Von Barbara Balba Weber - Die neue Berner Bewegung mit grossem N: Wir leben in einer merkwürdigen Zeit. Die Freiheiten der westlichen Welt, für die frühere Generationen und teilweise auch noch wir selber gekämpft haben, scheinen heute vor allem für eines verwendet zu werden: für Erholungs- und Wellnessangebote aller Art. So als hätten wir uns mit dieser Freiheit eine Welt von Stress, Rohheit und Druck geschaffen, von der wir uns in der Freizeit nur noch erholen wollen oder müssen.
Und da nerven die differenzierenden Töne der Neuen Musik: Komplexe Harmonien jenseits von Dur&Moll, unregelmässige Rhythmen, kein meditativer Wohlklang über allem, und auch ans Mitsingen ist nicht unbedingt zu denken. Schwer einzuordnen sind auch die Protagonisten der Neuen Musik: faszinierende Einzelfiguren, intellektuelle Interessensgemeinschaften, Nerds, Spezialistinnen, die laufend allgemeingültige Codes hinterfragen und neue persönliche Regeln aufstellen. Leute, die mit ihren Werken die Gesellschaft und das Zeitgeschehen kommentieren und jeden Konzertbesuch zum Risiko machen.
Als wahlweise elitär oder als Bürgerschreck wurden sie schon immer bezeichnet, die Vertreterinnen und Vertreter der Neuen Musik. Das war früher irgendwie sexy. Auch die Tatsache, dass die Neue Musik von faschistischen und sozialistischen Diktatoren als erstes verboten und über Jahrzehnte hinweg verfolgt wurde, verhalf ihr bis vor kurzem zu einem Ruf des Mutig-Widerständigen. In der neuen Wellness-Ära sind solche Assoziationen bloss noch lästig. Heute erleben wir immer mehr Zeitgenossen, die ihre kulturelle Bildung zwar stolz ans Revers stecken, aber wie Rohrspatzen auf die Neue Musik runterpfeifen, wobei sie pauschal die Serialisten, Bruitistinnen, Spektralisten, Mikrotöner, Minimalistinnen, Elektroniker, Improvisatorinnen und wie die verschiedenen Richtungen der Neuen Musik alle heissen, in den gleichen mal «intellektuellen», mal «akademischen» Topf werfen. Zu solcher Musik kann man weder dampfbaden, Muskeln aufbauen noch cool aussehen oder geistreiche Sprüche klopfen. Also nervt sie und also streicht man ihr am liebsten gleich auch die Subventionen, auch wenn es sich dabei nur um verschwindend kleine Summen handelt.
Immer mehr wird heute alles unter den zweckorientierten Gesetzen des Marktes betrachtet. Was sich nicht verkaufen oder in Geld verwandeln lässt, ist wertlos. Das kann sogar sensationelle Entdeckung betreffen, z.B. jene des Higgs-Teilchens. Die verantwortlichen Physiker mussten vor allem eines immer und immer wieder rechtfertigen: nämlich, weshalb man für die Entdeckung eines Teilchens, mit dem man keine Maschine, keinen Sportplatz und kein künstliches Hüftgelenk bauen kann, überhaupt Millionen von Steuergeldern verschwendet habe.
Neue Musik beansprucht zwar nicht Millionen, aber sie ist Grundlagenforschung im künstlerisch-musikalischen Bereich. So beeinflussten beispielsweise Komponisten wie Stockhausen & Co. durch ihre Entwicklungen in der elektronischen Musik die gesamte Populärmusik nach 1950. Ebensolches leisteten Lachenmann & Co mit der revolutionären Emanzipation des Geräuschs zu einem legitimen Klangmaterial. Cage & Co wiederum stellten mit dem Zufall unsere Welt der logischen Entscheidungen auf den Kopf, usw. Und weil Neue Musik Forschung bedeutet, gehört zu ihr auch das Scheitern, der Umweg, das Risiko. Vor allem aber als erstes: die Erfahrung des Nicht-Verstehens. Die Philosophin Simone Mahrenholz sieht darin die eigentliche Kreativität der Neuen Musik: «Nicht-Verstehen im ersten Moment ist die Bedingung dafür, überhaupt tieferes Interesse auszubilden, unsere Hör- und Denk-Kategorien zu erweitern und uns über sie hinauszuführen. Wir wollen, dass Musik uns nicht so lässt, wie wir waren.» Die Wellness- und Erholungsangebote unserer Zeit sind in diesem Punkt das genaue Gegenteil: Sie gaukeln uns vor, wieder das zu sein, was wir mal waren. Es sind Zeitstopper.
Die Neue Musik will die Zeit gestalten, neue Erfahrungen ermöglichen, neue Zeiten schaffen. Deshalb braucht auch die Neue Musik wie die Forschung öffentliches Geld, weil ihre Werte die Gesellschaft als Ganzes weiterbringen und sie wegen ihres hohen Spezialisierungsgrads auch teuer sein kann. Dafür braucht es ein starkes Konzept, das auch gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit verteidigt und legitimiert werden kann und muss! Denn den Linken ist die Neue Musik zu elitär und zu wenig basis-orientiert, den Bürgerlichen zu wenig repräsentativ und zu wenig rentabel, den Rechten zu fremd und zu wenig volkstümlich. Damit die Neue Musik heute im überall und permanent gleichförmig plätschernden Mainstream überhaupt wahrgenommen wird, braucht sie deshalb auch Vermittlung und mutige Stimmen, die sich für sie stark machen.
Und wo ist denn in Bern diese Neue Musik? Wo kann ich ein Konzert mit integriertem Risiko besuchen? Wer in der kleinen Bundeshauptstadt sind diese spezialisierten Nerds und Bürgerschrecks? Die tolle Clique aus den 60er-Jahren um Heinz Holliger, Roland Moser, Klaus Huber, Jürg Wyttenbach und vielen mehr? Schon vor Jahrzehnten ausgewandert! Urs Peter Schneider feiert in Biel im Freundeskreis seinen 75.Geburtstag und wird dort vielleicht auf den hier noch weniger präsenten 90. Geburtstag von Klaus Huber anstossen, der kürzlich den grössten Musikpreis der Gegenwart im fernen Ausland erhalten hat. Bei der mittleren Generation fristen diejenigen, die nicht nach Berlin, Wien oder New York gezogen sind, weit verstreut und vereinzelt, ohne Zusammenhalt oder grössere Community irgendwo unbeachtet ihr bescheidenes und unterbezahltes Dasein, oder tauschen auf «wemakeit» mit ihren Kolleginnen und Kollegen Fünfliber aus, um doch noch innovative Projekte realisieren zu können. Und die junge Generation, die an der Hochschule gerade beste Ausbildungen erhalten hat? Die vielen Tüftler und Erfinderinnen, Laptopler und Instrumentalistinnen, elektronischen und traditionellen Komponisten und Musiktheaterleute, die sich an den Grenzen von diversen Musikgenres und Kunstsparten bewegen? Wie schlagen sie sich mit ihren experimentellen Konzepten durchs Leben, und wo bekommt man sie zu Gesicht? In Bern? Sicher nicht.
Halt! Doch!! Denn jetzt gibt es Bewegung in dieser Szene: Mit dem gross geschriebenen N! In Bern entsteht gerade jetzt ein Netzwerk, das alle Neue-Musik-Akteure und zugewandten Orte vereint, in dem alle von jung bis alt zusammen arbeiten, Pressekonferenzen abhalten, gemeinsame Festivals veranstalten, internationalen Austausch pflegen, ihre Programme koordinieren, einen starken Aussenauftritt, ein wirksames Vermittlungskonzept für verschiedenste Zielgruppen haben, Ausschreibungen und Wettbewerbe durchführen, Preise vergeben, junge Musiker fördern, Gastaufenthalte vergeben, Workshops und Tagungen veranstalten, öffentliche Diskurse führen, in die Schulen gehen, in den Medien auftreten, mit den Politikern sprechen, in alle möglichen Institutionen innovative Ideen einbringen, einen neuen Ort für Neue Musik suchen und kreieren, Publikationen veröffentlichen, die Bevölkerung in Projekte einbinden, Kompositionsaufträge vergeben, mit anderen Veranstaltern gemeinsame Projekte lancieren, interdisziplinäre Events durchführen, international ausstrahlen, eventuell sogar als «Berner Bewegung» in die Geschichte eingehen und entsprechend Touristen anlocken werden.
Diese Sache heisst «Netzwerk Neue Musik Bern». Und dafür brauchen wir die Unterstützung von der ganzen Stadt. Denn wir haben gerade erst angefangen. Und wir wollen wachsen und zu dem werden, was in diese Stadt die Musik mit grossem N zurückbringt: ein Netzwerk aus allen Berner Komponisten, Instrumentalistinnen, Studierenden, Musikologinnen, Veranstaltern und Vermittlerinnen der Neuen Musik.
RAUS AUS DEM SCHLAMMBAD!!
ZIEHT MIT!
«Netzwerk Neue Musik Bern»
Der Anfang eines Berner Netzwerks
für ein grosses N
IGNM
Die Ortsgruppe der Internationale Gesellschaft für Neue Musik mit nationaler und
internationaler Verbindung.
ignm-bern.ch, www.iscm-switzerland.ch,
www.iscm.org
WIM
Laboratorium für neue zeitgenössische
Musik im Bereich der freien Improvisation
www.wimbern.ch
ZOOM IN
Festival für improvisierte Musik
www.zoominfestival.ch
Tönstör
Vermittlung Neuer Musik an Kinder
und Jugendliche
www.toenstoer.ch
facebook: Neue-Musik-Bern
Foto: zVg.
ensuite, März 2014