Von Kristina Soldati — Schleichender Übergang «Wollen sie nicht einen richtigen Beruf erlernen?» fragt eine Angestellte im Arbeitsamt den Tänzer Pierre (fiktiver Name), da sie den Tanz nicht auf ihrer Liste von anerkannten Berufen findet. Passende Stellen findet sie auch nicht. Mehrmals im Jahr holt sie die Akten von Individuen, die sich als Tänzer bezeichnen, aus dem Schlummer und «aktiviert» sie. Haben Tänzer der freien Szene eine Produktion erfolgreich über die Bühne gebracht, gehen sie erst einmal stempeln. Oft stempeln sie so viele Wochen im Jahr wie sie tanzen. Dabei müssen sie achtgeben, dass innert zweier Jahre zwölf Monate getanzt (oder gejobbt) wurde, sonst verwirken sie ihren Anspruch auf Unterhalt. Aufgepasst auch mit den Beiträgen! Tanzstücke von heute sind schnell erstellt und abgespielt, und wenn da der Tänzer nach kaum drei Monaten abdanken darf, tanzt es sich in der Regel «beitragsfrei»: Alle Beteiligten sind von der Beitragspflicht befreit. Vor allem der brotspendende Choreograf. Will Pierre neben seinem Brot auch die Krümel der Freiwilligenbeiträge für die Sozialversicherungen — wozu er durchaus befugt ist -, muss er dies nur überzeugend genug vortragen. Da wird ein Produzent wohl gern abwinken und den Tänzer, den lästig nachhakenden, gar zur Scheinselbständigkeit zu überreden suchen. Selbständige tragen bekanntlich die Last der Vorsorge allein. Dann aber entfällt Pierre, als Selbständigem, das Recht auf Arbeitslosengeld. Hinsichtlich der Vorsorge und Rente sprechen die Bundesämter für Kultur und für Sozialversicherungen über offensichtliche Mängel im Gesetz und einer «Versicherungslücke». Doch daran kann Pierre nun nicht denken. Erst einmal über die Runden kommen. Wie für die Hälfte seiner Schicksalsgenossen springen für Pierre kaum 2500 CHF monatlich heraus. Der Tanz sei wie der Kultursektor generell ein typischer Fall «atypischer Beschäftigungsform» heisst es auf Bundesebene. In dieser Form, geprägt durch Teilzeit, befristete Verträge, Mehrfachanstellungen und Mischformen zwischen Angestelltenverhältnis und Selbständigkeit, fallen viele durch das soziale Netz.
Die «atypische Beschäftigungsform» wird weltweit für den Tanz immer typischer. Dreiviertel der 600 in der Schweiz schwitzenden Tänzer sind bereits «frei». Woanders schliessen die Theater unter Sparzwang ihre Sparte Tanz. Feste Stellen werden rar, kleine und kleinste freie Companien spriessen allenorts und ringen um den Fördertopf. Kurzlebig und mit kurzen Projekten. Eine wachsende Zahl freier Tänzer zeigt sich mobil, tanzt ständig vor, nummeriert wie in Chorusline auf der Jagd nach dem nächsten Job. Welcher wieder nur kurz währt und nährt. Viermal so viele Verträge müssen her, um das gleiche Arbeitspensum wie in den 80ern zu füllen. «Der Tänzer zahlt den Preis für diesen hyperflexiblen Arbeitsmarkt. Der Verschleiss ist gross», resümiert die Leiterin des Verbands für Neuorientierung Professioneller TänzerInnen (NPT) in Lausanne. Und von Amerika, Kanada bis zu den Niederlanden ist man sich einig: «Die ausgedienten Tänzer sind immer jünger. Gar unter dreissig.» Die Zwischenjobs der freien Tänzer, die das Arbeitsamt vermittelt, müssen flexibel sein und kurzfristig kündbar. Sie sollen jemanden wie Pierre ja nur vorübergehend über Wasser halten, bis zum nächsten Kunstprojekt. Während tänzerische Schritte im ganzen Land, aber auch das Reisen die Kräfte des kraftstrotzenden Tänzers aufbrauchen, der Spagat zwischen täglichem Training und Teilzeitjob schlaucht, muss er für jedes Projekt mit den scheinbar allgegenwärtigen Tänzern von Asien bis Amerika mithalten. Und vor allem mit der Jugend. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sein vorübergehender Job nicht mehr vorübergeht und ihm auf die Dauer einzig bleibt. Denn nicht-anerkannte Berufe wie Tanz führen rechtlich zu keiner Umschulung.
Kurz und schmerzhaft Und wie sehen die Glücklichen aus, die vom Sozialnetz aufgefangen die Frage gestellt bekommen: «Wollen sie nun einen richtigen Beruf lernen und Bürokauffrau werden?» Elaine Underwood ist so ein glücklicher Fall. Erstens war sie bei einer Institution fest angestellt. Sie tanzte als Solistin an der Bayerischen Oper, wo die Beiträge schön regelmässig abgeführt wurden, bevor sie einen Unfall erlitt. Zweitens lebte sie in Deutschland. Dort schaltete sich die Rentenanstalt ein, als sie stempeln ging. Anderthalb Jahre wird bei Berufsunfähigkeit umgeschult. In der Schweiz kriegt Geld nur, wer generell arbeitsunfähig ist, und zwar nur, wer das zu 100 Prozent ist. Für die Invalidenversicherung sind das Tänzer fast nie. Die Unfallversicherung wiederum wünscht sich eine klare Ursache, «eine plötzliche und schädigende Einwirkung eines äusseren Faktors», die den Tanz beendet. Elianes Ermüdungsfraktur zählte hier nicht. Die Schweizer Arbeitslosenkasse wiederum greift nur aus «arbeitsmarktrechtlichen Gründen» ein, das heisst, wenn ein Theater schliesst. Eliane hatte also Glück im Unglück. Das sagte sie sich auch, als die Berater ihr den Beruf Bürokauffrau schmackhaft machen wollten: «Kann vielleicht nix schaden, was anderes zu lernen, das Leben dauert ja länger.» Dann aber, während sie brav erst Ausbildung, dann Praktikum absolvierte, merkte sie: «Katastrophe. Paragraphen und Recht und kaufmännisches Rechnen.» Physiotherapeut wäre ihr mehr gelegen, aber das war finanziell nicht drin. Berufsberater sind wenig sensibilisiert für die Belange des Tänzerberufs, Auswertung von verwandten Interessen und Fähigkeiten. Deshalb sind sie auch heilfroh, wenn nun in Deutschland, Frankreich und der Schweiz Zentren für Tanz die Beratungsdienste an sich reissen.
Belange in fachlichen Händen Der Fachwelt (Tanzzentren und Künstlergewerkschaften) ist schon seit langem unwohl mit dem sang- und klanglosen Abtauchen professionneller Tänzer. An vier Orten, in New York, Kanada, den Niederlanden und Grossbritannien, packten Fachleute in den 70ern und 80ern an, um das Ende einer Laufbahn sachgerecht zu begleiten. Ab 1993 sollte unter der Schirmherrschaft der UNESCO, wohl zum Schutz kultureller Vielfalt, eine länderübergreifende Vereinigung den Abgang aus dem Tanzberuf verfolgen: die IOTPD (International Organisation for the Transition of Professional Dancers) in Lausanne. Auf seinem Symposium artikulierten erstmals öffentlich Betroffene, was sie am eigenen Tanzleib erfuhren und erkannten verblüffende Ähnlichkeiten trotz ihrer bunten Schicksale. Spezialisten unterschiedlichster Disziplinen beleuchteten Aspekte rund um das Kunsthandwerk, um in die Tiefe auszuloten, was der Zuschauer nur als erfrischende Spitze des Eisbergs kennt. Es wurde in einem gut lesbaren Handbuch festgehalten: Das Tänzerschicksal (1997). Diesem sollte nun eine wissenschaftliche Studie Profil geben. Niemand geringeres als das Forschungszentrum für Kunst und Kultur der Columbia-Universität in New York wurde im Jahr 2000 damit beauftragt. Und weil der Auftraggeber, die IOTPD, aus Lausanne kam, durfte die Schweiz neben Amerika und Australien im Blickpunkt stehen. Erstmals interessierten sich Wirtschaftswissenschaftler für den Tänzer als Humankapital und für seine eigentümliche Psychologie. Sie kamen zum Schluss, dass das disziplinierte, engagierte und zähe Humankapital neben den Transitionszentren auch Politiker und Sponsoren interessieren sollte.
Psychologie ist nicht wichtig um zu erfassen, was es heisst, Blumen der Anerkennung an der Bühnenpforte abzuholen und kurz darauf, nach fast unvermeidlichen Berufsverletzungen, an Krücken zum Stempeln zu hinken. Am Ende langer anonymer Gänge der Sozialämter von einem Nichtzuständigen zum anderen weitergereicht zu werden, da der Beruf Tänzer nirgends existiert und die Verletzung weder Unfall noch Behinderung genug ist. Psychologie ist wichtig, um zu erkennen, warum Ex-Tänzer seit einem Jahrhundert ohne grosses Erheben sich fügen, sich belasten und bewähren. Jede Studie hebt daher hervor, dass kein Rappen an ihnen vergeudet ist — obwohl bei weitem nicht klar sei: Was ausser der Rentabilität eine Umschulung eigentlich als geglückt kenntlich macht.
Welche Kriterien? Dass jeder innert Kürze arbeitet? Angesichts der geringen finanziellen Polster verwundert dies nicht. Dass zwei Drittel sich finanziell verbessern? Das ist keine Kunst. Dass sie endlich ein geregeltes Leben führen?
Die Suche nach dem massgeschneiderten Kriterium haben sich die Transitionszentren auf die Fahne geschrieben. Dabei stossen sie auf eine Lücke: Interessen mit höherem Ausbildungsanspruch kommen den ausgedienten Tänzern kaum über die Lippen. Sind die Tänzer zu dumm? Ein Psychologe versucht abzuwiegeln: Im Schnitt liegen sie über dem Schnitt. Aber das Mitteilen liegt ihnen nicht. Nicht verbal. Das belegen die Studien und wünschen mehr Raum für das Wort in der Ausbildung. Das ist das eine. Das andere ist die kritische Selbsteinschätzung der Betroffenen (wogegen es an sich nichts auszusetzen gibt). Sie führt bei ihnen zu Komplexen gegenüber Wortgewandten oder mit fliessenden Paragraphensätzen ausgestatteten Beratern. Sie schätzen Kommunikationsfähigkeit als vom Markt erwartete Tugend ein. Die sie sich nicht zutrauen. Das ist ein weiterer Grund, weshalb nur jeder fünfte Tänzer in der Schweiz an eine tertiäre Ausbildung denkt. Der letzte Grund für die Lücke ist die fehlende Matura.
Was macht die Schweiz? Die Schweiz versucht wie Deutschland auch, den vier Trendsetter-Ländern nachzuziehen. Sie legitimieren sich beide mit eigenen nationalen Studien. Beide tagen jahrelang um einen runden Tisch und leisten tatsächlich umfassende Pionierarbeit. Das Schweizer «Projekt Tanz» sei so einzig im Kunstbereich, dass es Modellcharakter habe. Bund, Kantone und Städte waren mit von der Partie, als vier Jahre lang Festivalkuratoren neben Tänzern, Pro-Helvetia-Leiter neben Tanzlehrern und Kulturjournalisten am runden Tisch sassen. Das Schlagwort zur Rettung des Schweizer Tanzes war Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit. So betrachtete man die gefährdete Kultursaat umfassend: Angefangen beim integrierten «Anbau», den gesundheitlichen und geistigen Spätschäden einseitiger Monokultur entgegenwirkend, über Anliegen des Faire Trade bei der Ernte und auf dem Markt, bis hin zur Entsorgung und dem Recycling. Als das Ergebnis, ein vierzigseitiges Dokument, im Sommer 2006 das Licht der Öffentlichkeit erblickte, jubelte die Presse: «Ein historischer Tag» (Le Temps).
Belange in finanziell gebundenen Händen Und was passierte seit diesem historischen Tag? So einiges: Die Kantone und der Dachverband des Tanzes erarbeiten ein duales Schulsystem. Kein Tänzer in spe soll die Allgemeinbildung zu früh aufgeben müssen. Man verschaffte dem zeitgenössischen Tanz einen eidgenössisch anerkannten BA-(Bachelor-of-Arts)-Studiengang in Zürich mit Beginn in diesem Herbst. Das wird vermeiden helfen, dass künftig Ex-Tänzer als unqualifizierte Arbeitskraft dastehen. Das Fach Tanzwissenschaft wurde in Bern am Institut für Theaterwissenschaften eingeführt. Das festigt die Stellung des Tanzes, wenn auch mangels Tanzwissenschaftlern Literatur- und Theaterwissenschaftler angestellt sind.
Und was wurde erreicht im Recycling? Beide Anlaufstellen für Tänzerumschulung (NDT und SBKV) in der Schweiz melden, dass sie nach wie vor aufgrund von privaten Stiftungen und Mitgliedsbeiträgen ihr kleines Budget verwalten. Da springen pro bewilligtem Gesuch kaum mehr als 3000 CHF im Jahr heraus (bei unter 20 Anträgen). Im Vergleich: «Projekt Tanz» sah den durchschnittlichen Bedarf bei jährlich 22 500 CHF pro Person. Zuzüglich Unterhaltskosten.
Bescheidenheit ist das Motto in der Westschweiz. Lausanne managte die Rekonversion 10 Jahre ehrenamtlich, seit einem Jahr gönnt man sich eine 60-Prozent-Stelle. Die investiert man in Fundraising.
Missmut hört man aus der Deutschschweiz. Denn unklar ist, was hinter den Kulissen der Regierung braut. «Projekt Tanz ist ein ausgearbeiteter Plan, der in den Schubladen staubt», mutmasst Rolf Simmen, Leiter der Umschulungsstiftung SBKV in Zürich, «und sollte wohl das Gewissen beruhigen.» Er war am runden Tisch dabei.
Deutschland zieht mit Im Nachbarland gehörten zur besorgten Fachwelt die Arbeitgeber. Die Ballett- und Tanztheaterdirektorenkonferenz BBTK gebar 1998 die «Arbeitsgruppe Transition». In der Version «AG Transition und soziale Aspekte» der SK-Tanz (Ständigen Konferenz Tanz e.V.), hat seit 2006 nun auch die freie Szene ein Wörtchen mitzutanzen. Der grosse Plan dieser AG heisst nationales Transitionszentrum. Er erhielt politische Rückendeckung durch die Enquete-Kommission und ihrer «Empfehlung an Bund und Länder, die Tänzer in der Transition durch Einrichtung einer entsprechenden Stiftung zu unterstützen.» Nachdem die letzten Jahre auf der Aktivseite der Aktivitätsbilanz Studien und hochrangig besetzte Workshops prangen, darf die Frage erlaubt sein, welches finanzielle Gegengewicht die öffentliche Hand künftig in die Waagschale werfen wird. Sabrina Sadowska, die Leiterin des Projekts, wiegelt ab. «Erst muss die Struktur stehen.» Und diese möglichst nach dem Vorbild der Leistungssportler, die über ein duales System ausgebildet und beschäftigt werden, während und nach der sportlichen Karriere in Olympiazentren betreut werden.
Bis eines der beiden Länder seiner eigenen Empfehlung folgt, kann eine Sonderleistung für Tänzer die Finanznot des Karriereknicks überbrücken helfen: Die jeweilige Künstlerversicherung, auf die beide Länder mit Recht Stolz sind, zahlt Tänzern die geleisteten Beiträge der Betriebsrente (2. Säule) auf Antrag mit Zinsen aus. Die Vorsorge inmitten des Lebens aufbrauchen? Diese Frage plagt auch Frau Sadowska. Wünschen wir den Tänzern eine ertragreiche Reinvestition, denn bei Wiedereinkauf bittet die Vorsorgeeinrichtung — Finanzkrise mit purzelnden Zinsen hin oder her — in Deutschland die Summe zurück, plus 6 Prozent…
Derweil seien die Politiker mit den Worten des UNESCO an ihre Pflichten gemahnt: «Die Verantwortung liegt bei den Regierungen, das Training der Künstler kontinuierlich zu finanzieren, seine Entwicklung zu fördern und die Umschulung von gewissen Künstlerkategorien wie die von professionellen Tänzern zu unterstützen.»
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2009