Von Dr. Regula Stämpfli - Der Mensch als Maschine feiert seit einigen Jahren sein über 100-jähriges Jubiläum. Der Schotte Arthur Keith bspw., ein Anthropologe und Anatom, beschrieb 1919 den Menschen als Motorensystem, in welchem die knochigen und fleischlichen Komponenten für Fortschritt und Bewegung und, bei schlechter Wartung, für den Verfall zuständig waren. Der Deutsche Fritz Kahn kopierte die Idee und fertigte 1922 den bis heute einprägsamen Maschinenmann: «Der Mensch als Industriepalast». Die Kommandozentrale besteht bei Kahn aus Männern in weissen Kitteln, Arbeiter müssen an den Leitungen bei der Leber die Stoffe in Zucker verwandeln. Fritz Kahn, in seinen jungen Jahren ein glühender Zionist, wandelte sich als Arzt zum Rassenmediziner, der bereitwillig über «Die Hygiene der Juden» publizierte. Alexei Gastew, ein kommunistischer Dichter, gründete 1920 das «Zentralinstitut für Arbeit» und «betrachtete Maschinen als seine ‹eisernen Freunde› und bezeichnete das ‹Krachen, Pfeifen, Knirschen und Schreien der Apparate in den Fabriken› als die ‹Musik der Zukunft›». Der begnadete Historiker Philipp Blom beschreibt diese und andere Geschichten, u. a. auch, wie sowjetische Arbeiter an Maschinen festgeschnallt wurden, um durch endlose Wiederholung die perfekte Bewegung zu verinnerlichen. Gastew war erfolgreicher Missionar der kommunistischen Maschinengesellschaft, hochdekoriert und verehrt, bis er 1938 von der sowjetischen Geheimpolizei abgeführt und nach einem Säuberungsprozess erschossen wurde. Seine Mörder führten seine seelenlosen Visionen sozialer Automaten unbeirrt weiter. Diese wurden auch von den westlichen BesucherInnen der sowjetischen Tötungsmaschinerie verehrt und in Europa wie in den USA kritiklos verbreitet. Die Bauhaus-Schule unter Walter Gropius bspw. schaffte «Utopien aus Beton» (Philipp Blom): Auch hier ging es um das Ideal, das menschliche Leben zu vereinfachen, «indem die Moderne auf Funktion festgelegt wurde statt auf Beziehung und Bewegung» (laStaempfli IFG 2007). Bis heute verfolgen viele Baumeister hierarchische Visionen, die den Menschen Optimierung abverlangen. Le Corbusier schlug bspw. 1925 vor, die schönste Stadt der Welt, nämlich Paris, dem Erdboden gleichzumachen: Statt der Innenstadt sollte es fortan nur Wohntürme und Autobahnen geben.
Dies alles scheint heute ebenso vergessen wie die nachhaltige Kritik an derartigen Fortschrittsdystopien mächtiger Architekten, Designer, Bauhausmeister der Moderne. Es sind exakt diese Lücken, die einer fundierten Kritik digitaler Architektur und Funktion entgegenstehen.
Damals, in den 1920er- und 1930er-Jahren, gab es nämlich noch Kritik an der verqueren Huldigung dieser Prothesengötter, an den Apparaten-Apologeten: Charlie Chaplin zeigt in «Modern Times» 1936 fast prophetisch, wie die Welt einem riesigen Maschinen-Zahnrad gleicht, das den rührend hektischen und tapsigen Arbeiter nach dessen versklavter Existenz einfach verschlingt. Heute gibt es nur Black Mirror – Dystopien bis zum Abwinken und ohne Transformationspotenzial.
Der Sound der Gegenwart wird apolitisch, in der Fragmentierung unzähliger sophistischer Argumente wie «technophob, kulturpessimistisch, fortschrittsfeindlich» monoton wiederholt. Apolitisch bedeutet immer vereinzelt: Solange es den zum Thema führenden Wissenschaftlerinnen nicht gelingt, gehört zu werden, ergeben sich die Männer in einer beschissenen Ewigschleife natur- und lebenszerstörenden Diskursen und Politiken und zelebrieren sich darüber hinaus noch als Kritiker, weil ihnen in ihrer sexistischen Blindheit gar nicht auffällt, dass sie seit Jahren auf die falschen Themen setzen, die falschen Experten befragen und die falschen Sachbücher besprechen.
Deshalb hier mal Klartext: It’s the codes, stupid.
Es sind nicht die «Lifestyle-Linken» von Sahra Wagenknecht und Robert Pfaller, die die Linke und deren Transformation gegen den Neoliberalismus zerstören, sondern das Zusammenspiel Mensch–Maschine, das dazu führt, dass Diskussionen in sozialen Medien nicht WIRKLICH stattfinden, sondern sich nur noch in codegetriebenem Hass äussern.
Der Zerfall demokratischer Diskurse liegt weder bei den Faschos, dort auch, aber nicht nur, noch bei den Lifestyle-Linken, dort auch, aber nicht nur; sondern in den glühenden Codes digitaler Nullen, die sich die radikal soziale Art des Menschen dienstbar machen. Wer das Storytelling der zeitgenössischen und sozialen Medien und deren Kapitalfeed wie die mechanisierte Automatisierung von Skandalisierung, Emotionalisierung, Personalisierung, Freund-Feind-Schemata analysiert, realisiert sofort:
It’s the machines, stupid.
Dass Sahra Wagenknecht eloquent und in vielen Punkten treffend über die «Lifestyle-Linken» herzieht, dass im Gegenzug dazu die Verletzten, die anderen, die Postkolonialistinnen personifizierte Säuberungskampagnen einleiten, hat wenig mit den Inhalten, dafür alles mit dem Interagieren von Maschinen, Automatismen, Trends, Hashtags, Hyperlinks und Accounts wie Menschen zu tun.
It’s the codes, stupid.
Maschinenmenschen und Menschen in Maschinensystemen agieren radikal sozial und vernetzen Fiktionen mit der realen Welt; in jedem Einzelnen von uns manifestiert sich das, u.a. in unserem Hormonhaushalt: Dopamin für Likes, Adrenalin für Benachrichtigungen. Die radikal sozialen Lebewesen kennen beide Hormone bestens: Sie triggern, vereinfacht gesagt, auch die zwei Seiten von Sucht. Einerseits verführen Belohnungshormone Menschen in abgrundtiefe Albtraumwelten von Gewalt, Alkohol, Drogen und Selfism, andererseits können sie durch Beziehung, Anerkennung und Dazugehören zur seelischen und körperlichen Gesundheit beitragen. Johann Hari hat in den USA die gängige Definition von Sucht geliefert: der lebenslange Trip auf der Suche nach Beziehung. Hier docken soziale Medien, Apps, Smartphones direkt an unser Hormonsystem an.
It’s the codes, stupid.
Abhängigkeit und Beziehungssucht werden direkt von den sozialen Medien getriggert: einerseits durch die Likes, die Anerkennung und Beziehung simulieren, andererseits durch Benachrichtigungen, die das Sicherheits- und Angstzentrum anheizen. Es ist ein Drogencocktail, dem nur schwer zu entkommen ist. Doch wir brauchen nicht so tief in die Abgründe von Abhängigkeit und Hormonen zu steigen, um zu verstehen, dass Mobbing und Hass in den sozialen Medien so codiert sind, dass sich vor allem diese verbreiten und nicht «love, harmony and understanding». Dazu müssen wir nur die klugen Frauen wie Ingrid Brodnig, Shoshana Zuboff, Amy Webb, Cathy O’Neil und Regula Stämpfli lesen, um dies zu verstehen. Sie bringen auch einfach durchsetzbare Lösungen:
Change the codes, stupid: Wer Vielfalt, Mehrdeutigkeit, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, ökonomische Teilhabe, Freiheit, Wahrheitssuche, Wirklichkeit, Offenheit, Partizipation, Gemeinsinn reinsteckt, kriegt Demokratie. Dafür brauchen wir Open Sources: Digitalisierung als öffentliche Infrastruktur. Gleichzeitig muss der Banksprech von Datenschutz als Innovationshemmnis als das entlarvt werden, was es ist: ideologischer Bullshit. Alle IT-Unternehmen müssen Quoten für Gender, Diverse, PoC einführen, und zwar jetzt. Der Handel mit personenbezogenen Daten wird verboten. Die verfassungsmässig garantierten Teilhaberechte sind in unseren Demokratien gegen die Unternehmen und den Staat, der öffentlich-rechtliche Gelder in Start-ups mit fast 100-prozentiger Männerquote verschleudert, durchzusetzen. Das Recht auf Vergangenheit ist zu gewährleisten. Daten lassen sich sehr schlecht anonymisieren, die Bussen bei Überschreitung von Fristen für Datenlöschung indessen sehr gut personalisieren. Gleichzeitig braucht es ein digitales Transparenzgesetz: Wir alle brauchen öffentlich finanzierte und transparente Datensätze – oder wie ich es an anderer Stelle schon formuliert habe: «No data without representation.» Private Datensätze zur Bestimmung von Volkswirtschaften müssen klassisch staatlicher Vermessung und öffentlichen Statistiken weichen: Weshalb haben wir überhaupt einen Ethikrat für Statistik? Weiter: Open Data sind gute Tools, aber nicht alles: Es muss die Freiheit zu den Daten und die Freiheit von den Daten ebenso geben, wie in Demokratien die Freiheit zum Staat wie die Freiheit vom Staat garantiert werden. Gleichzeitig müssen alle digitalen Leistungen neu berechnet werden: Die Einführung von digitalen Transaktionssteuern war schon 2008 das Gebot der Stunde. Ebenso ist die Internalisierung externer Kosten dringlich: Oder wie lange soll Amazon seine milliardenfachen Ressourcenkosten des Lieferdienstes auf die Allgemeinheit abwälzen können? Auch die Grundlagen öffentlicher Vergabe- und Beschaffungspolitik müssen demokratisiert und als Steuerungsinstrument für eine gemeinwohlorientierte Datenpolitik angewandt werden: Schluss mit einer völlig korrupt wirkenden Globalisierung! Überall, wo öffentliches Geld hineinfliesst, muss Demokratie dahinterstehen: Es gibt keine geheimen Datenlöcher und Codes, keine Black Boxes mehr. Demokratische Digitalisierung setzt voraus, geltende Verfassungsgrundlagen und rechtsstaatliche Bedingungen nicht an supernationale Privatinteressen und Überwachungsstaaten zu verkaufen. Codes sind mächtig: Es ist höchste Zeit, sie zur Ermächtigung vieler und nicht zur Entmündigung aller zu missbrauchen. Und last but not least: Wir alle brauchen ein 12-Stufen-Programm gegen Onlinesucht und Ökokollaps: Denn auch punkto Klimawandel sollte endlich mal klar werden: It’s the codes, stupid.
Literatur: Philipp, Blom: Die zerrissenen Jahre 1918–1938, München 2014, Regula Stämpfli, Trumpism. Ein Phänomen verändert die Welt, Zürich 2018, Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten, München 2021.
Bild: laStaempfli-Collage auf der Basis des Ausnahmekünstlers Tal R aus Tel Aviv