Von Michael Zwicker — Du darfst individuell entscheiden, denn du bist ein Individuum. Der Individualismus ist ein altes, ein sich stetig wandelndes Konzept, das sich zu unterschiedlichen Zeiten auf unterschiedliche Art und Weise in den Gesellschaften und Kulturen bemerkbar machte.
Gelehrte der Antike, des Mittelalters, der Renaissance, der Aufklärung, und solche der fortfolgenden, konstruierten Epochen bis heute, dachten und denken immer noch über die Individualität nach. Konstruiert sind die Epochen darum, weil sie künstliche, auf einer Landkarte der Zeit gezogene Grenzen suggerieren, damit man die Vergangenheit ordnen und über sie sprechen kann. Die Zeitgenossen von Johannes Gutenberg spürten wohl kaum, dass sie, dank der Erfindung des Buchdrucks, falls sie diese überhaupt registrierten, vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit übertraten. Ein einzelnes Ereignis schneidet nicht die eine Zeit von der anderen ab. Nur die Geburt und der Tod vermögen solches zu leisten. Geschichte ist komplexer. Das Konzept des Individualismus begleitet die Menschheit nun schon über zweitausend Jahre. Der Begriff Individualismus wurde im Verlauf dieser unendlich lang wirkenden Zeit mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen und überladen, in unterschiedliche Kontexte gestellt, und von unterschiedlichen Mächten genutzt und missbraucht. Er war schon Stinkwanze, Spinne, Ohrwurm und Schmetterling. (Übrigens verabreichte man, daher der Name, Ohrkranken und Tauben in der Frühen Neuzeit als Medizin pulverisierte Ohrwürmer.) Was heute unter Individualismus verstanden wird kann ich nicht sagen. Jedoch glaube ich, dass der Individualismus in unserer Zeit und Gesellschaft einen viel zu hohen Stellenwert geniesst, und daher werde ich mich in den folgenden Zeilen gegen diesen egoistischen, selbstverliebten und hochnäsigen alten Mann (liebe Frauen, ich bitte Sie um Entschuldigung, «der» Individualismus ist leider ein «er») stellen, gegen einen alten Mann, der durch seine immer noch jugendlich anmutende Gestalt verzaubert. Eines möchte ich vorausschicken: Der Individualismus ist zu stark, um ihn bändigen zu können. Doch zwei, drei Stiche werden mir hoffentlich gelingen, denn die Wirklichkeit und das Ideal des Individualismus entsprechen sich nicht. Die Einwände richten sich vor allem an alle jene, die in Gesprächen nicht oft genug betonen können, wie eigen sie sind, und an jene, die in Brockenhäusern, an Flohmärkten und in Mottenkisten ihre Modeaccessoires suchen, um ihre Individualität zu unterstreichen, die nur noch damit beschäftigt sind, sich durch neue und immer wieder neue Accessoires von den Mitstreitern abzuheben.
In der modernen Massengesellschaft, wie ich irgendwo gelesen habe, ist es immer weniger die Arbeit, sondern viel mehr der Konsum, welcher zur Konstruktion der eigenen Identität herangezogen wird. In der arbeitsfreien Zeit, wenn wir nicht auf den Bus warten, auf der Toilette sitzen oder an die Wand starren, wahrscheinlich auch dann, konsumieren wir. Wir taten dies schon immer, nur nannten wir es früher nicht so. Wir hatten auch weniger Zeit dafür. Doch was konsumieren wir heute? Wir konsumieren Dinge, die etliche andere auch konsumieren. Wir schauen fern, schiessen mit unserem Smartphone Fotos, schauen uns irgendwelche Zeitschriften an, trinken Kaffee mit Freunden, springen von einem elf Meter hohen Felsen in die Maggia, zeichnen, musizieren, schreiben, sind kreativ, gehen, stehen, liegen, schlafen, träumen und schnarchen. Das tun Andere auch. Du bist nicht einzigartig. Du hebst dich nicht von den Anderen ab. Wir glauben, dass in uns ein Wesen, eine Idee schläft, die uns irgendwann, sobald sie das Licht der Welt erblickt, Erfolg bringen wird. Vielleicht wird sie das, aber wieso? Weil du dich nicht von den Anderen abhebst, denn die Anderen finden dies alles genauso toll wie du, und wenn du diese Idee nicht gehabt hättest, hätte sie früher oder später ein Anderer gehabt. Denn Ideen drängen sich auf. Sie kommen nicht aus dem Nichts. Eigentlich sind es Ideen einer Gesellschaft und nicht eines Individuums. Es war Carl Benz, der 1886 mit einer dreirädrigen, gasmotorbetriebenen Kutsche das Auto erfand. Nein, eigentlich hat Niklaus August Otto im Jahre 1862 mit der Erfindung des Viertaktmotors das moderne Automobil erfunden. Nein, nein, wenn wir es genau nehmen, erfand der im 13. Jahrhundert lebende Philosoph Francis Bacon das Automobil. Bacon schreibt von einem Karren, der weder geschoben, noch von einem Tier gezogen wird. Und wer hat eigentlich den Mini erfunden? Francis Bacon? Wir alle haben den Mini und das Auto erfunden. Denn die Zuschreibung von Erfindungen und Ideen funktioniert gleich wie jene der Epochenbegriffe. Wir ziehen künstliche Grenzen und schreiben zu. Jede Idee soll einem einzelnen Individuum gehören. Hinzu kommt, dass sich die heutigen Ideen und Besonderheiten aufgrund der zeitgenössischen Medien in Windeseile verbreiten. Nichts bleibt unbemerkt. Alles wird kopiert, oder wurde schon kopiert. Um uns zu vielen einzigartigen Individuen entwickeln zu können, müssten wir uns eigentlich, jeder für sich, im Wald verstecken und ein Einsiedlerleben führen. Das Konzept des Individualismus und die Gesellschaft als Konzept bekämpfen sich. Dies zeigt auch die Mode sehr schön auf. Die Zürcher Hipsters oder Szenis, um ein naheliegendes Beispiel anzuführen, statten sich mit einzelnen Accessoires, mit einzelnen Besonderheiten aus, einer knallgelben Lenkstange am Rennrad beispielsweise, um sich von anderen, wie es scheint, abzuheben. Erstaunlicherweise fügen sich diese unzähligen, einzelnen Besonderheiten zu einem Eindruck eines Ganzen zusammen, zu einem in sich stimmigen Szeni-Typus. Du kannst dich durch deinen Besitz und deine Kleidung nicht vom Rest der Gesellschaft loslösen und abheben. Du kannst dich nur einer oder mehreren von vielen Allgemeinheiten zu ordnen. Du bleibst in der Zeit und in mehreren Allgemeinheiten gefangen, und doch bleibst du individuell, aber vielleicht (Achtung: Es folgt eine böswillige Unterstellung) nicht so individuell, wie du glaubst.
Foto: zVg.
ensuite, November 2012