Von Dr. Regula Stämpfli - Zürich ist eine Weltmetropole, nur die Zürcher bleiben meist auf ihrem «weltberühmt in Zürich» sitzen. Die Zürcherinnen aber, ja sie, sie schreiben Weltgeschichte und rasen durch die Nahostpolitik. Rabbi Eli beispielsweise. Die progressive Jüdin ermittelt nun schon im zweiten Fall ein Verbrechen.
Sie ist vielsprachig, feiert die hohen Feste gleichzeitig mit den Orthodoxen, doch sehr unabhängig von ihnen. Hätte C. G. Jung die Violine Freud abgekauft, als dieser seine Schwester vor dem Konzentrationslager hatte retten wollen, ginge es der Psychoanalyse heute sicher besser. So wie der Name Feidmann in Europa kaum mehr zu finden ist: Feldmann sehr wohl und meist in antisemitischen Talkshows in der Rolle der Jüdin, Vorname meist Deborah. Feidmann gehörte in Deutschland zu den häufigsten Namen – bis zur Shoa. Das und Tausende andere spannende Details erfährt man bei der schriftstellerischen Neuentdeckung Marianne Feder. Ähnlich wie Fred Vargas, die studierte Archäologin aus Frankreich, Krimi-Bestsellerautorin mit männlichem Pseudonym, schreibt Marianne Feder ihre Krimis rund um wahre Geschichten, Quellen, Fakten, Politik und mit klugem Plot.
Rabbi Eli in Zürich ist, als ob sich Sarah Silverman oder wahlweise Jerry Seinfeld mit Hitchcock zusammengetan hätte: Es resultiert ein höchst amüsantes, extrem gescheites Thriller-Erlebnis, das jede und jeden packt – voller überraschender Wendungen, voll feinem Humor und tiefgründiger Gesellschaftskritik. Dieses Buch ist nicht nur ein Genuss, sondern auch eine Einladung, die jüdische Welt als unser aller Welt zu begreifen – klug, witzig und absolut unvergesslich. Obwohl, nun kommen mir einige Zweifel. Nicht punkto Qualität von Marianne Feders Buch, sondern punkto Taubheit und Sturheit des deutschen Literaturbetriebes. Es ist zu befürchten, dass Bio-Deutsche und ‑Schweizer den Feder’schen Humor nicht verstehen. So wie neulich an einer Party in München, als ich den Witz erzählte, das darf ich nur als Wahlisraelin, dass Shlomo und Moshele sich trafen und laut kicherten, als sie ihre Erinnerungen über Auschwitz austauschten. JHWH (Gott) wurde furchtbar wütend, denn über Auschwitz gebe es laut ihm überhaupt nichts zu lachen. Schlomo meinte, immer noch kichernd: «Na ja, du warst ja eben nicht dort!» Peinliches Schweigen von meinen Freundinnen und Freunden, nur Thomas, bless him, kicherte mit. Alle andern begannen gleichzeitig durcheinanderzureden. Was denn DARAN witzig sei und überhaupt, was ich mich wagen würde, und gerade in diesem schrecklichen Nahostkrieg gehe so was gar nicht, ich solle doch an die «armen palästinensischen Babys» denken. Ich ging mit einem starken Gin Tonic raus und rauchte eine Zigarette und beschloss: hoffnungslos. Deutsche gehen zum Lachen ständig in den Keller und deshalb ist das Land manchmal schwer zu ertragen. Apropos: Wussten Sie, dass der Moralapostel Robert Habeck alle verklagt, die ihn bspw. als Schwachkopf bezeichnen? Nicht? Passt doch, nicht wahr?
Anyway. Rabbi Eli parkt ihre Harley in Zürich neben der Kirche beim Brunnen, an den Lindenbaum gelehnt, entsperrt den Sicherheitscode beim Tempel, nimmt die Treppenstufen gerne zwei auf einmal. Ihr Helm wird fix durch Kippa ersetzt, die Telsfransen an den Lippen, flüstert sie die Broche. «Pessach for Beginners» stand auf dem Programm: und willkommen in Rabbi Elis Welt – ein Must-Read für uns Auserwählte, denn die Serie, darauf verwette ich meine Heimat, wird in ein paar Jahren einen Kultstatus ähnlich wie «Emily in Paris» auf Netflix haben; die Stadt Zürich muss dann Marianne Feder mit unzähligen Preisen überhäufen, nur um nicht peinlich zu sein, was freue ich mich doch darauf!
Was mich zur Äbtissin Katharina von Zimmern, deren faszinierender Story und zu schon fast staubig-religiös verehrender Stadtpräsidentinnen-Huldigung in Zürich bringt. Katharina von Zimmern (1478–1547) war extrem schillernd, stammte aus einer faszinierenden Familie mit hochintelligenter Mutter, traf aber aus typisch weiblich-versöhnlicher Sicht einen der antifeministischsten Entscheide ever: Sie übergab gratis, franko und wahnsinnig brav ausgerechnet den hohen Herren von Zürich die Verfügungsgewalt über den wahnsinnig reichen «Frauenstift» – das Fraumünsterkloster in Zürich. Dann heiratete sie Eberhard von Reischach, I mean, welch eine Verschwendung aus heutiger Sicht! Zumal die Herren diese grosszügige Geste mit dem systematischen Vergessen der Gönnerin Katharina von Zimmern dankten. Bis heute ist über ihre Tätigkeit als Äbtissin wenig bekannt, ausser dass Katharina von Zimmern gegen den Widerstand ihrer Mitschwestern an die Spitze gestellt wurde. Vielleicht weil die Schwestern den Verrat von Katharina von Zimmern vorausahnten? Sie machte das Kloster mit Kunst und Kultur, raren Schriften und reich dekorierten Zimmern sowie der Modernisierung der Klosterkirche reich. Der Reformator Ulrich Zwingli widmete Katharina von Zimmern persönlich seine 1523 erschienene Reformationsschrift – nachdem das Fraumünster übergeben worden war, notabene. Dass sie auf «Amt und Würde» verzichtete, rechtfertigte die Adelige mit dem Ziel, «grosse Unruhe und Ungemach» zu vermeiden. Für ihren Verrat oder ihre staatsbürgerliche Weitsicht, je nachdem wie man dies beurteilen will, belohnte der Zürcher Rat sie mit einer Leibrente sowie mit lebenslänglichem Wohnrecht im Kloster, das zum Amtshaus transformiert wurde. 1536 wohnte sie aber im Haus «zum Bracken», später im ehemaligen Haus «zum Mohrenkopf» am Neumarkt.
Feministisch ausgegraben und wiederentdeckt wurde Katharina von Zimmern in den 1980er-Jahren und wurde nun als grosse Friedensstifterin verehrt, nachdem der böse Neffe Froben Christoph von Zimmern seiner Tante vorgeworfen hatte, auf die Abtei «unloblich» verzichtet zu haben. 2004 schuf Anna-Maria Bauer (Bildhauerin) ein Denkmal für sie im ehemaligen Kreuzgang der Fraumünsterabtei.
Mittlerweile gibt es Filme, Dokus und Bücher zu Katharina von Zimmern – ich möchte hier Irene Gysels Werk empfehlen. Es ist nüchtern genug, um historisch standzuhalten, und so farbig erzählt, um Material für einen grossen Roman zu bieten. Was für einen Roman dies gäbe! Alles wäre drin: Sex, Crime, Rock ’n’ Roll, Schwesternstreit, kriegslüsterne Männer, religiöse Fanatiker sowie die Enteignung von Frauen, der Armen sowieso. Gysel erzählt köstlich über die damalige Zeit: «Grossmünster und Fraumünster standen in einer andauernden Konkurrenz, die zum Teil seltsame Blüten trieb. So musste der Zürcher Rat entscheiden, dass am Felix-und-Regula-Tag beim Aufgang zum Lindenhof die Reliquiensärge des Grossmünsters den Vorrang hätten, beim Abgang die Särge des Fraumünsters.» Und Gysel schreibt über sexuelle Gewalt in Originaltexten: «1 March bar Heinrich Krämer von des frävels und unzucht wegen, so er an Fowe von Helffenstein zu frowenmmüster begangen hät.» Der «Preditor» Heinrich Krämer musste also eine March Silber als Strafe für «sexuelle Belästigung» bezahlen. Ach, wenn dies doch nur in Grossbritannien im 21. Jahrhundert auch möglich wäre! Dort erschüttert der Rape-Gang-Skandal die gegenwärtige Labour-Regierung, unter deren Verantwortung die muslimische Wählerschaft behalten wurde, indem man jahrzehntelang schwerste sexuelle Folter von Pakistani-Gangs an weissen Unterschichtsmädchen – Tausende von Fällen sind dokumentiert – verschwiegen, verharmlost und relativiert hat, bis heute. Doch damals wie heute stand davon nichts in den Mainstream-Medien, also in den hoheitsvollen Verlautbarungen, sondern die Fälle werden erst durch entsprechende Gerichtsakten entdeckt. Und zum Schrecken aller Frauen brachten die Reformation und die grosse Geste der Äbtissin von Zimmern keine Besserung der weiblichen Stellung insgesamt. Das Gegenteil war der Fall: abgrundtief und fürchterlich. Die Reformierten heiligten keine Frauen mehr, die Mutter des Gottessohns wurde zur Gebärerin der heiligen Ware herabgestuft, jede Göttinnenverehrung, die Tausende von Jahren in Europa selbstverständlich war, durch die «vernünftigen» Schriftmänner mit grösster Brutalität getilgt. Agatha Studlerin bspw. wurde als erste Hexe von den Reformierten hingerichtet. Ihr Verbrechen? Sie war vermögend. Deshalb führte die Klage wegen Hexerei zur sofortigen Enteignung – ach, wie bleiben diese Geschichten doch modern! Am 27. Februar 1546 wurde sie mit grosser Medienpräsenz und in der Öffentlichkeit ertränkt. Die Reformierten liebten solche Hinrichtungen, über 80 sollten folgen. All dies findet man in Irene Gysels gut recherchiertem Buch – schade nur, dass ein Vorwort von Stadtpräsidentin Corine Mauch drinsteht. Es trieft nur so von Diversity-Match, getränkt mit pseudofeministischen Phrasen. Doch den Schock der ersten Polit-Seiten überwunden, lohnt sich das Buch von Irene Gysel allemal. Und Rabbi Eli? Dringend lesen. Wirklich dringend, denn: Manchmal braucht es keine Revolution, keinen Aufstand, keinen grossen Knall – manchmal genügt eine radikale, unerwartet packende Geschichte, die wie ein Molotowcocktail direkt ins Hirn trifft, um die festgefahrenen, betonierten Weltbilder der Selbstzufriedenheit zum Einsturz zu bringen. Dies bietet Rabbi Eli in jedem Fall. Die Kriminalfälle fressen sich durch Schichten aus Ignoranz, Bequemlichkeit und Zynismus, bis sie das freilegen, was lange verschüttet war: die Fähigkeit, die Welt jüdisch, feministisch, demokratisch zu sehen.
Marianne Feder: shush shalom. Rabbi Elis erster Fall. Edition Königsstuhl 2024.
Marianne Feder: Die Kur. Rabbi Elis zweiter Fall. Edition Königstuhl 2025.
Irene Gysel: Katharina von Zimmern. Flüchtlingskind, Äbtissin, Bürgerin von Zürich. Theologischer Verlag Zürich 2024.