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Improvisation, die

Von Frank E.P. Diev­er­nich — Lexikon der erk­lärungs­bedürfti­gen All­t­agsphänomene (IX):
Som­merurlaub. Und es reg­net. Geplant war das nicht. Gedacht schon gar nicht. Zeit für Plan B. In der Seit­en­tasche des Kof­fers ist die Spiele-Samm­lung ver­staut – der Mas­ter­plan zur Über­brück­ung bis zur näch­sten Trock­en­pe­ri­ode. Ein beherzter Griff ins Leere ver­weist auf die Notwendigkeit eines Plans C. Die Muse­um­söff­nungszeit­en kom­men der aktuellen Real­ität sehr ent­ge­gen. Auss­er am Mon­tag. Lei­der ist es Mon­tag. Für einen Plan D hat es nicht mehr gere­icht. Jet­zt ist Impro­vi­sa­tion ange­sagt. Denn Impro­vi­sa­tion bedeutet nicht, bere­its einen weit­eren Plan in der Tasche zu haben. Impro­vi­sa­tion ist als spon­tan­er, prak­tis­ch­er Gebrauch von Kreativ­ität zu ver­ste­hen, so Wikipedia. Wenn nichts mehr geht, wird auf die Optio­nen des Hier und Jet­zt zurück­ge­grif­f­en. Gear­beit­et wird mit dem vorhan­de­nen Mate­r­i­al. Kein Gestern und kein Mor­gen mehr. Dabei ist gegenüber einem alter­na­tiv­en Plan entschei­dend, dass der Moment der Selb­stüber­raschung möglich ist. In der Selb­stüber­raschung liegt die Option, sich oder Ele­mente von sich selb­st neu ken­nen­zuler­nen oder erst­mals wahrzunehmen. Das kann freilich über­fordern. Zumin­d­est dann, wenn man mit sich oder dem neu Beobachteten nichts anfan­gen kann. Wer also impro­visiert, muss die Fähigkeit entwick­eln, mit dem Gegebe­nen etwas anfan­gen zu kön­nen. Dabei muss hier für geglück­te Impro­vi­sa­tion die näch­ste Gren­ze über­wun­den wer­den. Das meiste Mate­r­i­al näm­lich, das sich in unserem All­t­ag zeigt, ist Kon­text-gebun­den. Eine Tasse heisse Schoko­lade ent­fal­tet seine Zauberkraft zumeist im Kon­text eines trüben und kalten Herb­st­tages. «Anton aus Tirol» ist die musikalisch wohlk­lin­gende Tapete eines Bierzeltes oder jen­er Ski­hüt­ten, die dann als heimelig gel­ten, wenn der Alko­hol­spiegel im Tee höher ist, als die basale Kräuterzu­tat des jungfräulichen Orig­i­nals. Das Pro­tokoll ist die Leit­planke für Unternehmensentschei­dun­gen und das Grundgerüst des organ­i­sa­tionalen Gehirns, um der Willkür Ein­halt zu gebi­eten und dem Gott der Ratio­nal­ität zu huldigen. Die Forschungs- und Entwick­lungsabteilung eines Chemie­un­ternehmens glaubt zu wis­sen, welche Neu-Kom­bi­na­tio­nen aus Chemikalien dem Prädikat der Inno­va­tion am Näch­sten rück­en kön­nen. Die Kun­de­n­analy­sen wirken ver­rä­ter­isch, weil sie sug­gerierend flüstern, wie der Kunde von heute, mor­gen behan­delt wer­den möchte. Die Beispiele zeigen: All unsere Beobach­tun­gen sind bere­its in Struk­turen ver­haftet, die nahele­gen, wie mit Ihnen umzuge­hen und was wann zu tun ist. Es bedarf also zunächst ein­mal der Loslö­sung von diesen Verknüp­fun­gen, um etwas Neues, etwas Über­raschen­des entste­hen lassen zu kön­nen. Erst dann wird es möglich, in Schoko­lade zu baden – dies ist bitte wörtlich zu nehmen – und dieses Pro­dukt «See­len­tröster» zu nen­nen. Ein Dank geht an dieser Stelle an die Forschungs- und Entwick­lungsabteilung der Fir­ma Kneipp. Impro­vi­sa­tion greift also auf einen dop­pel­ten Umgang mit Kreativ­ität zu: in dem über­raschen­den Umgang mit sich selb­st und in der Loslö­sung von Wahrnehmungen aus ihrem «klas­sis­chen» Kon­text. Der Sozi­ologe Erv­ing Goff­man wies bere­its darauf hin, wie faszinierend es sein kann, einen Restau­rantbe­such­er so zu behan­deln wie einen Kell­ner. Hal­ten Sie das strin­gent durch, bringt Ihnen schliesslich tat­säch­lich ein ander­er Gast das Bier. Pro­bieren Sie es aus! Dem Kell­ner kön­nen sie der­weilen freigeben. Wie sieht es nun bezüglich des Man­age­ments von Unternehmen aus? Wann kön­nte dieses seinen Hut nehmen? Das dürfte dann der Fall sein, wenn eine Organ­i­sa­tion fähig ist, sich durch Impro­vi­sa­tio­nen selb­stor­gan­isiert am Laufen zu hal­ten, wenn es die Sit­u­a­tion erfordert. Ohne Lust­prinzip jedoch artet das Ganze in Stress aus. Fol­glich hat das Man­age­ment, bevor es geht, noch eine zen­trale Auf­gabe zu erledi­gen. Es muss einen Kon­text schaf­fen, in dem Lust zu ein­er zen­tralen Kat­e­gorie der Organ­i­sa­tion wird. Spass, Spiel, Lust – das ist, so kön­nte man meinen, in vie­len Organ­i­sa­tio­nen die Dreifaltigkeit des Teufels, die die Effizienzziele der Organ­i­sa­tion unter­graben. Ein intel­li­gentes Man­age­ment – nach Scott Adams «Dil­bert» ein Wider­spruch an sich – welch­es nun wirk­lich ein mod­ernes Unternehmen man­a­gen will, muss Lust qua­si als Irri­ta­tion der eige­nen Organ­i­sa­tion­sstruk­turen in das Unternehmen ein­führen, will es auf die Vielfältigkeit von Kom­pe­ten­zen ihrer Mitar­bei­t­en­den zugreifen. Wenn es wirk­lich so ist, dass der Erfolg der mod­er­nen Organ­i­sa­tio­nen von den vielfälti­gen und flex­i­blen Beobach­tun­gen ihrer Mit­glieder abhängig ist, dann müssen diese mit Lust und Laune im Stande sein kön­nen, diese auch zu pro­duzieren. In ein­er Welt, die nach Flex­i­bil­ität, Inno­va­tion und Über­raschun­gen schre­it, kann es keinen kreativ­en und stress­freien Plan geben, auss­er jen­em, der entste­ht, weil er endlich von diesem struk­turell befre­it ist. Karl Marx sprach im Rah­men sein­er Kap­i­tal­is­muskri­tik von der Ent­frem­dung der Arbeit. Heute macht es Sinn, diesen Gedanken­gang unter dem Aspekt der Ent­fer­nung des Men­schen zu sich selb­st und seinen Poten­tialen zu betra­cht­en. Eine Organ­i­sa­tion und ein Man­age­ment, welche lediglich darauf aus sind, Struk­turen zu sich­ern, und Impro­vi­sa­tions- und Kreativ­itätsver­mö­gen in zeitlich und räum­lich begren­zte Struk­turen (Beispiel: Ideen­man­age­ment) zu organ­isieren, ver­hin­dert eine sich ein­stel­lende Struk­tur, die die Fähigkeit der Impro­vi­sa­tion entwick­eln kann. Nur die Lust auf Kreativ­ität und Über­raschung sichert, dass sich Impro­vi­sa­tio­nen ein­stellen kön­nen. Nur die Impro­vi­sa­tion­stänz­erin, die sich während ihres Tanzes, an den sich ein­stel­len­den über­raschen­den Bewe­gun­gen und Regun­gen ihres Tanzes und Kör­pers erfreut, weil sie darauf zum Teil mit für sich selb­st über­raschen­den Bewe­gun­gen antwortet, kann eine Form pro­duzieren, die entste­ht, weil sie in diesem Moment aus sich her­aus entste­hen muss. Entste­ht das, spürt der Kün­stler, was als «flow» benan­nt wird, oder was jene, die sich in Asien oder son­st wo auf der Welt gefun­den haben, als «mit­tig» beschreiben. Jet­zt kann es kein Man­age­ment geben, welch­es nach Plan, so er sich nicht als absurd erweisen soll, den Tanz in die Organ­i­sa­tion ein­führen kann, damit ihre Mitar­bei­t­en­den Lust auf sich selb­st und die Organ­i­sa­tion bekom­men. Aber es kann dafür sor­gen, dass der Blick für den Impro­vi­sa­tion­s­ge­halt ihrer Organ­i­sa­tio­nen geschult wird. Denn wenn wir ehrlich sind, dann pro­duzieren Organ­i­sa­tio­nen, zwis­chen den Laden­hütern der Regeln, Struk­turen und Pläne, jeden Tag nichts anderes als Impro­vi­sa­tio­nen, um dem ex post und annäh­ernd Gerecht zu wer­den, was diese Regeln, Struk­turen und Pläne vorse­hen. Lei­der erfol­gt dies – und das ist der «miss­ing link» zu ein­er geglück­ten «sozialen Form», zu dem Gefühl der Übere­in­stim­mung zwis­chen Indi­vidu­um und «sein­er» Organisation/«seines» Teams/ «sein­er» Arbeit – ohne die Lust auf das, was anstelle möglich wäre.

Foto: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2011

Artikel online veröffentlicht: 16. Februar 2019