Von Peter J. Betts — «Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an, / Und die Hunde knurren um den alten Mann. / Und er lässt es gehen, alles wie es will», so lauten drei Zeilen aus dem letzten Lied von Schuberts «Winterreise». Der Titel: «Der Leiermann», und den Text hat Wilhelm Müller (genannt Griechen-Müller) geschrieben. Der Dichter hat als Freiwilliger an den Befreiungskriegen teilgenommen und starb vierunddreissigjährig 1827. Das herzzerreissende Lied setzt sich mit einer Gesellschaft auseinander, die, kurz charakterisiert, zur Empathie unfähig ist. Sie denken an das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts? Sie sind gebildet. Im Text geht es um einen Randständigen, der barfuss auf dem Eis am Leierkasten dreht, auch wenn sein kleiner Teller immer leer bleibt; dieser Randständige wird durch einen randständigen Sänger eingeladen, zusammenzuspannen. Beide werden ungehört und übersehen bleiben. Mit der Zeit wurde das Lied selber aber durchaus gehört: in Salons, in Konzertsälen, es liegt in Diskotheken und Plattensammlungen auf, und heute habe ich es mit einer originellen Begleitung durch ein kanadisches Bläserensemble am Radio gehört. Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore haben uns zusammen sehr eindrückliche Interpretationen hinterlassen. Andere auch. Kulturerbe: gepflegt. Im Bahnhof Bern finden sich keine Bettlerinnen oder Bettler. Der Fluss der Eilenden repräsentiert eine Gesellschaft, in der es jeder und jedem einzelnen gut geht: Einzeln fotografiert, zeigen sie alle zähnefletschendes Lächeln. Das entblösste Gebiss deutet nicht nur auf Aggression hin. Die u.a. fotografischen Kosmetikvorschriften haben uns schon längst das Lesen natürlicher Zeichen unzugänglich gemacht. Haltung, bitte schön. Auch nach dem kleinen Rückschlag der UBS und den unstetig, aber stets ansteigenden Krankenkassenprämien, der zunehmenden Menge Arbeitsloser, der Zwang der Spekulierenden, nach neuen Jagdgründen zu suchen, den nachlassenden Exportzahlen der Metallbranche. In der Laube unter dem Käfigturm sitzen am Eingang links und rechts am Samstag während des Einkaufwettrennens je ein altersloser Mann auf einem Stühlchen. Auf ihrem Plakätchen steht: «Wir sammeln für die Gassenküche». Keiner mag sie hören, keiner sieht sie an. Am Radio hat kürzlich ein Neurobiologe erklärt, warum gerade auch bei jüngeren Menschen die Fähigkeit zur Empathie abnimmt. Durch vorgeburtliche und frühkindliche Traumata entstünden u.a. mess- und nachweisbare Veränderungen in den jungen Gehirnen, die offenbar für alle Zeiten Unfähigkeit zur Empathie zementierten. So erklärten sich nicht nur die Lust, mit groben Schuhen so lange nach liegenden Opfern zu treten, bis sie tot oder lebenslänglich behindert seien, sondern es erkläre auch, warum zahllose Menschen in Managementpositionen, ohne Rücksicht auf jegliche Verluste anderer, sich selbst bereicherten. Was muss also den gewissenlosen Spitzenmagern (und den vereinzelten Spitzenmanagerinnen) in ihren Mutterbäuchen oder kurz nach der Geburt zugestossen sein? Auch ich begreife, dass, wenn man bis ein paar Tage vor der Geburt unter Vollstress arbeiten muss, wenig Zeit, Musse, Zuwendungsmöglichkeit auf das im Bauch wachsende Kind mobilisiert werden können. Nein, ich bin nicht dagegen, dass Frauen im Erwerbsleben eine entscheidende Rolle spielen, im Gegenteil; aber vielleicht müsste nach kindförderlichen Möglichkeiten bei Zusammenarbeitsformen gesucht werden? Nach kindförderlicher Zusammenarbeit in der Gesellschaft überhaupt? In unserer Gesellschaft gäbe es doch Möglichkeiten dazu, wenn nicht alle, Männlein und Weiblein und möglichst früh schon Kindlein dem allen physikalischen Prinzipien spottenden Mehr, Mehr, Mehr nachhechelten? Anderseits: Einem Grossteil der Bevölkerung Deutschlands muss von 1933 bis 1945 zunehmend jegliche Empathie völlig abhanden gekommen sein. Wie erklärte sich sonst das von fast allen mitgetragene Morden an Millionen von Menschen in den KZs? Es kann sich bei diesem Gewissensmangel nicht nur um die Bösen in Deutschland gehandelt haben. Es hat sicher vor allem auch bei den Guten funktioniert. Das macht Angst. Was ist in Deutschland nach dem Zusammenbruch 1945 abgelaufen? Und 1929: global? Wann hat die Kreativität in Destruktion umgeschlagen? Warum? Und was eigentlich ermöglicht die globalisierte Ausbeutung heute, von uns allen mitgetragen? Wenn man still die hetzenden Ströme im Bahnhof Bern, unbehindert durch Bettlerinnen und Bettler, beobachtet; wenn man das durchstrukturierte, zahlenmässig stetig abnehmende Pflegepersonal in Spitälern erlebt, alle politisch korrekt, freundlich die entblössten Zähne bleckend, ungeheuer effizient und bis zum Brechen unter Druck; wenn man das Publikum beim Laubenbogen am Käfigturm an den beiden Männern, die für die Gassenküche sammeln, vorbeiströmen sieht, kommt einem vor allem unsere Unfähigkeit zu Empathie in den Sinn. Anderseits: In München gab es zum Beispiel bereits 1946 (bis 1949) «die Schaubude»; mitten im Trümmerfeld des Landes entstand ein Kabarett, das Tausende von Verzweifelten, Mut- und Perspektivelosen besuchten; zeitkritische Kunst, Kunst als Motor zu Selbstkritik, als Ansporn, im Interesse aller kreativ zu werden, die Menschlichkeit wieder zu entdecken. Empathie im Verbund mit Vernunft. Schriftsteller mit Berufsverbot während der Nazizeit, andere, die emigriert und zum Wiederaufbau zurückgekehrt waren, hochkarätige Künstlerinnen und Künstler verwendeten Geist als unverzichtbaren Rohstoff gegen das Chaos. Der «Pinguin», eine Kinderzeitschrift, wurde gegründet und im Rowohlt Verlag herausgegeben («Pinguin ist mein Name… Ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist… Ich lache, wie es mir gefällt… Ich will euch begeistern für all das, was wir selber tun können, um uns selbst ein besseres Leben zu schaffen…»). Von der Destruktion zur Kreation. Damals ein langer Weg. Und dann kam das Wirtschaftswunder. Und heute? Den Blick starr auf den Bildschirm fixiert, im Ohr das akustische Individualprogramm: effiziente Vorstudien zum Autismus. Und dabei, glaube ich, dass Kinder noch immer kreativ wären. Ich klaue Kästner eine Idee. Erich Kästner, eine zentrale Kraft in jenem existentiellen geistigen Aufbau in den Nachkriegsjahren in Deutschland, plädiert (damals…) erfolglos für eine geniale Idee: ein Projekt zur Errichtung ständiger Kindertheater («Die Klassiker stehen Pate», Oktober 1946, «Neue Zeitung»). In festen Häusern spielen Kinder für Kinder, einmal als Zuschauende, einmal als Schreibende, Spielende, Regieführende, Bühnenbildmalende, und all das in Zusammenarbeit mit hervorragenden Künstlerinnen und Künstlern, die einen glaubwürdigen Zugang zu Kindern haben und anständig bezahlt werden. Das Theater: Drehscheibe der Kultur. Wie finanzieren? Eben: Oft gespielte Autoren und Autorinnen, für deren Stücke, fünfzig Jahre nach ihrem Tod, keine Tantiemen bezahlt werden müssen und wohl nicht zuletzt deshalb bei Theaterleitungen beliebt sind, werden wieder tantiemenpflichtig. So würden Sophokles, Shakespeare, Molière, Büchner und so weiter und so fort eben zu Paten… Vielleicht würde, da ja eh Tantiemen bezahlt werden müssen, sogar gelegentlich mit zeitgenössischen DamatikerInnen zusammengearbeitet: ein schönes Nebenergebnis. Die Plüschpaläste und deren hehre Besucherschaft bekämen endlich wieder existentiellen Sinn. Lächeln ohne Zähnefletschen? Ein Beitrag, die Fähigkeit zur Empathie in unserer Gesellschaft wieder zu entdecken? Warum nicht angesichts der keineswegs unproblematischen Gegenwartssituation HEUTE DIE VERANTWORTUNG FÜR MORGEN ÜBERNEHMEN?
ensuite, Dezember 2009