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Jugendromane von Jugendlichen

Von Christoph Simon — Die Sprachlosigkeit von soge­nan­nten lern- oder schreib­schwachen Jugendlichen zu durch­brechen – dieses Ziel ver­fol­gt der Schrift­steller Richard Reich mit dem Pro­jekt «Schul­haus­ro­man». Seit 2005 haben über dreis­sig Schulen fün­fund­dreis­sig Schul­haus­ro­mane erar­beit­et, mehrheitlich in Stadt und Kan­ton Zürich, aber auch in den Kan­to­nen Aar­gau, Bern und Basel. Im Laufe ein­er mehrmonati­gen Zusam­me­nar­beit mit Schrift­stel­lerin­nen und Schrift­stellern ver­fassen Ober­stufen­klassen Erzähltexte, die im Inter­net als «work in progress» ver­fol­gt und als Hefte bezo­gen wer­den kön­nen.
Während Suzanne Zah­nd in Rorschach oder Han­sjörg Scherten­leib in Affoltern am Albis eine Geschichte von der Grun­didee bis zum fer­ti­gen Text entwick­eln, reise ich als «Schreib­coach» wöchentlich nach Buchs ZH, um ein­er neun­ten Klasse im Schul­haus Peter­moos Erfol­gser­leb­nisse im Deutsch zu bescheren – ein Schul­fach, das für viele Schü­lerin­nen und Schüler von Ver­sagen­säng­sten und Nieder­la­gen geprägt ist.

Meine Klasse: Achtzehn Schü­lerin­nen und Schüler auf Lehrstel­len­suche. Ein gross­er Aushang im Klassen­z­im­mer gibt Auskun­ft über die Posi­tion im Ren­nver­lauf um eine Lehrstelle. Drei haben noch im alten Jahr ihre beru­fliche Zukun­ft gesichert, die anderen schnup­pern noch und bewer­ben sich. Der Lehrer übergibt mir die Tafel, den Pro­ki-Schreiber, den Blick auf die in Dreier­grup­pen geord­neten ange­hen­den Romanciers. Aber was für ein Pro­jekt ist das über­haupt, was uns die näch­sten Wochen gemein­sam beschäftigt? Ein erfreulich­es Schrei­bun­ternehmen mit Lit­er­aturhaus-Auftritt und Pub­lika­tion. Und was für eine Geschichte schreiben wir? Eine, in der Fig­uren etwas unbe­d­ingt wollen, aber Schwierigkeit­en haben, es zu bekom­men. Zum Beispiel eine Lehrstelle kriegen als Car­rossier beim Autoim­por­teur Amag in Buchs. Und schon wer­fen sich die Jugendlichen in dieses Aben­teuer, das lit­er­arisches Schreiben heisst. Zu gesam­melten Stich­wörtern entste­hen mögliche Roman­fig­uren. Amir entwick­elt «Tama­ra Dellsperg­er, wütend, mür­risch, Absagen». Drenushe beschreibt «Jas­min Eltschinger, Geschäft, zurück­zahlen, schlimm». Bald hat unsere Haupt­fig­ur einen Namen, einen Lebenslauf, ein Prob­lem: Rosan­na, eine sechzehn­jährige Schü­lerin, die nicht weiss, was aus ihr ein­mal wer­den soll. «Einen Beruf­swun­sch hat sie nicht, auss­er Tätowiererin oder ein­fach Punk Queen.» Rosan­na hängt in Buchs vor dem Coop herum, hört Emo­core und schaut sich mit ihrer Kol­le­gin J.Lo-Horrorfilme an. Glück­lich macht Rosan­na das alles nicht, am lieb­sten wäre sie ein ganz ander­er Men­sch. «Rosan­na fühlt sich ori­en­tierungs­los. Noch mehr, seit sie sich in Gün­ter aus der Par­al­lelk­lasse ver­liebt hat.»

Eine Her­aus­forderung für den Schreib­coach ist es, die Jugendlichen über Wochen bei der Stange zu hal­ten. Einen Roman zu schreiben ver­langt Konzen­tra­tion und Freude am Basteln und den Durch­hal­tewil­len eines Langstreck­en­läufers. Der Schreib­coach dient nicht nur als Sam­mel­beck­en von Ideen, als Verknüpfer und Hex­en­sup­pen­meis­ter, nicht sel­ten reduziert sich seine Rolle auf die Motivierung von Jugendlichen, die für ihre Ideen und Sätze gekämpft haben, und jet­zt, einen Monat später, sich ihrem Mate­r­i­al gegenüber völ­lig gle­ichgültig ver­hal­ten. Ich lasse in Grup­pen arbeit­en und verteile Spezialaufträge: Buletin soll sich eine unser­er Fig­uren her­aus­pick­en und diese mit seinem Hob­by – Mofas repari­eren – verknüpfen. Mehmet insze­niert einen Rap-Bat­tle. «Ele­na und Val­bona, über­legt euch, wie Sophie nach dem tödlichen Reitun­fall ihrer Schwest­er mit der Sit­u­a­tion umge­ht. Okay, sie ist trau­rig, aber muss sie sich deswe­gen tat­säch­lich unter den Zug wer­fen? Wer kön­nte ihr beis­te­hen?»

Ein Ziel des Schul­haus-Roman­pro­jek­ts ist es, Fig­uren und Geschicht­en zu kreieren, die nahe am Leben und Erleben der Jugendlichen sind. Die Schü­lerin­nen und Schüler merken, dass ihre Ideen und The­men von den Schreib­coach­es ernst genom­men wer­den. Sie erfahren, wie sich ihr Leben, ihre alltägliche Schul- und Freizei­tumge­bung in einen Text ver­wan­delt. In Schul­haus­ro­ma­nen wider­spiegelt sich die Lebenswelt heutiger Jugendlich­er.

Schul­haus­ro­mane: Erhältlich im Buch­han­del oder unter www.schulhausroman.ch

Artikel online veröffentlicht: 14. August 2018