Von Peter J. Betts — Ihr Beruf müsse für Lehrpersonen attraktiver gemacht werden, höre ich in den Radionachrichten. Der Mangel an qualifizierten Lehrpersonen werde krass und krasser. Der Topmanager des Berufsverbandes kommt zu Wort: Die bevorstehende Katastrophe sei unabwendbar. Schon vor fünf Jahren, also rechtzeitig, habe er dies den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern in aller Deutlichkeit dargelegt. Die Unterrichtsziele und ‑inhalte müssten klar umschrieben, eindeutig strukturiert werden. Ich erinnere mich an die Schilderung einer älteren Frau aus einem Quartier in Bern, die eben ihren Gatten beerdigt und dann zwei Tage danach erfahren hatte, dass sich bei ihr die Diagnose auf Bauchspeicheldrüsenkrebs bestätigt, und ihr Sohn sein Studium vorzeitig abgebrochen habe, und sie wirklich nicht mehr ein und aus wisse. Bekannte, andere Angehörige waren nicht erreichbar. Sie sei zur Wohnung des Pfarrers gegangen, habe geklingelt und ihm vor der Haustür den Sachverhalt, vielleicht etwas wirr, geschildert. Er habe ihr freundlich eine Weile zugehört, sie angelächelt und dann mit gütig-verständnisvoller Stimme gesagt, heute habe er seinen freien Nachmittag, wenn es dringend sei, solle sie doch die Nummer der «dargebotenen Hand» anrufen, er hole sie ihr, und wenn sie wolle, werde er zugleich seine Agenda bringen und sie könnten schauen, ob sie einen Gesprächstermin fänden, der ihnen beiden genehm sei. Ja, besonders in schwierigen Berufen muss man sich abgrenzen können, wenn man wirkungsvoll sein will. Die Frau ist noch vor ihrem Austritt aus der Kirche gestorben. Bei der Abdankungsfeier war ich nicht dabei. Zurück zum Topmanager des Berufsverbandes: Die Lehrpersonen könnten unmöglich alle Aufgaben, die ihnen die Gesellschaft zuschiebt, erfüllen. Attraktiver, sagte er, könne man den Lehrberuf auch machen durch finanzielle Anreize. Boni für erfolgreiche, abgrenzungsfähige, effiziente Lehrkräfte? Vor drei Jahren habe er es den Politikern noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt, wenn das Ruder nicht sofort herumgerissen werde, sei spätestens das Jahr 2011 bildungspolitisches Katastrophenjahr. Korrerkturergebnisse lägen keine vor. Die Politik sei nun auf höchster Alarmstufe gefordert. Auch ich halte übrigens Bildung für eine zentrale kulturpolitische Aufgabe. Dann wird im Radio über den zweiten sich anbahnenden Fichenskandal in der Schweiz berichtet und darüber, dass Roger Federer wohl auf Platz drei der Weltrangliste zurückgestuft worden sei, ein Wiederaufstieg sich als sehr schwierig gestalten werde, und dass sich in der Schweiz flächendeckend eine kleine Hitzewelle ankündige. Ich schalte aus und begebe mich in die Buchhandlung Stauffacher, weil ich möglichst rasch das Buch, das eine Freundin mit mir diskutieren will, beschaffen möchte. «Reise in die Vergangenheit» heisse es vielleicht, den Titel habe sie sich nicht merken können. Der Autor sei Hans Joachim Schädlich, der Protagonist des Romans ein in den USA ansässiger Exilrusse, der mit einem Bekannten aus Prag den Spuren seiner Kindheit nachgehe: «Leningrad» 1917, der Vater als Parlamentarier in der Oktoberrevolution ermordet; Flucht mit der Mutter nach Odessa, Flucht aus Odessa, schliesslich nach Berlin; Emigrantenschicksale erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. In Berlin: Abbruch des Biologiestudiums im sechsten Semester, während der beginnenden Naziwirren, noch vor der Machtergreifung; Paris; Prag; wegen einer zufällig günstigen Beziehungskonstellation ein Stipendium an eine amerikanische Universität, Botanikprofessur, Krebstod seiner Frau in den Endsechzigerjahren; die Suche nach Spuren seiner Kindheit und Jugend 2005 zusammen mit dem Bekannten, den er während des Pragerfrühlings dort kennen gelernt hatte, die Heimreise nach New York im Schiff. Die Stärke und Berührungskraft des Buches liege vielleicht gerade darin, dass es vor allem aus lakonischen, scheinbar unzusammenhängenden Dialogen bestehe. Ist doch klar, dass ich das Buch sofort haben muss. Ich erkläre all das einer Buchhändlerin in der Abteilung für Belletristik bei Stauffacher. Sie findet den Titel in ihrem Computer nicht, lässt mich aber freundlicherweise über ihre Schulter auf den Bildschirm blicken. Der Titel lautet «Kokoschkins Reise». Es sind – wen wundert es? — noch mehrere Exemplare (die meisten eingeschweisst) vorhanden. Und wo ist es eingeordnet? Wo? Sie haben es erraten: in der Reiseabteilung. Dort finden sich sicher auch «Der Nachtflug» und «Flug über Arras» von Saint-Exupéry (sein «Südkurier» höchstens, wenn die Buchhandlung nicht über eine Abteilung «Philatelie» verfügt), sicher aber Heines «Die Harzreise» (Falls das Textlein nicht doch in die Abteilung für organische oder anorganische Chemie oder für Gartenbau geraten ist); wahrscheinlich auch «Einer flog über das Kuckucksnest» – das werden sie kaum unter Ornithologie eingereiht haben. Dafür finden Sie wahrscheinlich Heinrich Spoerls «Die Feuerzangenbowle» in der Küchenabteilung. Kleists Aufsatz «Über das Marionettentheater»? Sicher in der Abteilung für Dramatik. Natürlich könnte es wohl auch in der Abteilung für Bastelbücher gefunden werden. Falls Sie etwas über Stauffacher selber wissen möchten? Klar: «Wilhelm Tell». Das finden Sie vielleicht in der Abteilung für Bildende Kunst, weil Hodler ein sehr bekanntes Bild zu diesem, der deutschen Klassik zu verdankendem Symbol der Schweiz gemalt hat (ich weiss nicht, ob es in die Blocher-Sammlung einverleibt worden ist). Andererseits, der Mann mit Armbrust spielt (wie die höchst fiktive Gestalt aus Schillers Feder) für die Identität der (wehrhaften) Schweiz eine zentrale Rolle, während schon die Waffe allein zum Symbol dessen wird, was die schweizerische Identität ausmacht und legitimiert: die Wirtschaft, ihr Potential, ihre – Kreativität mit dem ganzen Spektrum der Konsequenzen. Die Worte des Topmanagers aller schweizerischen Lehrerinnen und Lehrer wollen mir nicht aus Kopf und Sinn, besonders auch nach der Episode in der Buchhandlung Stauffacher. Wenn es plötzlich wieder genug Lehrerinnen und Lehrer gäbe, könnte man davon ausgehen, dass, etwa fünfzehn Jahre später, Buchhändlerinnen oder Buchhändler sich um Bücher kümmerten, so dass sie interessierte Leserinnen und Leser zu beraten in der Lage wären? Schon jetzt können sie problemlos den Computer hochfahren, wahnsinnig rasch und fast fehlerlos etwa einen Autorennamen eintippen. Aber jene, die die Bücher einordnen: ob sie – wenn es während ihrer Ausbildung genügend Lehrerinnen und Lehrer gegeben hätte — Lust hätten und die Fähigkeit mobilisieren könnten, in ein nicht virtuelles, also einzuordnendes Buch hineinzublicken, ein paar Seiten zu blättern, um beispielweise festzustellen, ob es sich beim Thema um eine innere Reise oder um eine von Kuoni organisierte Kreuzfahrt handelt? Ob aber die Lehrpersonen mit hinreichend strukturierten Lehrprofilen und der demzufolge organisch gewachsenen Fähigkeit, sich abzugrenzen, imstande wären, den Begriff «innere Reise» zu verstehen, geschweige denn, diesen Inhalt weiterzuvermitteln? Ob Boni diese Fähigkeit auslösen könnten? Wäre es vielleicht doch sinnvoll, sich der Kultur der Bildung, der Kultur der Ausbildung politisch anzunehmen – und nicht nur den Rahmenbedingungen? Da wäre die Kultur der Politik in der Tat gefordert.
Zum Buch: Hans Joachim Schädlich, «Kokoschkins Reise», März 2010, Rowohlt; Lektorat: Hans Georg Heepe, dem das Buch auch zugeeignet ist.
Foto: zVg.
ensuite, September 2010