Von Peter J. Betts — Im Tageshoroskop steht in der «Berner Zeitung» («BZ» vom 4. Januar) bei meinem Sternzeichen: «Sie sollten momentan viel Takt und Einfühlungsvermögen an den Tag legen. Werden die anstehenden Termine korrekt eingehalten, dann dürfte auch alles gut gehen.» Ich brauche also weder Taktgefühl noch Einfühlungsvermögen, solange ich diese beiden Werte gut vorspiele, beziehungsweise «an den Tag lege» oder eben: ins Scheinwerferlicht rücke. Und sie sind eigentlich auch völlig nebensächlich: solange ich die (wohl gegenseitig vereinbarten und anschliessend schriftlich bestätigten?) Termine korrekt (also gemäss schriftlicher Rückbestätigung?) einhalte, geht alles gut. Ergo: ob gut oder schlecht entscheidet einzig und allein das Adverb «korrekt»! Der Sinn dieser Termine, ihre Zielsetzungen, die damit verbundenen Hoffnungen oder Absichten sind irrelevant. Kulturelles Umdenken ist hier angesagt: weder Subjekte noch Prädikate, noch Objekte sind (nicht einmal im Zusammenhang) in der Aussage dieser beiden Sätze sinn-entscheidend, sondern nur eine kleine Adverbiale. Das Wort «korrekt» in seiner oberflächlichsten Deutung spielt in dieser «BZ»-Nummer unter anderem auf der Frontseite sowie auf den Seiten zwei und drei eine inhaltlich zentrale Rolle. Als Spezialgast in einem «Comedy Club» hat der diesmal freiwillige Hobby-Komiker Alexander Tschäppät in einem zwanzigminütigen Programm das Publikum zu erheitern versucht, jedenfalls einigen Applaus geerntet. Unter anderem hat er auch Witze zum-besten-gegeben; zwei davon über Italiener. Zwei Wochen später (!) begannen sich die Medien auf ihn einzuschiessen (u.a. natürlich die «BZ», aber auch etwa die «NZZ»). Nein, nein, es ging wenigstens nicht darum, dass der für seine letzte Amtsperiode neugewählte Stadtpräsident von Bern von Italienern gesprochen und dabei nicht ausdrücklich die Italienerinnen mit-angesprochen hatte. Es waren zwei ziemlich alte – Witze, deren Aussage darin bestand, die Arbeitsfaulheit der Italiener zu veranschaulichen. Ich vermute, die Witze waren seinerzeit zum Übertünchen des schlechten Gewissens der sprichwörtlich fleissigen Eidgenossen und Eidgenossinnen gegenüber den «Saisonniers» entstanden: man war sich hier sehr wohl bewusst, wer in diesem Lande die Dreckarbeit zu einem in ihrer Heimat leider dennoch dringendst benötigten Hungerlohn verrichtete, unter welchen Bedingungen sie hier hausten und lebten, dann, wenn die Saison zum Beispiel für die Bauwirtschaft nicht mehr lukrativ war, nach Hause abdampfen und möglichst viel vom Ersparten abgeben mussten – und wer am Ganzen wirklich schwer verdiente. Die SchweizerInnen wussten schon damals, wem sie u.a. den Gotthardtunnel und die vielen Strassenbauten verdankten (ausser natürlich den Ingenieuren, Financiers und Aufsehern). Witze über Italiener dienten zur Gewissensberuhigung und halfen den EidgenossInnen, das Verhältnis zwischen Gastarbeitern und dem Herrenvolk nicht grundlegend verbessern zu müssen. Hat sich heute in dieser Beziehung Wesentliches geändert? Oder nur formal? Ist man nicht wieder dabei, aus Angst vor der Überfremdung den Status der Saisonniers wieder einzuführen? Aber Tschäppäts – Fehltritt: das gefundene Fressen für die Medien und vielleicht auch noch die Gerichte und den Politzirkus liegt darin, Tschäppät Rassismus vorwerfen und einträglich ausschlachten zu können, ohne die hier zunehmend wieder realistischer werdende Fremdenphobie zu überdenken. Nein, nein, das auf Tschäppät eröffnete Feuer hat nicht Geschmacklosigkeit, Dummheit, Phantasielosigkeit und so weiter im Visier. Der Schlachtruf: «Rassismus ist nicht korrekt!» Eine in der Wirklichkeit rein formal verstandene Feststellung? Über Formales kann man sich – korrekterweise gewinnbringend – ohne echtes oder glaubwürdiges Engagement empören. Ich zitiere einige der Fragen des zweiseitigen Interviews: «…bereuen Sie Ihren Auftritt in Das Zelt?»; «Wie stark trifft es Sie, dass man Ihnen Rassismus vorwirft?»; «Haben Sie Verständnis für jemanden, der sich über Ihre Witze empört?»; «Sie bedauern. Haben Sie das Gefühl, Sie müssten sich bei jemandem entschuldigen, wie dies einige Kritiker fordern?»; «Aber noch mal: Es ist halt nicht das Gleiche, wenn ein Comedian Witze über Italiener macht oder ein Stadtpräsident.»; «Sie sehen keinen Unterschied darin, ob ein Comedian oder ein Politiker diese Sprüche macht?»; «Ein Comedian lebt vom Witzereissen. Sie hingegen müssen nicht mit Witzen auftreten:» und so weiter. Gemäss Interviewer wären Italienerwitze, von Komikern geäussert, salonfähig, weil er oder sie davon profitiert, während jemand, der oder die von Steuergeldern lebt, diese Witze bleiben lassen müsste. Die Politgurke muss also Takt und Einfühlungsvermögen an den Tag legen, der Journalist sicher nicht. Der Interviewer, Herr Wolf Röcken, verkneift sich – seiner Ansicht nach wohl der Zustimmung seiner LeserInnen sicher – keine Chance, seiner moralischen Überlegenheit freien Lauf zu lassen, den Pfui!-Finger auszustrecken. Einträglich für z.B. die «BZ». Wenn dieser Musterschüler wirklich Tschäppäts Glaubwürdigkeit als Politiker anzweifelte, gäbe es hierfür – wie wohl bei allen PolitikerInnen – genügend goldene Fundgruben für inhaltlich Substantielleres, etwa mittels Analyse des Courant Normal bei den Tagesgeschäften und den Entscheid-Begründungen sowie derer Kontexte. Aber dies würde ein Nachdenken über Zusammenhänge und Alternativen und die gut geölten politischen Maschinerien aller Ebenen der Legislativen und Exekutiven voraussetzen. Man müsste sich mit Inhalten auseinandersetzen und sich nicht nur bei den simplistischen Fragen der Korrektheit aufhalten. Ein paar weitere Beispiele für das Spiel mit «Korrektheit» in dieser «BZ»-Nummer? Bitte sehr: «Das Verfahren ist eigentlich verjährt. Obwohl die Verjährungsfrist «längst abgelaufen ist», geht das Verfahren zurück an das Obergericht.» (Seite 3); «Die Stadt will neben dem Weyerli eine fünfzig Meter lange Holzwand für Graffiti montieren» (Seite 4); «Eine Agglomerationsgemeinde kürzt einem jungen Mann die Sozialhilfe, weil er als WG-Bewohner Geld spare.» (Seite 4); «Damit die «überzähligen» Leute die Kirche verliessen, wurde ihnen gesagt, dass sie das Konzert in Olten oder St. Gallen gratis besuchen könnten.» (Seite7); «Könnte sein, dass wir nicht lange Zeit haben, uns darauf vorzubereiten.» (Seite 27). Dabei sind es natürlich nicht nur die Journalisten, die die Korrektheit als Hebel für ihre Zwecke ausnützen. Ich greife ein Beispiel heraus: «Die Stadt will neben dem Weyerli eine fünfzig Meter lange Holzwand für Graffiti montieren». Die Kunst der Graffiti wäre eigentlich eine Waffe des Widerstandes gegen die Mauscheleien der etablierten Schichten; Graffiti sollen stören, ärgern, etwas Veränderungswürdiges verändern. Längst haben etablierte Institutionen bereits diese Waffe zu eigenem Nutzen instrumentalisiert. Und die Stadt will – ach, wie geschickt! – Takt und Einfühlungsvermögen und sogar Toleranz an den Tag legen, und dabei dem Protest die Zähne ziehen, und «die Wilden» nebenbei zivilisieren. Alles ganz korrekt. Vermutlich ein von Werbepsychologen vorgeschlagenes Vorgehen. Sieht gut aus. Kann kaum angegriffen werden, und die störenden Kräfte werden kanalisiert … Lesen Sie doch nochmals die beiden Sätze meines Tageshoroskops am Anfang dieses Textes. Zwei Zitate. Sie strotzen von Widersprüchlichkeiten, falschen Ratschlägen, Leere. Als Sätze sind sie – korrekt.
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2014