ignorieren ist da einfacher.
Doch selbst solche Ignoranten ertappen sich selbst entsetzt dabei, dass ihre Hände nach dem verbilligten Käse greifen, den sie eigentlich nicht so mögen. Die Ersparnis von 65 Rappen wird auch nicht wirklich dazu beitragen, als Upgrade die geplanten Sommerferien vom Emmental auf die Malediven zu verlegen. Und es dämmert langsam, dass man empfänglich war für ein Verkaufsargument wie «25% Rabatt» beim Tilsiter! – Wohl nur in seinen Sternstunden fragt sich der mündige Konsument: «Wie doof bin ich eigentlich? Oder schaffe ich es, die Aktionen endlich mehrmals oder sogar für immer zu ignorieren?» Man möchte es ihm gönnen. Wer sich jedoch mit Verkaufsoptimierung befasst hat, stellt leicht fest, dass jedes Detail so ausgelegt ist, dass die Kunden fast nicht anders können, als zu kaufen. Spätestens jetzt wird klar, dass hinter einem charmanten Verkäuferinnen-Lächeln die eiskalte und ausgefeilte seelenlose Konsummaschinerie lauert. Und diese kennt die menschlichen Schwächen nur zu gut. Der Konsument selbst wird zum Selbstbedienungsladen für seine eigene Maschinerie, die ihn ausweidet. Zuerst also wird uns das teure Bio-Gemüse präsentiert, damit man das Gemüse schon im Wagen hat, bevor die billigere Ware kommt, die weiter hinten drapiert wird. Ganz oben und ganz unten, in der «Bück- und Reck-Zone» lagert das, was wir eigentlich wirklich wollen. Hingegen in der Mitte, in der «Greifzone», lagert jenes Gut, welches der Supermarkt uns aufs Auge drücken will. Damit der Kugelschreiber für 3.80 CHF nicht so teuer aussieht wie er ist, hängt man daneben noch einen für 12.50 CHF. Und den Kugelschreiber für 50 Rappen gibt es nur im Fünferpack für 2.50 CHF. Schliesslich finden wir dann noch die günstige Ware auf dem Wühltisch, um den Jägerinstinkt in uns zu wecken. Glücklich geblendet der, der die Unterhose tatsächlich auch noch in seiner Grösse findet. Und weil Glück immer auch ein schönes Körpergefühl auslöst, werden zur Krönung auch jene Socken gekauft, die man eigentlich gar nicht benötigt. Wer will denn schon im Einkaufswunderland mit kalten Füssen herum stehen?
Natürlich setzt der Kater nach der Kasse langsam ein und es dämmert: Trotz der vollen Taschen ist der Konsument sich nicht sicher, ob er wirklich gekauft hat, was er wollte. Eigentlich weiss er es sogar genau: Nein, nein und nochmals: Nein! Froh wäre er jetzt, hätte er doch bloss all diese Psychotricks ignoriert. Aber so sehr wir sie uns manchmal wünschen: Ignoranz kann ganz schön anstrengend sein. Zu ausgefeilt sind die Methoden, mit denen Marketing Profis unsere Aufmerksamkeit lenken. Dabei wäre eigentlich jedem klar, dass man auch in jenem Einkaufszentrum, das sich selbst als «Markt der Lebensfreude» (ja, den gibt es wirklich, nämlich im deutschen Kiel) anpreist, an der Kasse vergeblich auf einen Orgasmus wartet.
Wer seinen Seelenfrieden haben will, braucht eine Form der reflektierten und organisierten Ignoranz. Aber ist es überhaupt möglich, auf diese heilende Form einer Ignoranz als neues Prinzip einer nachhaltigen und vor allem authentischen Ökonomie umzustellen? Wenn Sie spontan mit «Nein» antworten, müssen Sie sich allerdings fragen, ob Sie konsequenterweise zuhause Ihrer Tochter die ungeliebten Mathematikaufgaben nur mehr in einer Hello-Kitty-Verkleidung beibringen wollen, nur damit Ihnen die Aufmerksamkeit sicher ist. Oder ob Sie Ihrer Ehefrau im Chippendale-Gewand ein Abendbrot servieren wollen, nur um zu vertuschen, dass ausser Brot und Käse – wie immer – nichts anderes da ist.
Vergegenwärtigen wir uns also, was eine kultivierte Ignoranz sein könnte. Ein gekonntes aussen-vor-Lassen. Ein unaufgeregtes geschehen-Lassen. Ein auf Durchzug-Stellen der Ohren, wenn der Markt mal wieder zu laut schreit. Bleiben Sie bei sich und machen öfter mal die Augen zu. Wenn Sie das durchhalten, sehen Sie, dass Sie nichts verpasst haben. Auf den Zug der Aufmerksamkeit können Sie nämlich jederzeit springen. Der rollt immer und ist doch nie vorbei. Mit oder ohne Sie. Und es gibt genügend Optionen, die Fahrt wieder aufzunehmen. Hätten sie vor einem Jahr das (damals) neue iPad nicht gekauft, sondern hätten die Augen geschlossen gelassen und erst sechs Monate später wieder aufgemacht, dann hätten Sie sich direkt für das kleinere Modell entschieden. Und auch was den oben erwähnten reduzierten Käse angeht: Auch der kommt immer wieder. Sie haben im Supermarkt des Lebens niemals etwas verpasst, auch wenn Ihnen das jeder weis machen will. Unter dem Strich reduziert sich somit die gesamte Markt-Komplexität auf eine Erkenntnis: Verpassen im Leben können sie nur sich selbst. Und diese Ignoranz wäre dann wohl als einzige wirklich unverzeihlich.
*bewirtschaftet von frank.dievernich@hslu.ch vom Competence Center General Management der Hochschule Luzern sowie für diese Ausgabe von alexander.hunziker@bfh.ch von der Berner Fachhochschule, Fachbereich Wirtschaft.
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2013