Von Tobias Lambrecht — Auf einer Aare-Insel beginnt seine Karriere als Schriftsteller. In Thun will er Bauer werden, dann die abendländische Dramatik neu erfinden. Und er ist ganz begeistert von einem «Mädeli».
Man stelle es sich vor wie ein heutiges Bewerbungsgespräch. 1804: Links Heinrich von Kleist, bemüht um eine Arbeitsstelle. Rechts der preussische Generaladjutant von Köckeritz, bemüht um eine höfliche Absage. Ersterer möchte eine Stelle als Diplomat, letzterer teilt ihm eindeutig und überdeutlich mit, dass damit kaum zu rechnen sei. Der Studienabbrecher Kleist habe schliesslich «das Militair verlassen, dem Civil den Rücken gekehrt, das Ausland durchstreift, sich in der Schweiz ankaufen wollen, sich unter Preussens Hauptfeind Napoleon zu dessen Krieg gegen England einschiffen wollen, &, &, &» – das ist in der Tat ein verheerender Leistungsausweis. Trotz der jahrelangen aktiven Weigerung, ein Amt zu bekleiden, bettelt Kleist noch wochenlang um den Posten. Wie war der künftige Weltliterat in diese Lage gekommen?
Kleist sucht Bäuerin Knapp drei Jahre zuvor: Kleist verlässt 1801 Paris («ekelhaft»), um über Basel («man könnte fast sagen: öde») ins Berner Oberland («die Natur ist hier mit Geist gearbeitet») zu gelangen. Schon in Paris beginnt er von einem «grünen Häuschen» zu träumen, und kokettiert gegenüber seiner Noch-Verlobten Wilhelmine von Zenge damit, eine «Art von verunglücktem Genie» zu sein. Die Beziehung bröckelt: Heinrich flüchtet einen Amtsantritt, die Mindestanforderung für die Heirat, und will jetzt im Gegenzug die Generalstochter aus Norddeutschland auf die Alm überführen.
Die Familie Kleist gehörte zum verarmten Adel. Kleist war es verboten, bürgerliche Berufe auszuüben. Eine Militärlaufbahn war der notwendige Normalfall. Heinrichs Ausstieg aus dem Brotberuf, seine nur zwischenzeitliche Begeisterung für die Wissenschaft («Ich glaube, daß Newton an dem Busen eines Mädchens nichts anders sah, als seine krumme Linie …»), sowie die ausgedehnten Europareisen ohne karrierefördernde Zwecke sorgten daheim nicht für Begeisterung. Kurz: Heinrich von Kleist war das, was man eine richtig schlechte Partie nennt.
In Thun also bereitet Heinrich die Braut auf seinen Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft vor: «Ich will im eigentlichsten Verstande ein Bauer werden, mit einem etwas wohlklingenderen Worte, ein Landmann.» Zuerst ist ihr Einverständnis noch Bedingung für die Erfüllung seines Plans. Als sie ablehnt, dreht Heinrich den Spiess um: Wilhelmines Einverständnis wird wiederum Bedingung – zur Aufrechterhaltung der Verlobung. Einen Brief später ist die Beziehung beendet.
Idylle Thun? Seine schwärmerischen Landschaftsbeschreibungen, die zurückgezogene Lebensweise und die Tatsache, dass er nach langer Anlaufphase hier mit dem Schreiben ernst macht, lassen Kleists mehrmonatigen Aufenthalt in Thun in der Auffassung der Forschung oft zur Lebens-idylle werden. Ein von Heinrich so genanntes «Mädeli» macht das Bild des trauten Urzustandes auf der Insel perfekt: «Mit der Sonne stehn wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu Euch.» Mit Arbeit meint Heinrich hier schon die Schriftstellerei, ohne dies in seinen Briefen je explizit zu klären. Und arbeiten muss er, denn ohne jegliche Leistung kann er der preussischen Verwandtschaft nicht mehr unter die Augen treten. Das «Mädeli» aber, das der Forschung einerseits Anlass zu Spekulationen über mögliche Mutterschaft gab – ja, allerhand: Kleist-Gene im Berner Oberland –, und andererseits regelmässig zur Erfindung erklärt wird, war zumindest in den Briefen ein unabdingbarer Bestandteil der bukolischen Zustände, die Kleist als Hintergrund für seinen literarischen Arbeitseinstand herbeischreibt. Auch sie ist ein Zeugnis, dass Kleists Streben nach dem Bauerntum wohl eine etwas papierne, wesentlich von Rousseaus Naturzustand-Philosophie beeinflusste Idee war.
Man darf sich den Blick auf Kleist jedoch nicht durch romantische Idealisierung verstellen lassen: In Kleists späteren Texten spritzen Kindergehirne gegen Kirchenmauern, werden ohnmächtige Frauen von astreinen Helden vergewaltigt, und griechische Mythen komplett umgeschrieben (damit Penthesilea ihren Achilles bei lebendigem Leibe verspeisen kann). Auch in der in Thun entstandenen Familie Schroffenstein werden Eltern versehentlich zu Mördern ihrer Kinder. Kleists eremitenhafter Rückzug war kein Ausflug in weltfernes Grüblertum. Neben Kleists notorischer Unzufriedenheit über den Status Quo verhindert dann auch die drastische politische Lage – die Schweiz steht kurz vor einem Bürgerkrieg, Ende 1802 werden aufständische Föderalisten u.a. Bern und Zürich beschiessen – die Ansiedlung in der Schweiz.
Aussteiger, Querschläger, Spätzünder Kleists Suche nach Berufung statt Beruf und der Zwischenstopp auf der Aare-Insel bedienen das Klischee des einsamen Künstlers nur oberflächlich. Es ist bequem, Kleists Radikalität in bekannte Muster der «Künstlerbiographie» zu übersetzen. Aus heutiger Sicht tat er zwar etwas Selbstverständliches: Er unternahm den Versuch, einer Tätigkeit nachzugehen, mit der er aus eigenem Antrieb – ausserhalb sozialer Zwänge – zufrieden sein konnte. Individualismus eben, das westlich-moderne Modell. Kleists wunder Punkt: er machte sich zum Opfer der Multi-Options-Gesellschaft, lange bevor es diese gab. Sein Selbstmord vor 200 Jahren war der Preis für das Verlassen vorgespurter Bahnen und die Eröffnung neuer Lebenswege. Thun darf tatsächlich als die Initialzündung eines der heissesten (ver)glühenden Köpfe der Weltliteratur gelten: Kleist erprobte in Thun das Aussteigermodell – heute sogar für Rainer Langhans nur noch im Dschungel-Camp zu haben – und scheiterte auf ganzer Linie. Sein Eskapismus wurde hier nicht befriedigt, aber in die entscheidende, die literarische Richtung gelenkt. Und deshalb darf man getrost gratulieren, wenn das ‘obere Inselchen’ in Thun per 2011 offiziell zur ‘Kleist-Insel’ umgetauft wird, und es mit Recht heisst: Kleist in Thun.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2011