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Kopfüber in die Berge

Von Anna Vogel­sang - Baselitz bei Ernst Lud­wig Kirch­n­er: Wann haben Sie sich beim Betra­cht­en eines Kunst­werkes zum let­zten Mal provoziert gefühlt? Wer glaubt, schon alles erlebt und gese­hen zu haben, dem emp­fiehlt sich eine Reise nach Davos, um sich so richtig den Kopf durchzulüften – und «Kopfüber» auf die Welt zu guck­en.

Gewöhn­lich fahren wir in die Berge um Ski zu fahren, oder uns in Klausur in ein­er Berghütte einzuschliessen. Dies­mal geht es auf 1’560 Meter Höhe, um in dem wohl höch­st­gele­ge­nen Kun­st­mu­se­um von Europa der Vernissage beizu­wohnen: Das Kirch­n­er Muse­um in Davos lud zur Eröff­nung von «Georg Baselitz. Besuch bei Ernst Lud­wig» ein.

1917 fuhr der damals 37-jährige Ernst Lud­wig Kirch­n­er (1880 – 1938) nach einem Zusam­men­bruch und vie­len Klinikaufen­thal­ten in Deutsch­land nach Davos, Heilung suchend seine Dämo­nen zu bekämpfen. Er blieb dort bis zu seinem Selb­st­mord 1938. Kun­sthändler Roman Nor­bert Ket­ter­er grün­dete 1982 eine Stiftung mit dem Ziel, «das Gedenken an Kirch­n­er und die Erhal­tung seines Werkes in der Öffentlichkeit zu pfle­gen». Um dies zu real­isieren, wurde 1992 das Kirch­n­er Muse­um Davos eröffnet. Das Gebäude von den Architek­ten Annette Gigon und Mike Guy­er stellt eine per­fek­te Sym­biose von Ästhetik und Funk­tion­al­ität dar. Die min­i­mal­is­tis­che, klare Architek­tur ist eigen­ständig, aber in kein­er Weise dom­i­nant. Sie ist mod­ern und zeit­los zugle­ich. Die grosszügi­gen Räum­lichkeit­en bieten ide­ale Büh­nen, die sich der Kun­st anpassen ohne abzu­lenken.

Dank der grosszügi­gen Schenkun­gen des Ehep­aares Rose­marie und Roman Nor­bert Ket­ter­er, der Fam­i­lien­s­tiftung Ben­venu­ta, Schenkun­gen aus Gemeinde- und Pri­vatbe­sitzen, ver­fügt heute die Ernst Lud­wig Kirch­n­er Stiftung Davos über die weltweit grösste Samm­lung von Werken aus allen Schaf­fenspe­ri­o­den des «tragis­chen Anti­helden des deutschen Expres­sion­is­mus» (Ein­führungsrede von Prof. Mag. Dr. Anselm Wag­n­er, Vor­stand des Insti­tuts für Architek­tur­the­o­rie, Kun­st- und Kul­tur­wis­senschaften, Tech­nis­che Uni­ver­sität Graz). Zwei bis drei Ausstel­lun­gen wer­den pro Jahr gezeigt. Dabei wer­den nicht nur Werke von Kirch­n­er, son­dern auch von anderen deutschen Expres­sion­is­ten oder Kün­stlern gezeigt, deren Arbeit sich auf Kirch­n­er oder den Expres­sion­is­mus beziehen.

Es gibt einiges, was Kirch­n­er und Baselitz verbindet. Sowohl Kirch­n­er als auch Baselitz gel­ten als Expres­sion­is­ten, und bei­de haben diese Beze­ich­nung stets abgelehnt. Kirch­n­ers Bilder wur­den von den Nation­al­sozial­is­ten aus den Museen ver­ban­nt und teil­weise zer­stört. Baselitz flog aus der Ost­ber­lin­er Kun­sthochschule wegen «gesellschaft­spoli­tis­ch­er Unreife». Jahre später hat die west­deutsche Staat­san­waltschaft seine Bilder aus der Galerie Wern­er & Katz beschlagnahmt. Kirch­n­er zer­brach an seinem zer­störten Ruf in Deutsch­land, und vor allem an der Kat­e­gorisierung sein­er Werke als «entartete Kun­st». Baselitz wertete man als Neo­ex­pres­sion­is­ten ab. Trotz gewis­sen biographis­chen Par­al­le­len sieht Anselm Wag­n­er die bei­den «vielmehr als Janusköp­figes Paar, das in ver­schiedene Rich­tun­gen blickt, oder als siame­sis­che Zwill­inge, die einen gemein­samen Kör­p­er, ein gemein­sames Aus­gangs­ma­te­r­i­al teilen. Währens Kirch­n­er im Sinne der Mod­erne nach vorne blickt, schaut Baselitz im Sinne der Post­mod­erne zurück auf den Fun­dus der Bilder der Kun­st­geschichte, um aus Bildern immer weit­ere Bilder zu gener­ieren» (Vernissage-Ansprache). Schon im früheren Werk von Georg Baselitz (*1938, sein eigentlich­er Name war Hans-Georg Kern) tauchen Hin­weise auf seine Auseinan­der­set­zung mit den Arbeit­en von Edvard Munch auf. Seit 1983 find­en wir in seinen Bildern ein­deutige Anspielun­gen an die Kün­st­lerge­mein­schaft «Die Brücke» (Ernst Lud­wig Kirch­n­er, Karl Schmidt-Rot­tluff und Erich Henkel u.a.). Für Georg Baselitz, dessen schein­bar kun­st­lose, absichtlich «hässliche» Malerei schon in den 60er Jahren für Empörung und kon­tro­verse Mei­n­un­gen sorgte, wur­den jedoch nicht die Mal­stile der «Brücke»-Künstler, son­dern die Maler sel­ber und deren Bild­vor­la­gen zum Objekt sein­er Aufmerk­samkeit.

Der Ein­stig in die Ausstel­lung in Davos ist für den Besuch­er ziem­lich schmerzfrei: Im zen­tralen Gang des Muse­ums sind die prak­tisch gle­ich­för­mi­gen (ca. 60 x 50 cm) Tuschze­ich­nun­gen und Aquarelle zu sehen – die Porträts von Brücke-Kün­stlern und die in ver­schiedenes Schuh­w­erk gek­lei­de­ten Män­ner­füsse. Die «Füsse»-Bilder erscheinen wie eine Art Feld­studie. Manche Sujets sind Kopfüber: Das gemalte Motiv wird verkehrt, «auf den Kopf» gestellt und auch so gemalt. Diesen Kun­st­griff legte sich Baselitz als absichtlich­es Hand­i­cap seit 1969 zu: Auf diese Weise ver­langt der Kün­stler von sich selb­st eine andere Wahrnehmung und Präsenz, und schafft gle­ichzeit­ig eine andere Wirk­lichkeit.

Die Betra­ch­terIn­nen gehen in den ersten Ausstel­lungsraum und wer­den von überdi­men­sion­alen Ölgemälden (ca. 3 x 4 m) – Kopfüber-Porträts und Grup­pen­bilder – an die Wand gespielt. Man begreift, was da im Gang sein san­ftes Vor­spiel hat­te – und was sich in den vier Ausstel­lung­shallen abspielt.

Baselitz meinte 1985: «Für mich […] sind Bilder nur möglich durch Mod­elle von anderen Bildern. Allerd­ing weiss ich auch, dass ich nicht durch eine Addi­tion der gese­henen Mod­elle zu einem Bild komme, das Qual­ität haben soll und Ein­ma­ligkeit.» Diese Bilder entste­hen also aus anderen Bildern oder, seit 2005, als Remixe aus eige­nen früheren Werken. Wie Anselm Wag­n­er in sein­er Vernissage-Ansprache schön auf den Punkt gebracht hat, ver­wen­det Baselitz sein «eigenes malerisches Werk als Inspi­ra­tionsquelle, das er qua­si neu aufmis­cht, covert und sam­pelt, und sich somit selb­st einem His­torisierung­sprozess unterzieht».

Baselitz hat keinen Anspruch auf Ein­ma­ligkeit durch völ­lige Unab­hängigkeit von Tra­di­tion, Voraus­set­zun­gen, durch unmit­tel­bare und unver­fälschte Wieder­gabe des Erlebten, des Gefühlten und Gese­henen. Die Pro­voka­tio­nen entste­hen durch Deformierung anerkan­nter Vorstel­lun­gen davon, was Kun­st ist und was nicht, anerkan­nter Auf­fas­sun­gen von Plas­tik (mit der Axt her­aus­geschla­gene, mit der Ket­ten­säge her­aus­geschnit­tene Holz­fig­uren), und durch absichtliche Anti-Per­fek­tion. Seine gross­for­mati­gen Bilder malt Baselitz auf dem Boden, so dass er sein Werk nicht überblick­en kann. Dort, wo er einen Bech­er abstellt, bleibt zum Schluss ein weis­es «Loch» im Bild. Dort, wo er in die noch nicht getrock­nete Farbe getreten ist, bleibt sein Schuhab­druck. Doch das stört Baselitz-Helden nicht: Die Kopfüber-Fig­uren leben in ein­er anderen Dimen­sion, sie schweben in den luftleeren Räu­men. «Der Brückenchor»-Protagonisten (1983) stim­men ein Lied an, doch es kommt kein «Schrei» her­aus.

Der Ausstel­lungskat­a­log ist sehr empfehlenswert, die Essays von Gün­ther Ger­ck­en, Dieter Koep­plin und Anselm Wag­n­er liefern inter­es­san­ten Denk-Stoff. Für Davos­er-Ski­urlauberIn­nen ein klein­er Hin­weis: Sie kön­nen direkt in der Ski­mon­tur ins Muse­um gehen. Dort bekom­men die sport­begeis­terten Kun­stlieb­haberIn­nen Filz­pantof­feln.

«Georg Baselitz. Besuch bei Ernst Lud­wig»
Die Ausstel­lung dauert bis 21. April 2014
Kirch­n­er Muse­um Davos
Ernst Lud­wig Kirch­n­er Platz
Prom­e­nade 82; 7270 Davos
Tel.: 0141 (0)81 410 63 00
www.kirchnermuseum.ch

Thorsten Sad­owsky (Hg.): Georg Baselitz. Besuch bei Ernst Lud­wig. Kehrer Hei­del­berg Berlin, 2013.
ISBN 978–3‑86828–476‑8

Foto: zVg.
ensuite, Feb­ru­ar 2014