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Krankheiten einer Wohlstandsgesellschaft

Von Christoph Hoigné - Andreas Thiel, der 1971 geborene Bern­er Kolum­nist, Schaus­piel­er und Kabaret­tist, lässt das Pub­likum an der Geburt seines neustens Babys teil­haben: Ab Sep­tem­ber zeigt er im Kleinthe­ater La Cap­pel­la in Bern jeden Dien­stag «Polit­satire 3», ein Kabarettpro­gramm in Entste­hung.

 Du bist bekan­nt als ziem­lich­er Jet­set­ter, erst gestern bist du aus Oslo zurück­gekehrt. Was hast du in Skan­di­navien gemacht?

Ich habe in Oslo den Viege­land-Park besucht und mich ein Woch­enende lang in die Sonne gelegt. Das war schon meine zweite Reise nach Oslo, um die unge­heuer erbauende Wirkung dieses Ortes zu geniessen. Oslo ist allein wegen Gus­tav Viege­land eine Reise wert. Er ist der Rodin des Nor­dens, der wohl bedeu­tend­ste Kün­stler Nor­we­gens der let­zten 200 Jahre. Er el schon als 18-Jähriger kün­st­lerisch auf und stellte an ein­er der Weltausstel­lun­gen in Paris aus. Als beg­nade­ter Bild­hauer erhielt er sehr rasch viele Aufträge für Denkmäler und Brun­nen in aller Welt. Die Stadt Oslo real­isierte, dass dieser Mann der nor­wegis­che Kün­stler sein­er Epoche ist und bot ihm fol­gen­den Deal an: Komm nach Oslo, wir bauen dir ein Ate­lier mit Woh­nung und einen Park für deine Skulp­turen. Das Ate­lier beste­ht aus vier grossen Hallen im nordis­chen Art-Deco-Stil, die einen riesi­gen Innen­hof umgeben und heute als Muse­um besichtigt wer­den kön­nen. Der Park ist voller Gran­it- und Bronzeskulp­turen, darunter ein beein­druck­ender Leben­szyk­lus aus Dutzen­den von Fig­uren von Kleinkindern, über Jugend, Erwach­se­nenal­ter bis hin zu den Greisen.

 Was beein­druckt dich an Vige­lands Arbeit?

Er hat keine abstrak­ten, son­dern sehr fig­u­ra­tive Werke geschaf­fen. Bei ihm stim­men alle Pro­por­tio­nen, jede Muskelfas­er ist an der richti­gen Stelle. Und er ver­stand es, Emo­tio­nen auf umw­er­fend präzise Art darzustellen — Eifer­sucht, Unsicher­heit, Trauer… Auch in der Bild­hauerei sind die neg­a­tiv­en Gefüh­le — Wut, Aggres­sion — ein­fach­er darzustellen als schöne Gefüh­le wie Freude oder Liebe. Das geht mir mit meinen Tex­ten genau­so. Es ist viel ein­fach­er, provozierende, aggres­sive Texte zu schreiben als schöne.

 Viege­land wurde auf sehr orig­inelle Weise von Oslo sub­ven­tion­iert. Du stehst Sub­ven­tio­nen doch sehr kri­tisch gegenüber?

Oslo hat den Viege­land nicht sub­ven­tion­iert, son­dern mit ihm ein Geschäft gemacht. Die Stadt hat sich mit ihm ein Aushängeschild gekauft und bei seinem Tod alle seine Werke bekom­men.

 Wie sähe hierzu­lande die Kul­tur­land­schaft aus, wenn man ihr die Sub­ven­tio­nen entziehen würde?

Bes­timmt viel far­biger. Es gäbe mehr Kün­stler wie Viege­land. Die tal­en­tierten Kün­stler wür­den bessere Kun­st liefern, statt bequem am Pub­likum vor­bei im stillen Käm­mer­lein aller­lei Über flüs­siges auszubrüten. Aber man muss natür­lich unter­schei­den zwis­chen Sub­ven­tion von Kün­stlern und Pro­duk­tio­nen und Sub­ven­tion von Häusern. Eine Infra­struk­tur hat mit der Kun­st vor­erst nichts zu tun. Alles, was in einem The­ater nötig ist — von der Büh­nen­tech­nik bis hin zu Admin­is­tra­tion und Kassen­per­son­al, Heizung, Wass­er oder Erhal­tung der Bausub­stanz — lässt sich genau bez­if­fern. Also kann eine Stadt beschliessen: Wir leis­ten uns ein Hal­len­bad, ein Opern­haus, ein Kun­st­mu­se­um und warum nicht ein Kleinthe­ater. Ob ein Kün­stler gut ist oder nicht, muss aber das Pub­likum entschei­den. Die Bere­it­stel­lung dieser Plat­tfor­men gibt den Kün­stlern die Chance, dort aufzutreten. Gesunde Sub­ven­tion heisst für mich: Der Kün­stler muss klein anfan­gen und beweisen, dass er etwas kann, sich sein Pub­likum erar­beit­en, erspie­len. Kün­stler oder Pro­duk­tio­nen zu fördern, heisst Staatskun­st zu pro­duzieren. Die meis­ten Büch­er und prak­tisch alle Filme in unserem Land sind Staatskun­st, Beamtenkun­st. Ich will keine Filme sehen, die mir Poli­tik­er oder Beamte vorset­zen!

 Nach deinen Aus­führun­gen müsste das Kleinthe­ater La Cap­pel­la die seit langem geforderte Sub­ven­tion bekom­men, um so die nötige Plat­tform für kün­st­lerisches schaf­fen zur Ver­fü­gung stellen zu kön­nen?

Die Stadt Bern muss sich entschei­den, ob sie ein Kleinthe­ater will oder nicht. Son­st gehen halt Kün­stler und Pub­likum nach Burgdorf oder Thun, dort wo man sich dafür entsch­ieden hat, eine Kleinkun­st­bühne zu unter­hal­ten.

 In der Cap­pel­la spielst du ab Sep­tem­ber jeden Dien­stag Dein neues Pro­gramm «Polit­satire 3». Was erwartet das Pub­likum?

Im Moment sitze ich vor einem grossen Blät­ter­wald aus Noti­zen und Kolum­nen, von einzel­nen Sätzen bis zu fer­ti­gen Num­mern. Aus diesem Mate­ri­al­berg gilt es nun ein Pro­gramm zu des­til­lieren. Das The­ma? Nach den grossen Wel­tre­li­gio­nen Juden­tum, Chris­ten­tum und Islam bekommt nun der Athe­is­mus als ver­mut­lich grösste Wel­tre­li­gion die Kappe gewaschen. Zum Athe­is­mus gehört für mich auch der Kom­mu­nis­mus und das gegen­wär­tig herrschende Kun­stver­ständ­nis, New Econ­o­my und Neolib­er­al­is­mus oder Sozialdemokratie. All dies — let­ztlich Krankheit­en ein­er Wohl­stands­ge­sellschaft — wird the­ma­tisiert. Es kom­men, wie bere­its im let­zten Pro­gramm, ver­mehrt Dialoge vor. Das Pro­gramm ist weniger aktuell tage­spoli­tisch als das let­zte und ver­mehrt generell gesellschaft­spoli­tisch.

 Du hast die let­zten Pro­gramme durch­num­meriert, Polit­satire 1, 2 und 3. Ist dies Bequem­lichkeit oder han­delt es sich um eine Serie?

Es ist eine Serie und es ist sehr gut möglich, dass Polit­satire 3 das let­zte poli­tis­che Pro­gramm sein wird und nach­her ein rein lit­er­arisches Stück fol­gt. Ich habe mir angewöh­nt, mit meinen Pro­gram­men sehr früh vors Pub­likum zu gehen, um her­auszufind­en, in welche Rich­tung ich gehen will. Einzelne Texte sind erprobt — beispiel­sweise vom «Tin­ten­saufen» im Musig-Bistrot -, dazwis­chen werde ich viel vol­lkom­men Neues aus­pro­bieren, bis das Pro­gramm seine endgültige Form hat. Zudem will ich einen zusät­zlichen Akteur auf die Bühne nehmen, den Schaus­piel­er Thomas Pukhe­ly.

 Du spielst ab Sep­tem­ber wöchentlich jeden Dien­stag in der Cap­pel­la. Eine ide­ale Werk­stattsi­t­u­a­tion, um ein neues Pro­gramm zu entwick­eln?

Das ist die per­fek­te Aus­gangslage. Jed­er Abend ermöglicht Exper­i­mente und gibt Erfahrun­gen, die sofort umge­set­zt und in der Fol­ge­woche aus­pro­biert wer­den kön­nen.

 Du stehst seit zwölf Jahren auf der Bühne. In den Anfän­gen war vieles in dein­er Arbeit sehr poet­isch, man erin­nere sich nur an dein Bravourstück, die «Laven­del­treppe». Heute bist du fast auss­chliesslich poli­tisch. fehlt dir die Poe­sie nicht?

Doch, sehr! Aber ich arbeite ja an ver­schiede­nen Pro­jek­ten und ver­folge auch die poet­is­che Seite weit­er. Aber: Schönes zu machen ist immer viel schwieriger. Polit­satire ist qua­si mein Brotjob, manche Texte spiele ich nur ein paar Wochen, weil sie nach­her nicht mehr aktuell sind. Das ist Schnellfeuer und spricht auch die bre­it­eren Masse an. Als nicht sub­ven­tion­iert­er Kün­stler muss ich sehr viel arbeit­en. Wobei «bre­ite Masse» missver­ständlich sein kann: Meine Pro­gramme sind ja nicht all­ge­mein verträglich, ich bewege mich stets in ein­er sehr engen Nis­che. Aber dort habe ich mir ein Pub­likum aufge­baut, dort ver­di­ene ich mein Geld, um andere Pro­jek­te zu ver­wirk­lichen, die noch weniger mark­t­gerecht sind.

 Dein Pro­gramm heisst Polit­satire. Was regt dich momen­tan in der Poli­tik am meis­ten auf?

Am meis­ten ärg­ert mich, dass die FDP als ehe­mals staat­stra­gende lib­erale Partei die kon­ser­v­a­tiv­en Werte über Bord gewor­fen hat und diese von der SVP über­nom­men wur­den. Es regt mich auf, dass die FDP jet­zt eine belei­digte Partei spielt, weil sie an die SVP Wäh­ler ver­liert und deshalb eine Auswe­ichreak­tion nach links macht. Es tut weh, mit anzuschauen, dass damit die lib­erale Partei schlechthin immer weniger lib­er­al ist und sich ins Nichts ver­ren­nt.

 Was freut dich an der aktuellen Poli­tik am meis­ten?

Poli­tik ist meis­tens etwas Uner­freulich­es. Am meis­ten freuen mich Dinge, in welche sich die Poli­tik nicht ein­mis­cht.

 Am 13. Sep­tem­ber wird der schweiz­erische Kleinkun­st­tag gefeiert. Was bedeutet dir der Begriff Kleinkun­st?

Ein herziger Begriff, der viel zu tun hat mit schweiz­erisch­er Beschei­den­heit. Ein sehr heil­samer Begriff, weil darin auch etwas Selb­stiro­nis­ches steckt, man nimmt die Sache nicht ganz so ernst. Eine Leichtigkeit, die man eigentlich auch auf viele andere Gebi­ete aus­dehnen müsste. Der Kleinkun­st­tag ist vielle­icht fürs Pub­likum hil­fre­ich, aber ich habe sowieso schon über 300 Kleinkun­st­tage im Jahr…

 Welche span­nen­den Neuent­deck­un­gen aus dem Kleinkun­st­bere­ich möcht­est du weit­erempfehlen?

Natür­lich Uta Köber­nick aus Berlin, die sowohl eine Gesangs‑, wie auch eine Schaus­pielaus­bil­dung hat und mit Tex­ten und fan­tastis­chen Liedern überzeugt. Uta tritt auf mit einem geschlif­f­e­nen Büh­nen­deutsch, aber sie hat den Schweiz­er Humor — eine brisante Mis­chung! Dann auch Gabriel Vet­ter, endlich wieder ein span­nen­der Kün­stler aus der Ostschweiz — sein Schaffhauser Dialekt lässt eine enorme Geschwindigkeit zu — ein erfrischen­der Gegen­part zu Pedro Lenz, der das langsame Ur-Bernische pflegt.

 Erfolg führt zwangsläu­fig auch zu Preisen. Du hast eine ganze Rei­he davon bekom­men. Welch­er ist dir der lieb­ste?

Am meis­ten gefreut hat uns der erste Preis — schon wenige Monate nach dem Büh­nen­de­büt mit «Herr Thiel & Herr Sas­sine» beka­men wir 1999 den «Salzburg­er Sti­er» ver­liehen. Das war sehr über­raschend. Im Laufe der Jahre sind einige andere Preise dazu gekom­men. Man freut sich über jeden, auch wenn die Über­raschung nicht mehr so gross ist. Sehr gefreut hab ich mich im Mai 2008 über den jüng­sten Preis — den «Prix Cor­ni­chon» — nicht zulet­zt weil dieser nicht Schweiz­er Kün­stlern vor­be­hal­ten ist, son­dern oft auch sehr renom­mierten Kol­legin­nen und Kol­le­gen aus Deutsch­land ver­liehen wird.

 Stich­wort Deutsch­land. Du spielst deine Pro­gramme auch dort, aber bist nicht immer glück­lich im nördlichen Nach­bar­land…

Das deutsche Pub­likum ist oft sehr unglück­lich nach einem Abend von mir. Was mich wiederum nicht sehr glück­lich macht, weil ich ja vor allem deshalb spiele, um das Pub­likum zu erfreuen und zu bere­ich­ern. In Deutsch­land stosse ich auf einen anderen Humor, der in meinem Pro­gramm nicht vorkommt.

 Du bist ein fleis­siger Kolum­nist in ver­schiede­nen Blät­tern. Wie schafft man es, wöchentlich Süf­figes zu liefern? Schüt­telst du deine Kolum­nen aus dem Ärmel oder tust du dich schw­er damit?

Es ist wie bei allem. Es braucht eine gewisse Begabung, den Rest kann man ler­nen und mit Fleiss errin­gen. Hil­fre­ich ist Erfahrung und Rou­tine. Wer zwei Meter zehn misst, kann ein guter Bas­ket­ball­spiel­er wer­den, aber ohne Aus­bil­dung und Train­ing wird nie­mand ein Spitzen­sportler. Kolum­nen aus dem Ärmel zu schüt­teln ist wenig Erfolg ver­sprechend. Etwas zu erfind­en ist meis­tens triv­ial. Das men­schliche Gehirn ist zu sim­pel, die Phan­tasie ist zu beschränkt. Alles Erfun­dene bleibt hin­ter der Real­ität zurück. Also laufe ich die ganze Woche mit meinem Notizbuch durch die Gegend und schaue mir die Men­schen und Sit­u­a­tio­nen an. Immer wieder komme ich ins Staunen, was alles um mich herum passiert. Dazu mache ich mir meine Gedanken und Noti­zen. Beim Schreiben von Kolum­nen blät­tere ich in meinem Notizbuch und kann aus dem Vollen schöpfen. Let­zte Woche hat­te ich im Tessin auf 2300 Metern über Meer ein Erleb­nis, das war wie ein Sechser im Lot­to: Ich begeg­nete den Men­schen, welche die Wan­der­wege markieren. Wer denkt, dass da ein Einzel­ner unter­wegs ist, irrt sich, denn es braucht ja zwei Far­ben: Tat­säch­lich kommt der erste in blauen Latzho­sen mit der weis­sen Farb­tube daher und malt zwei Striche, während der Chef — mit Schmer­bauch und Zigarette — ein paar Schritte dahin­ter fol­gt und die rote Farbe ergänzt. Diese Beobach­tung hab ich notiert — vielle­icht wird mal eine Geschichte daraus, vielle­icht wer­den es Büh­nen­fig­uren, vielle­icht kom­men die zwei in einem Film im Hin­ter­grund vor… Auf jeden Fall hab ich in ein­er Kolumne jüngst geschrieben, dass mein innig­ster Beruf­swun­sch stets war: Wan­der­weg­markier­er.

Viele, die dich als Büh­nen­fig­ur ken­nen­ler­nen, find­en dich vor allem zynisch und arro­gant, du bist ein­er, der gegen alle seit­en kräftige Hiebe austeilt. Dabei bist du jemand, der mit ein­er grossen Liebe zu den Men­schen und ihren kleinen schwächen durchs Leben geht. Viele wis­sen nicht, dass du gutes Essen und guten Wein über­aus schätzt und lustvoll am Steuer deines Jaguars sitzt. Wie kommt es, dass du als lebenslieben­der Bon­vi­vant mit dem ver­balen Zwei­hän­der um dich schlägst?

Ich habe dort eine Nis­che für mich ent­deckt. Nie­mand anderes macht diese schwarze, spitze, präzise Form von Satire in der Schweiz. Gäbe es schon drei andere, würde ich wiederum etwas Neues suchen. Vorher, mit «Spiegel­bild und Schat­ten», war mir das ver­schlun­gene Poet­is­che sehr wichtig. Ich liebe die Abwech­slung. Heute dies, mor­gen das. Und ich habe diese Seit­en bei­de in mir.

Du stehst nicht allein auf der Bühne. Am Flügel begleit­et dich die junge Musik­erin Annale­na fröh­lich — Schön­heit paart sich mit dem Intellekt. Genügt Thiel allein nicht?

Ich kön­nte lock­er den ganzen Abend lang reden — aber das Pub­likum hält zwei Stun­den Text nicht aus. Mir selb­st waren schon in der Schule 50-Minuten-Lek­tio­nen zu lang. Deshalb braucht es Musik. Musik funk­tion­iert nicht über den Intellekt, son­dern geht direkt ins Herz. Annale­na Fröh­lich ist büh­nen­tauglich wie nur ganz wenige Musik­er. Die Bühne zu betreten ist für mich oft wie ein Schritt aufs Glat­teis. Umso wichtiger ist es für mich, eine Büh­nen­part­ner­in zu haben, die kein Lam­p­en­fieber ken­nt und die abso­lut sou­verän jede Sit­u­a­tion meis­tert — auch wenn ich mit­ten im Pro­gramm Änderun­gen mache und impro­visiere.

www.andreasthiel.ch
www.la-capella.ch

Bild: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2008

 

Artikel online veröffentlicht: 15. November 2017