Von Sonja Wenger — egegnung mit Stascha Bader, Regisseur von «Rocksteady — The Roots of Reggae»: War der Sommer 1966 auf Jamaica tatsächlich zu heiss, um zu den schnellen Beats des Ska zu tanzen? Waren die Gemüter durch die anstehenden politischen und sozialen Veränderungen auf der Insel wirklich so erhitzt, dass sich die Menschen nach mehr Spiritualität und langsameren Rhythmen sehnten? Noch bevor der populäre Reggae geboren wurde, der das Bild von Jamaica bis heute prägt, gab es eine andere Musik. Vor Reggae gab es Rocksteady.
Während nur zwei kurzen, aber intensiven Jahren schien Jamaicas Musikindustrie zu explodieren: Songs wie «Tougher than tough», «You don’t love me (No, No, No)», «Rivers of Babylon» oder «Shanty Town (007)» wurden sofort zu Hits. Stars wie Stranger Cole, Judy Mowatt oder Ken Boothe eroberten die Charts. Und trotz des späteren Siegeszugs von Reggae hat sich Rocksteady mit seinen langsameren Rhythmen, selbstbewussten Texten, seiner sorgfältigen Orchestrierung und der seelenvollen Interpretation bis heute einen stillen Platz im Herzen vieler Reggae-Liebhaber erhalten.
Der Dokumentarfilm «Rocksteady — The Roots of Reggae» des Schweizer Regisseurs Stascha Bader setzt den Legenden der Rocksteady-Zeit vierzig Jahre später ein Denkmal. Der sinnliche, farbenfrohe und inspirierende Film sprengt in jeder Hinsicht den Rahmen eines konventionellen Dokumentarfilms. «Oral history» sei das Stichwort, sagt Bader im Interview mit ensuite – kulturmagazin. Nicht Experten kommen bei ihm zu Wort, sondern die Musiker, Sängerinnen und Sänger von damals. Sie finden an den Originalschauplätzen noch einmal zusammen, nehmen ihre alten Songs auf, erinnern sich an eine bessere Zeit – und reden den Menschen von heute ins Gewissen.
ensuite — kulturmagazin: Stascha Bader, Sie haben Ihre Doktorarbeit über Reggae geschrieben, bringen aber nun einen Dokumentarfilm über Rocksteady, eine Urform des Reggae, ins Kino. Warum?
Stascha Bader: Wenn ich Filme mache, dann will ich dabei etwas entdecken. Ich möchte für das Publikum genauso wie für mich etwas herausfinden, das noch niemand weiss. Bei Reggae hatte ich das Gefühl, ich wisse schon alles. Nachdem ich meine Doktorarbeit über Dance-Hall-Reggae geschrieben hatte, konnte ich nicht einmal mehr Bob Marley hören. Aber vor ein paar Jahren habe ich meine Plattensammlung aufgeräumt und dabei sind mir zufällig einige Alben aus dieser Zeit in die Finger geraten. Ich war völlig überrascht, wie schön die Musik für mich klang. Ich habe die Platten aufgelegt, und nochmals aufgelegt, und dann nochmals — bis ich realisierte, dass es sich bei der Musik um Rocksteady und nicht um Reggae handelte. Als ich noch gegraben habe, fand ich all die Vocalbands wie The Gaylads, The Soulettes, The Ethiopians, The Wailing Wailers, die in der kurzen Zeit von Rocksteady zwischen 1966 und 1968 explosionsartig entstanden sind und die so schöne Songs gemacht haben.
Wie entstand daraus die Idee zu einem Dokumentarfilm?
Kaum hatte ich alle diese Bands wieder entdeckt, kam die Meldung, dass Desmond Dekker gestorben war. Das war vor etwa drei Jahren. Nach Dekkers Tod habe ich mich gefragt, wer von den Musikern und Musikerinnen des Rocksteady überhaupt noch lebt. Und damit war die Idee für den Film geboren, der alle diese Stars noch einmal zusammengebracht hat.
Wie kamen die Kontakte zu all den Rocksteady-Stars zustande?
Es gibt ein paar wirklich grosse Reggae- und Rocksteady-Kenner. So Chuck Foster aus Los Angeles, der für das «Beat Magazine» schreibt und die Sendung Reggae Central der Radiostation KPFK-LA moderiert. Oder Mossman Raxlen, unser Musikproduzent aus Montreal. Sie sind wandelnde Reggae-Lexika und haben mir gesagt, an wen ich mich wenden solle.
Waren die Musiker und Musikerinnen überrascht über die Anfrage?
Allerdings. Plötzlich kam da dieser «weisse Junge aus der Schweiz». Es hat bei einigen viel Überzeugungsarbeit gefordert. Aber als der Kontakt einmal bestand, wurde ihnen bewusst, dass sich da jemand für ihre Geschichte interessiert, die sie selbst schon fast vergessen hatten. Doch es gab auch Hindernisse. So sind wir nicht an John Holt, den Leadsänger von The Paragons, herangekommen. Von ihm stammt das Lied «The tide is high». Und Judy Mowatt, die zusammen mit Marcia Griffiths und Rita Marley das Gesangstrio I‑Three bildete, musste ich gleich zweimal besuchen, einmal mit Schweizer Schokolade und einmal mit Basler Läckerli, bis sie sich zum Mitmachen bereit erklärte.
Gibt es nicht schon genug Dokumentarfilme über Reggae?
Dutzende. Aber ich wollte bei meinem vermeiden, dass nur ein paar Musikjournalisten über ein paar Songs reden. Mir ging es um die Geschichte dieser alten Stars, die zusammenkommen, aus ihrem Leben erzählen, am Schluss ein Konzert geben und sich danach wieder in alle Winde zerstreuen.
Haben Sie mit den Musikern und Musikerinnen noch Kontakt?
Es war ein grosses Glück, dass das internationale Jazzfestival in Montreux diesen Sommer die ganze Bande eingeladen hatte. Das war auch für sie gigantisch, denn mit Ausnahme der I‑Three, die mit Bob Marley unterwegs waren, hatte keiner von ihnen zuvor vor so vielen Leuten gespielt. Ausserdem hatte mein Film in Montreux Premiere — und ich wollte natürlich von ihnen hören, was sie darüber dachten.
Und wie waren die Reaktionen?
Sie haben viel gelacht und während des Films alles kommentiert und auch kritisiert. Aber musikalisch waren sie sehr zufrieden. Grund dafür war natürlich die sehr aufwändige Postproduktion, besonders beim Ton. So hat ein Toningenieur eine Woche lang nichts anderes als «dialogue editing» gemacht, also jeden gesprochenen Satz geputzt, freigestellt, abgemischt. Ein anderer hat sich nur um die Geräusche gekümmert: Wind, Palmen, Autos. Dieter Meyer, einer der besten Schweizer Toningenieure, hat nicht nur während dem Drehen aufgenommen, sondern auch ausserhalb noch Klänge geholt. Und ein Dritter hat nur alle Musikteile gemischt. Entsprechend war der Ton für mich dann die grösste Überraschung, als ich den Film das erste Mal im Kino sah. Die Bilder sind o.k., aber am Schnittplatz hat man nur kleine Lautsprecher — und dann plötzlich 5.1 Dolby Surround. Da geht die Musik auf wie ein Fächer.
Der Film ist aber nicht nur ein Klangerlebnis, sondern auch eine Farbenexplosion.
Es war uns von Anfang an klar, dass «Rocksteady — The Roots of Reggae» ein sinnlicher Farbfilm sein soll, und wir haben uns gefragt, wie man das am Besten erreicht. Pjotr Jaxa, unser fantastischer Kameramann mit seiner grossen Filmerfahrung, konnte aus dem Vollen schöpfen. So haben wir eine Woche lang fast nur Colorsettings mit der Kamera gemacht um herauszufinden, wie die verschiedenen Farben aufgenommen werden sollen. Zudem haben wir Testaufnahmen und Testkopien gemacht, damit wir schon vor den eigentlichen Aufnahmen wussten, wie es dann im Kino aussieht.
War von Anfang an klar, dass die Dokumentation die Dimensionen eines Spielfilms haben soll?
Mir war auf jeden Fall klar, dass ich keinen Experimentalfilm oder irgendwelchen Schnickschnack wollte. Die Kamera sollte sich in den Hintergrund stellen und den Personen vor der Kamera viel Zeit und Raum lassen. Das erreicht man einerseits mit einer sensiblen Bildführung und einem ruhigen Bildschnitt, und andererseits, indem man eine hohe Auflösung verwendet und alle Möglichkeiten grosser Bilder ausschöpft. Am meisten hatte es mich gefreut, als Ken Boothe nach der Filmvorführung sagte: «Das ist kein Dokumentarfilm – das ist ein Spielfilm!»
Was braucht es für einen guten Dokumentarfilm?
Ich glaube, dass jeder Film eine Geschichte braucht. Es geht immer um das «was wenn?», das den dramatischen Bogen öffnet. Was passiert, wenn sich ein junger Mann namens Romeo in eine junge Frau namens Julia verliebt, aber ihre Familien sind Todfeinde? Dann wird es spannend. Was passiert, wenn Zürich gegen Milan spielt? Superspannend. Und bei diesem Film ist es genauso: Was passiert, wenn die alte Garde noch einmal zusammenkommt, im Studio ihre Songs spielt und ihre Geschichten erzählt? Der Rest rollt von allein.
Wieweit sind die Musikaufnahmen im Film inszeniert?
Gar nicht. Es war mein Ehrgeiz, dass alles so original wie möglich sein sollte. Die Aufnahmen im originalen Tonstudio von damals sollten unter möglichst originalen Umständen passieren. Vor vierzig Jahren gab es nur Zwei- und Vierspurgeräte, so dass die Band den Song in einem einzigen Take aufnehmen musste. Dieser technische Nachteil war für die Seele der Musik von Vorteil. Das Ganze war dann aber doch aufwändiger als erwartet.
Warum?
Ich hatte mir ursprünglich vorgestellt, mit dem Filmteam im Hintergrund zu bleiben. Aber ich musste dann doch ins Scheinwerferlicht treten und alles koordinieren. Denn da waren gleich drei Equipen: der Bandleader und seine Band, der Studioingenieur und seine Leute, und das Filmteam mit zwei Kameraleuten und einem Tonmann. Bis da die ganze Hierarchie funktionierte, hat es gedauert.
Wie lange war die Drehzeit?
Die reine Drehzeit war sechs Wochen. Aber der Schnitt danach war eine Odysee. Wir haben in Montreal und Zürich über viereinhalb Monate nur das Bildmaterial geschnitten. Allerdings ist das eher wenig. So habe Christian Frei an seinem Dokumentarfilm «Space Tourists» ein Jahr geschnitten, genauso war es bei «No more smoke signals». Das ist aber nicht ungewöhnlich, denn auch mit einem präzisen Drehbuch entsteht ein Dokumentarfilm immer am Schnittplatz.
Weshalb ist das so?
Ein Dokumentarfilm geht immer von Annahmen aus, und da kann es während dem Drehen grosse Verschiebungen geben. So haben wir laut Drehbuch angenommen, dass Ken Boothe
in Trenchtown durch die Strassen läuft, mit den Leuten dort redet und dann ein Lied singt. Einen Tag vor dem Dreh sagte uns Boothe, dass er das nicht macht, weil er keine Lust habe, nach Trenchtown zu gehen, und zudem am nächsten Tag nach Florida fliege. Ein Dokumentarfilm über Rocksteady und Reggae funktioniert aber ohne Trenchtown nicht.
Warum ist Trenchtown so wichtig?
Dieses Viertel in Kingston ist essentiell für die Entwicklung dieser Musik, da dort in einer wahren Künstlerkolonie viele Songs entstanden sind. Aber wir hatten Glück und zu diesem Zeitpunkt erfahren, dass Rita Marley, Bob Marleys Witwe, gerade auf der Insel war. Sie war von Ghana, wo sie lebt, zur Beerdigung ihrer Schwiegermutter nach Jamaica gekommen. Auf unsere Anfrage hin erklärte sie sich zu einem Interview in Trenchtown bereit und hat uns dann überall herumgeführt. Das war fantastisch, denn sie war bei The Soulettes und bei The Wailers dabei. Sie und Bob Marley haben 1966 in der Blütezeit des Rocksteady geheiratet. Auch sie ist also eine authentische Erzählerin.
Sind auch alle Songs im Film authentisch?
Ja, alle. Die verwendeten Songs sind exakt in der Zeit von Rocksteady entstanden und reflektieren und kommentieren dadurch auch die Zeit gegen Ende der Sechzigerjahre. Es ging bei den Songs um Arbeitslosigkeit, Auswanderung, Ghettobildung, Gewalt oder die Gangster, die sogenannten Rude Boys. Rocksteady-Songs handeln aber auch vom Widerstand, von Rebellion, der Hoffnung und natürlich immer wieder von der Liebe. Denn diese Musik hat eine positive Kraft. Nicht umsonst sagt Ken Boothe am Schluss des Films, dass man vorsichtig sein müsse, was man mit seinen Texten sagt, besonders wenn man über Waffen und Gewalt spricht, denn «ein Song kann überall hinkommen».
Im Film werden historische Aufnahmen eines Staatsbesuchs von Haile Selassie gezeigt, des damaligen äthiopischen Kaisers. Wie wichtig war Selassie für Jamaica?
Sein Einfluss auf die ganze spirituelle Rastafari-Bewegung und deshalb auch auf die Musik war enorm. Haile Selassie war und ist für die Rastafaris der Messias. Für sie ist der Papst der Antichrist. Die Weissen haben sie über Jahrhunderte versklavt. Die Schwarzen standen auf der untersten sozialen Stufe. Und plötzlich kommt ein Haile Selassie, ein schwarzer König aus Afrika. Das war ein unglaublicher Katalysator für ihr Selbstbewusstsein. Nach Selassie haben die Leute nicht mehr nur in die USA geschaut, sondern auch nach Afrika, sind sich ihren afrikanischen Wurzeln bewusst geworden. Das spürt man den Rhythmen an, der Beat von «Rivers of Babylon», einem Rocksteady-Song, ist klar afrikanisch dominiert. Ein anderer Song von Marcia Griffith war «Young, gifted and black». Die Rastafari-Bewegung muss man immer im Kontext des erwachten Selbstbewusstseins der Schwarzen sehen, egal, ob es um den Afro-Look oder die Black Panthers ging.
Was bedeutet dieser Film für Sie?
Für mich ist es ein Traum, der wahr geworden ist. Alle diese lebenden Legenden kommen zusammen, spielen ein Album ein mit vielen meiner Lieblingssongs, die ich mit auswählen durfte. Und dabei ziehen alle am selben Strick und arbeiten auf Augenhöhe mit mir zusammen. Sie können etwas, das ich nicht kann und umgekehrt. Und miteinander gibt es ein Projekt. Das ist allerdings dann schon jenseits des Traumes, denn das muss man sich erarbeiten.
Wie wird der Film vom Publikum aufgenommen?
Ich war in München an der Premiere und der Applaus wollte nicht aufhören, dasselbe in Berlin, Montreal und in London. Aber was mich viel mehr freut als der Applaus, dass sind die Gesichter der Leute, die aus dem Kino kommen. Sie haben ein Lächeln im Gesicht und etwas mitgenommen. Ich möchte, dass jeder Film, den ich mache, die Menschen beseelen kann. Deshalb fühle ich mich oft auch als Wirt.
Wieso als Wirt?
Das Leben ist doch wie eine Wanderung und jeder Mensch hat dabei sein Päckchen zu tragen. Aber ab und zu kehrt er ein, um sich zu stärken. Für mich sind Filme Seelennahrung. Ich will mir keinen Film ansehen, bei dem ich mich nachher schlecht fühle. Filme sollen positive Energien weitergeben. Und «Rocksteady — The Roots of Reggae» ist so ein Film. Denn die Geschichte zeigt, dass man auch mit miesen Voraussetzungen — kleine Insel, kein Geld — etwas Schönes schaffen kann, das überdauert.
«Rocksteady — The Roots of Reggae» dauert 98 Minuten und kommt am 26. November ins Kino.
Info: www.rocksteadyrootsofreggae.com
Der Schweizer Dokumentarfilmer, Regisseur und Autor Stascha Bader realisiert seit 1990 audiovisuelle Produktionen für private Auftraggeber und Fernsehstationen. So drehte er für das Schweizer Fernsehen unter anderem «Diagnose Krebs. Drei Menschen kämpfen ums Überleben» oder «DJ Tatana. Unterwegs mit der Technokönigin der Schweiz» und diverse Musikvideos, darunter für die Kummerbuben, Bligg und Sens Unik. 1992 publizierte er das Buch «Worte wie Feuer: Dance Hall Reggae und Raggamuffin in Jamaika und England». Die internationale Koproduktion «Rocksteady — The Roots of Reggae» ist sein erster Kino-Dokumentarfilm.
Info: www.staschabader.ch
Bild: Michael Spindler
ensuite, November 2009