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Jahresauftakt: Die Macht des Storytellings oder Back to Reality

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Auf Arte gab es kür­zlich eine neue Doku­men­ta­tion zum Unter­gang Roms. Die The­o­rien sind bekan­nt: Im 19. Jahrhun­dert scheit­erte das antike Rom an sein­er Dekadenz, im 20. Jahrhun­dert an mil­itärisch­er Schwäche, im 21. Jahrhun­dert wegen des Chris­ten­tums als Staat­sre­li­gion, und ganz neu sind Pan­demie und Kli­mawan­del die Ursachen. Der Gabe, Geschichte(n) neu zu erzählen, wohnt die Eroberung der Gegen­wart inne.

Wel­tre­iche wer­den nicht durch Gewalt regiert, son­dern brauchen Sto­rys. Sind sie gut, gehen sie mit der Zeit in Fleisch und Blut über – Stich­wort christlich­es Abendmahl: die per­fek­te Kom­bi­na­tion von Sto­ry­telling und Real­ität.

Codes sind noch nicht ganz so mächtig, aber immer­hin haben sie es im Jän­ner 2020 geschafft, das Weisse Haus zu stür­men. Trumps Tweets waren eben nie nur 140/280 Zeichen, son­dern codierte Anweisun­gen: vom Nation­al­is­mus über den Hass bis hin zum eigentlichen Putschver­such. Codes gehören der algo­rith­misch ver­fassten Gegen­wart­sre­li­gion an: Sie mobil­isieren ihre Gläu­bi­gen für Krieg, Schlacht­en und Eroberun­gen. Plat­tfor­men bleiben wie damals die Kirche unan­tast- und unfehlbar. Sie find­en, ich übertreibe? Nein. Ich bin nicht krass genug: Dig­i­tale Rev­o­lu­tio­nen wieder­holen codierte Bull­shit-Nar­ra­tive so oft, dass sie selb­st poli­tisch bish­er Unverdächtige per­vertieren kön­nen. Oder hät­ten Sie vor zehn Jahren allen Ern­stes geglaubt, dass für viele Post­fem­i­nistin­nen nicht etwa iranis­che Mul­lahs als «frauen­feindlich» im Netz ver­fol­gt wer­den, son­dern die zauber­hafte Kinder­buchau­torin J.K. Rowl­ing oder die Nobel­preisan­wär­terin Mar­garet Atwood? Oder dass über dem laut­en Geschwätz ein­schliesslich Trig­ger-War­nun­gen die Gewalt an Kindern inklu­sive sex­ueller Kinder­folter im Netz mil­liar­den­fach (allein im let­zten Jahr ver­dop­pelte Bild­menge, siehe Gabriel Dance) zugenom­men hat, ohne dass wir über diese Epi­demie auch nur einen klitzek­leinen Tweet geschweige denn einen Hash­tag oder Thread lesen?

Codes sind heftige, wirkungsmächtige Glaubenssys­teme: Sie etablieren neue Daten­pakete-Reli­gio­nen. Diese operieren wie damals die Kirche: Die Wirk­lichkeit wird durch geschick­tes Sto­ry­telling aus der Welt geschafft.

Was waren die Nachkriegs­ge­bore­nen doch naiv! Sie mein­ten allen Ern­stes, den Glauben längst in der Mot­tenkiste fehlgeleit­eter Ver­gan­gen­heit entsorgt zu haben! Sie lagen völ­lig falsch. Ohne Reli­gion ist dem Kli­mawan­del nicht beizukom­men, wie wir an den Apoka­lypse-Jün­gerIn­nen der «Let­zten Gen­er­a­tion» erken­nen. Ver­sucht­en wir in den 1970er-Jahren, das Kli­ma logisch, wis­senschaftlich begrün­det und mit poli­tis­chen Mass­nah­men zu stop­pen, real­isieren wir fün­fzig Jahre später, dass es neure­ligiösen Kun­st-Bull­shit braucht, um den Kli­mawan­del wenig­stens zu the­ma­tisieren. Die «Let­zte Gen­er­a­tion» beweist mit ihrer neuen Kli­mare­li­gion und mit Klebestoff, Videos, Hash­tags und Twitter‑, Tiktok‑, Telegram- und medi­en­ana­log omnipräsent, wie man übers Kli­ma redet und nichts tut. Das ist wahre Macht. Die Post-War-Boomer mein­ten auch, Gle­ich­stel­lung von Frauen logisch, vernün­ftig und mit neuen Bib­lio­theken weit­erzubrin­gen. Sie ver­gassen die Herrschafts­ge­walt von Misog­y­nie und Anti­semitismus. Vorurteile, die – wie prak­tisch – schon ganz zu Beginn in die Codes rein­pro­gram­miert wur­den; nachzule­sen u. a. bei mir und in Car­o­line Cri­a­do-Perez’ «Unsicht­bare Frauen». Sog­ar aus Jan Böh­mer­mann haben Algo­rith­men einen fleis­chge­wor­de­nen Twit­ter gemacht: Der Mod­er­a­tor nen­nt Frauen auf ZDF einen ver­i­ta­blen «Scheis­shaufen», crazy, nicht wahr?

Codierte Glaubenssys­teme schnüren Daten­pakete, die – automa­tisch repetiert – Hash­tags, Threads und Trends in die Wirk­lichkeit tra­gen. Deshalb hörten wir in den let­zten sieben Jahren wenig zum Frei­han­delssys­tem, das Dik­taturen reich und kriegslüstern macht – siehe Rus­s­land, die VR Chi­na und den islamistis­chen Gottesstaat Iran. Deshalb wurde zu Katar und dessen mafiösem Ein­fluss auf west­liche Demokra­tien nicht mehr recher­chiert – bis zum Fund von über 600 000 Euro im Trol­ley des Vaters ein­er europäis­chen Abge­ord­neten im Dezem­ber 2022. Codierte Glaubenssys­teme verkaufen Mei­n­un­gen als Tat­sachen, hebeln kri­tis­ches Denken auf und geben vor­wiegend Frauen oder «Israel» die Schuld für alles Unglück dieser Welt – und zwar von links bis rechts.

Algo­rith­men sind schon längst keine Math­e­matik mehr, son­dern Welt­gestal­ter. Sie errech­nen auf­grund reak­tionär­er, anti­demokratis­ch­er, patri­ar­chaler, misog­y­n­er, ras­sis­tis­ch­er Dat­en die Welt neu. Falls dies zu the­o­retisch klingt: Fra­gen Sie doch mal den Ama­zon-Post­boten, diesen neuen Sklaven des Plat­tformkap­i­tal­is­mus, wie sein Leben von Maschi­nen errech­net wird und was dies für sein Dasein, seine Fam­i­lie, seine Arbeit und seine Beru­fung bedeutet. Begleit­en Sie eine Kranken­schwest­er, die stun­den­lang Maschi­nen füt­tert statt über Zeit ver­fügt, sich realen Men­schen zu wid­men, und Sie merken: Nicht die Maschi­nen wer­den men­schlich­er, son­dern die Men­schen maschineller. Men­schen übri­gens, deren Dasein­szweck nicht als Lebe­we­sen definiert wird, son­dern als Daten­pakete, Kred­it­möglichkeit­en, und die im Falle von biol­o­gisch weib­lichen Kör­pern als Ver­fü­gungs­masse für Repro­duk­tion, sex­uelle Dien­stleis­tung und andere patri­ar­chal induzierte Pflege­di­en­ste funk­tion­ieren.
Der Macht der Fik­tio­nen im Zeital­ter dig­i­taler Repro­duk­tion ist keine Gren­ze geset­zt.  Doch noch immer wird die Geschichte der neuen Daten­re­li­gion nicht als solche erzählt.
Der His­torik­er Philipp Blom bspw. ist geschickt darin, zu den jew­eils bren­nen­den Glaubens-
the­men der Gegen­wart his­torische Büch­er vorzule­gen. Die Ner­ven­schwäche der Män­ner um die Jahrhun­der­twende passte gut zum auf­steigen­den Fem­i­nis­mus der Nuller­jahre des 21. Jahrhun­derts; die Ide­ol­o­gisierung der Zwis­chenkriegszeit zum Aufkom­men der sozialen Net­zw­erke. Und 2022 sind Natur und Biolo­gie dran sowie die Radikal­abrech­nung mit dem alten Glauben. Eine «mythol­o­gis­che Atom­bombe» sei der bib­lis­che Satz «Macht euch die Erde unter­tan», meint Blom in seinem neuen Buch und plädiert für radikales Umdenken. Er bedauert den Wan­del von der griechis­chen Göt­ter­welt zum Chris­ten­tum: «Wollte man in See stechen, musste man Posei­don opfern, son­st gab es einen Sturm oder eine Flaute und man kam nicht weit­er. Und wollte man ein Feld aussäen, brauchte es vielle­icht ein Rit­u­al, um die Geis­ter zu besän­fti­gen.» Diese sym­bol­is­chen Hand­lun­gen hät­ten den Men­schen in ein Geflecht von Natur, qua­si in die Kyber­netik, geistig einges­timmt – etwas, das heutzu­tage defin­i­tiv fehlt. Deshalb fordert Blom eine «Denkrev­o­lu­tion» – sprich neue Nar­ra­tive, neues Sto­ry­telling, das sich hof­fentlich automa­tisch repetiert in Wirk­lichkeit über­set­zen lässt. Wieder wird die Lösung existieren­der glob­aler Prob­leme in «neuen Nar­ra­tiv­en» gesucht, statt der Wirk­lichkeit Gewicht und Raum zu geben.

Leute: Das Kli­ma wird nicht durch Codes und Sto­ry­telling gerettet – im Gegen­teil –, son­dern nur durch reale Poli­tik: Tat­en statt Worte. Finanz­transak­tion­ss­teuer, die Inter­nal­isierung extern­er Kosten, die demokratis­che Durch­set­zung des Öffentlichkeit­sprinzips, das allen ermöglicht, öffentliche Dat­en zu nutzen und pri­vate zu schützen, eine Arbeitswelt, die auf Res­o­nanz statt auf Wach­s­tum und Bull­shitjobs aus­gerichtet ist, ein Qual­ität­sjour­nal­is­mus, der reale Prob­leme und nicht Shit­storms unter­sucht, sowie ein Finanzsek­tor, der nicht wie damals die Katholis­che Kirche den Wahnsinn automa­tisch repetiert, sel­ber berech­net, verkauft und alle Lebe­we­sen dieser Ide­olo­gie unter­wirft. Schon länger meine ich, wir soll­ten Arbeit mit Lebe­we­sen höher bezahlen als Arbeit mit Dat­en. Schon eine gewisse Reg­ulierung des glob­alen Han­dels hätte riesige und pos­i­tive Auswirkun­gen. Die Lösun­gen sind schon längst aus­gedacht, es kommt darauf an, sie umzuset­zen.

«Das Kap­i­tal fährt ins Aus­land, spricht seine Sprache, und dort, wo man auch seine spricht, bleibt es dann liegen. Die Sonne scheint nicht in Tre­sore, die Sonne kommt aus den Tre­soren und bestrahlt uns, wenn wir sie öff­nen, die Büch­sen der Pan­do­ra. Man wird uns erwis­chen, das ist auch schon der ganze Inhalt.» Das neue Buch von Elfriede Jelinek – fast noch druck­frisch und der Ham­mer! Jelinek ent­larvt lit­er­arisch konkret also dieses Para­dox der wirk­lichkeit­sna­hen Kun­st, was Codes in Wirk­lichkeit sind: anti­demokratisch pro­gram­mierte Hand­lungsan­weisun­gen zugun­sten eines glob­alen Finanzsys­tems, das vor unser aller Augen die Welt in Nar­ra­tive ver­wan­delt, die im real existieren­den Globus riesige Müll­berge zurück­lassen.

Wom­it wir beim Unter­gang und unserem Anfangs­the­ma, dem von Rom, wären. Hier halte ich es mit Friedrich Dür­ren­matt: «Ich werde dich pen­sion­ieren», erk­lärt der ger­man­is­che Söld­ner­führer Odoak­er in der Komödie «Romu­lus der Grosse» dem Kind­kaiser Romu­lus Augus­tu­lus. Der antwortet erfreut: «Hier hast du den Lor­beerkranz und die Kaiser­to­ga. Das Reichss­chw­ert find­est du bei den Gartengeräten.» Dann darf sich der Herrsch­er mit ein­er Jahres­rente von 6000 Gold­stück­en auf ein Landgut bei Neapel zurückziehen.
Was beweist: Die Wirk­lichkeit schreibt immer noch die besten Geschicht­en.
Empfehlun­gen:
Gabriel Dance, The Inter­net Is Over­run with Images of Child Sex­u­al Abuse – What Went Wrong.
Friedrich Dür­ren­matt, Romu­lus der Grosse.
Car­o­line Cri­a­do-Perez, Unsicht­bare Frauen.
Philipp Blom, Die Unter­w­er­fung – men­schliche Herrschaft über Natur.
Elfriede Jelinek, Angabe der Per­son.
Shoshana Zuboff, Dig­i­taler Überwachungskap­i­tal­is­mus.
Maja Göpel, Wir kön­nen auch anders. Auf­bruch in die Welt von mor­gen.
Kyle Harp­er, Fatum. Das Kli­ma und der Unter­gang des Römis­chen Reich­es.
Eric Hobbes­bawm, Das Zeital­ter der Extreme.
Thi­lo Bode, Die Frei­han­del­slüge. Warum wir CETA und TTIP stop­pen müssen.