Von Philipp Kohler - Neue Web-Doku zu Eugen Gomringer: In den frühen 50er Jahren arbeitete Eugen Gomringer an der Ulmer Hochschule für Gestaltung als Sekretär von Max Bill. Der intensive Austausch mit Bills Werk und dessen Theorien regte den damals frischgebackenen Nationalökonomen und Kunsthistoriker mit schweizerisch-bolivianischen Wurzeln zu einer Variation der Konkreten Kunst an. Das Konkrete, so Gomringers unbescheidener Ansatz, hat sich nicht nur auf die bildende und angewandte Kunst zu beschränken, sondern soll sich auch in der Sprache niederschlagen. Doch wie sollte eine literarische Form des Konkretismus aussehen? Gomringers Vorschlag bestand darin, dem Wort nicht nur die Funktion eines Bedeutungsträgers zu geben, sondern es gleichsam zum Gestaltungselement werden zu lassen. 1953 publizierte er, 28 jährig, unter dem Titel «konstellationen constellations constelaciones» seinen ersten Lyrikband, in welchem er dem Konzept sogleich die Spielregeln einverleibte. Eine minimale Anzahl an Wörtern ist so anzuordnen, dass sich Semantik und Konstellation miteinander verbinden lassen. Wortbilder also, denen wie etwa bei «KI§ING» auf spielerische Weise eine tiefere Bedeutung zu entlocken ist. Das Konzept der «Konkreten Poesie» war geboren.
Seit der Zeit als Sekretär von Max Bill sind viele Jahre vergangen und die Biographie des 1925 geborenen Eugen Gomringer ist um einige Ehrentitel und Berufe reicher geworden. Er war Werber, Sekretär des schweizerischen Werkbundes, Professor für Theorie der Ästhetik an der staatlichen Kunstakademie Düsseldorf und Gastprofessor für Poetik an den Universitäten Bamberg, Arkansas, Los Angeles, São Paulo und Bolivien. 2000 gründete er das «institut für konstruktive kunst und konkrete poesie» (ikkp) in Rehau, wo er mit seiner Frau Nortrut auch lebt und eine Familie gründete. Für seine Verdienste wurde er mehrfach ausgezeichnet: 1997 mit dem Kulturpreis der Stadt Rehau, 2008 mit dem Bayerischen Verdienstorden und 2009 mit dem Rilke-Preis in der Kategorie deutschsprachige Dichtung. Eines war Eugen Gomringer aber während all der Jahre immer geblieben, nämlich der «Vater der Konkreten Poesie». Noch immer hält er Lesungen darüber und verblüfft sein Publikum mit den komplexen Wortkonstruktionen auf ausgesprochen erfrischende Weise. Letztmals in der Schweiz eröffnete er diesen Februar die Ausstellung «Poetry will be Made by All!» im Zürcher Löwenbräu-Areal, die eine Begegnungsstätte neuer und alter Poesie sein will.
Selbst online ist Gomringer heute präsent. Seit kurzem hat er eine Homepage. Diese befördert sein Werk nun sozusagen ins digitale Zeitalter. Und damit ist nicht gemeint, dass seine Poesie nun bloss digital archiviert wäre. Vielmehr hat sich Gomringer für ein Web-Projekt des jungen Medienproduzenten Nils Menrad gewinnen lassen, welches seinen Anforderungen an Innovation, Intellekt und Unterhaltung gleichermassen entspricht. Und das funktioniert gemäss der Homepage eigener Anleitung so: Wer es auf die Landingpage geschafft hat, startet mit der Eingabe eines x‑beliebigen Wortes einen Filmgenerator. Mit zunehmender Eingabe von weiteren Wörtern entsteht eine Biografie aus Video‑, Bild- und Textmaterial über und von Eugen Gomringer. Nicht chronologisch sondern enzyklopädisch.
Zu sehen gibt es Professor Gomringer bei sich zu Hause, in seiner Bibliothek, bei der Zeitungslektüre oder im Kreise seiner Familie. Das alleine ist noch nichts Besonderes. Das Gesagte, die stilvollen Filmaufnahmen und die nahe Kameraführung vermitteln jedoch bei allem Fachwissen einen dermassen privaten Eindruck, dass man sich sogleich bei Gomringers zu Hause fühlt. Das verleitet zu endlosem Verweilen. Gibt man zum Beispiel das Wort «Z E I T» ein, so findet man sich nach Klick auf den Buchstaben «T» in Gomringers Typographie-Archiv, wo er zu spontan herausgegriffenen Werken referiert und deren Bezug zu seinem eigenen Leben herstellt. Wem dies zu theoretisch ist, der kann weiter «K U N S T» eingeben, und unter «U» einen Beitrag sehen, in welchem Gomringer den berühmten «Bill-Hocker» erklärt, der eigentlich als Mensa-Stuhl für die Uni Ulm gedacht war. Überhaupt zieht sich Max Bill wie ein roter Faden durch Gomringers Biographie. So erfährt man weiter unter dem Wort «A R B E I T» bei «B» vom im Rowolt-Verlag erschienenen preisgekrönten Buch «Worte sind Schatten», in welchem Max Bill Gomringers konkrete Gedichte illustrierte. Und beim Buchstaben «E» erzählt seine Frau Nortrud, wie sie eben ein Bild von Max Bill bei einer Verlosung im Kunsthaus Zürich gewonnen habe. Stolz wird dieses dem Web-User im Wohnungs-Flur präsentiert. Nortrud Gomringer ist allerdings ein Kapitel für sich. Vielleicht sogar das beste in der ganzen Web-Dokumentation. Wo immer sie zu sehen ist, zeigt sich denn in charmanter Weise einmal mehr, dass hinter manch einem starken Mann eine noch stärkere Frau steht und dass selbst dem «Vater der konkreten Poesie» konkrete Grenzen gesetzt sind. Wer davon einen Eindruck bekommen möchte, ist herzlich eingeladen das Wort «L I E B E» einzugeben und unter «E» nachzuschauen.
Foto: zVg.
ensuite, April 2014