Von Guy Huracek — Sibylle Hartmann wirkt gestresst. Vor einigen Tagen hörte sie mit Julia Maurer stundenlang Sounds von DJ Bobo, Kurt Cobain und Lady Di, suchte Kleider aus vergangen Zeiten heraus, sass tagelang hinter Büchern über Trends und Lifestyle. Und das alles weil die beiden Schauspielerinnen neidisch sind: «Unsere Eltern haben die 60er, und was haben wir?», fragt Sibylle, Julia fügt an: «Wir wollen auch eine konkrete Zeit. Wir wollen sagen können, das war unsere Zeit, unsere Musik, und solche scheusslichen Kleider haben wir getragen.»
Die Zwei wollen deshalb mit ihrem Theater «Wir Kinder der 90er» ein Jahrzehnt wieder ins Leben rufen. Doch was ist ausgerechnet an den 90ern so interessant? Sibylle bringt es auf den Punkt: «Diese verflixten 90er Jahre – haben die überhaupt einen Charakter? Die Zeit der Punks, Hippies, Popper und Yuppies ist vorbei. Was für ein identitätsloses Jahrzehnt! Ungreifbar!» Und genau diese verflixte, scheinbare Identiätslosigkeit finden Julia und Sibylle spannend. Das Stück «Wir Kinder der 90er» verstehen sie als eine kleine Zeitreise. Julia beschreibt das Theater folgendermassen: «Musik, Textfetzen und Zeitzeugen führen zurück zu diesem verrückten Jahrzehnt der endlos vielen Jugendszenen, der vielfältigen Musikstile, der Geburt der DJ-Kultur und, last but not least, dem Übergang zum nächsten Jahrtausend.» Und Sibylle erklärt «Wir Kinder der 90er» so: «Irgendwie riechen die 90er gar nicht mal so neutral, sondern an jeder Ecke anders. Man muss nur eine sehr gute Spürnase entwickeln, und schon kann man sich in den endlosen Gängen dieser Zeit mit Lust verirren.»
Vor einigen Monaten bereitete Sibylle Hartmann ein Theater für eine Hochzeit vor. Und so wurde das Duo Barbie Trash von der Schauspielerin und dem Pianisten Cyrill Mamin gegründet. Die Sängerin Sibylle und der Pianist covern Hits aus den Neunzigern, und dabei sind ureigene Versionen entstanden. Die Songs werden im Sinne des Zeitgeistes in ihren Genres gemischt. So kommt beispielsweise «Alles aus Liebe», die Punkballade der Toten Hosen, als Ragtime daher, und «Barbie Girl» von Aqua wird zum Jazzstandard. So werden aus vorhandenem Material neue Lieder kreiert, zusammengefügt, aus Formen gesprengt und in neue hineingepresst.
Wie reagierten die Zuschauer? «Die Publikumsreaktionen beim ersten Auftritt bestanden aus einer Mischung aus Nostalgie und lächelndem Kopfschütteln über die damaligen musikalischen Jugendsünden», so Sibylle. Sofort seien Gespräche entstanden über diese ungreifbare Zeit, die ersten Retortenbands, Super Mario, Selbstmorde nach Boygroup-Auflösungen, die Dehnung der Zeit durch 72 Stunden Raves, die Kunst des Sampelns etc. Die Idee für «Wir Kinder der 90er» war geboren. «Ich wollte gleich einen ganzen Abend gestalten», sagt Sibylle. Und als sie ihrer guten Freundin Julia von der Idee erzählte, hätten deren Augen gefunkelt.
Doch bis Sibylle Hartmann und Julia Maurer in der Berner Altstadt im ONO auf der Bühne stehen werden, gibt es noch einiges zu tun. «Wir haben mittlerweile sämtliches Material zusammen», sagt Julia. Aber die Aufführung ist schon in ein paar Wochen! Julia lacht laut heraus, und Sibylle sagt einfach: «Ja!». Das Drehbuch würden die beiden guten Freundinnen, die sich an der Schauspielschule Bern kennen gelernt haben, während dem Proben fortlaufend entwickeln. Das gesammelte Material wie Songs, Zitate aus Filmen etc. müsste getestet werden. «Wir sehen so, ob und wie wir einen Song oder auch eine Imitation einer Person aus den 90ern in unser Stück integrieren können», erklärt Julia. Es wäre kontraproduktiv, wochenlang zu üben, meint Sibel und sagt pointiert: «Wenn man sich zu lange auf etwas konzentriert, kann man sich darin verlieren.»
Das Theater «Wir Kinder der 90er» scheint wie ein Kind für die beiden Schauspielerinnen zu sein. «Wir haben alles selbst gemacht», sagt Sibel und Julia fällt ihr ins Wort: «Drehbuch, Regie, Schauspiel etc.»
Sollen mit «Wir Kinder der 90er» nur Leute mit einer Jugend in den 90ern angesprochen werden? Die Zwei schütteln fast synchron ihre Köpfe. «Wir haben kein Zielpublikum», so Sibylle. Mit ihrem Theater wollen sie Bernerinnen und Berner für ein Jahrzehnt begeistern, das erst bei genauerer Betrachtung interessant wird.
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2011