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Kultur: Alles was nicht Natur ist?

Von Lukas Vogel­sang — Peter J. Betts Gedanken zur Kul­tur­poli­tik vor 20 Jahren: Wenn wir in Bern oder ander­swo über Kul­turkonzepte disku­tieren, kön­nten wir ruhig den Blick mal nach hin­ten wer­fen und die Fra­gen und Ideen auf­greifen, welche vor 20 Jahren die Kul­turszenen und Poli­tik­erIn­nen beschäftigten.

Peter J. Betts, ehe­ma­liger Kul­tursekretär der Stadt Bern, war ein­er der Ersten, der ein Kul­tur-Konzept zus­tande­brachte. Wenn man seine Scripts liest fragt man sich, was in all den Jahren sei­ther geschehen ist. Wed­er wer­den heute in Kul­tur­diskus­sio­nen auch nur die Hälfte der Def­i­n­i­tio­nen oder Begriffe von damals erwäh­nt – noch wird argu­men­tiert. Heute wird Geld und Kul­tur auf die gle­iche Ebene gestellt, und es wird moniert, «Kul­tur­poli­tik dürfe nur Finanzpoli­tik sein» (codexflores.ch, Wolf­gang Böh­ler). Es scheint mir, als wür­den wir zum ersten Mal laut über Kul­tur­poli­tik nach­denken.

Das hier abge­druck­te Mate­r­i­al von Peter J. Betts wurde nicht weit­er bear­beit­et und stammt aus Work­shops, welche vor zig Jahren abge­hal­ten wur­den. Es ist auch nicht ganz im richti­gen Kon­text zusam­mengestellt – da gäbe es noch mehr Mate­r­i­al. Trotz­dem sind es Gedanke­nanstösse, welche über­dacht wer­den sollen. Es sind Fra­gen, die noch genau­so aktuell sind wie damals. Das The­ma ist übri­gens nicht nur für Kul­turkonzepte inter­es­sant.

Wenn Kul­tur alles wäre, was nicht Natur ist, wir aber einen Teil der Natur darstellen, müssten wir mit unser­er Kul­tur im eige­nen Inter­esse danach tra­cht­en, dass es möglichst lange Natur geben kann. Unser Tun – soweit nicht «ein­fach» von der Natur dik­tiert – mün­det in Kul­tur. Zum Beispiel: das Bauen des Gerechtigkeits­brun­nens, dessen Zer­störung, dessen Ersatz durch eine (viel schönere?) Kopie sind unter­schiedliche Spuren kul­turellen Tuns. Die Begeg­nung von Ver­gan­gen­heit und Zukun­ft in der Gegen­wart verpflichtet uns alle unauswe­ich­lich dazu, immer wieder heute die Ver­ant­wor­tung für mor­gen zu übernehmen.

Phan­tasie, Kap­i­tal der Kul­tur In sech­sundzwanzig Buch­staben und eini­gen Zeichen sind sämtliche Romane, Dra­men, poli­tis­chen Man­i­feste, Pam­phlete enthal­ten. Wie die Buch­staben und Zeichen zusam­menge­set­zt wer­den ist eine Frage der Phan­tasie. Phan­tasie ist also der entschei­dende Rohstoff für jede Pro­duk­tion. Beethovens Fün­fte Sym­phonie ist zunächst eine Par­ti­tur: schwarze Zeichen auf Lin­ien geset­zt, gemäss der Phan­tasie des Kom­pon­is­ten. Wie diese Zeichen in Klänge umge­set­zt wer­den, und wie und ob diese Klänge Herzen bewe­gen kön­nen, hängt von der Phan­tasie der Inter­pretinnen und Inter­pre­ten ab. Phan­tasie ist der Rohstoff für die Ver­mit­tlung. Ob die schwarzen Zeichen in einem Buch zu Bildern und Geschicht­en in Kopf oder Herzen der Leserin und anschliessend zu ihrem bewussteren oder verän­derten Han­deln führen, ist eine Frage der Phan­tasie. Ob der Hör­er beim Lauschen der Fün­ften Sym­phonie berührt ist, anders empfind­et und denkt, und anschliessend vielle­icht auch anders han­delt, ist eine Frage von Phan­tasie. Wer die gel­ben, braunen, grü­nen und blauen Far­brhyth­men in Van Goghs berühmtem Bild erlebt und dabei dem Wesen der Son­nen­blume begeg­net, ver­dankt dies ihrer oder sein­er Phan­tasie, die sich beim Betra­cht­en jen­er Van Goghs nähert. Zusam­me­nar­beit? Phan­tasie ist der Rohstoff der Wahrnehmung.

Teile des Ganzen Wer heute die Ver­ant­wor­tung für mor­gen übernehmen will, braucht Phan­tasie. Wenn die Natur unsere Kul­tur über­leben will, braucht sie unsere Phan­tasie. Natür­lich sind andere Rohstoffe uner­lässlich, aber die Phan­tasie entschei­det let­ztlich. Geld, Raum, Fachkom­pe­tenz, Inter­esse, Recht, Gesund­heit – sie und viele andere Ele­mente ermöglichen oder ver­hin­dern, je nach Kon­stel­la­tion, alle Phan­tasiepro­duk­te. Ein bunter, unverträglich­er, wider­sprüch­lich­er Haufen von Gegen­sät­zlichkeit lässt das Ganze nur schw­er vol­lum­fänglich erken­nen: Etablierte – Alter­na­tive; Poli­tik­erin­nen – Ran­daliererin­nen; Inter­pretinnen – Autorin­nen; Rock­musik­erin­nen – klas­sis­che Musik­erin­nen; Ver­anstal­tende – Pro­duzierende; Kün­stler­schaft – Pub­likum; NaturKul­tur; die auf Stühlen und Bänken Sitzen­den und jene dazwis­chen oder, die, welche daneben kauern. Und doch: auf ein­er Kugelober­fläche bed­ingt jed­er Punkt jeden andern, ist jed­er gle­ich weit weg vom Zen­trum ent­fer­nt, ist jed­er einzi­gar­tig. Dies gilt prak­tisch auch für ein Geoid, einen durch Über­drehung abge­flacht­en ide­alen Kör­p­er. Dies gilt, in hin­re­ichen­der Annäherung, für die Erde.

Zusam­me­nar­beit Zusam­me­nar­beit scheint vor dem oben skizzierten Hin­ter­grund die einzige Chance. Alle Ressourcen sind endlich, beson­ders auch die Phan­tasie. Wenn das Axiom der Physik nicht nur für die Mechanik gilt, bleibt die Energie im Grunde erhal­ten (auch wenn die Entropie zuzunehmen dro­ht). Dies hiesse, dass man immer wieder neu, immer wieder anders aus der jew­eili­gen Zeit und deren Anforderun­gen her­aus die Ele­mente zusam­menset­zen muss. Um irre­versible Prozesse möglichst zu ver­hin­dern. Es gibt viele Meth­o­d­en, und keine davon ist allein­selig­machend. Ziel wäre beispiel­sweise, dass Kul­tur und Natur zusam­me­nar­beit­en wür­den und nicht gegeneinan­der. Ziel wäre etwa, dass die schöpferischen Kräfte ein­er Gemein­schaft in Pro­duk­tion, Ver­mit­tlung und Wahrnehmung gebün­delt – aber beileibe nicht gle­ichgeschal­tet! – wür­den. Ziel wäre etwa das Wahrnehmen gemein­samer Ver­ant­wor­tung im gemein­samen Inter­esse. Schlag­worte wie «Auf­gaben­teilung» helfen besten­falls als method­is­che Hin­weise, und die Absicht, dass jed­er und jede alles tun muss, führt zum ver­häng­nisvollen und keineswegs frucht­baren Chaos. Die von Fall zu Fall geeignete Form von Zusam­me­nar­beit zu find­en ist ver­mut­lich eine Frage der Phan­tasie, wohl eine oft noch schwierigere Auf­gabe, als aus sech­sundzwanzig Buch­staben und eini­gen Zeichen einen Roman zu schreiben

Drei Thesen

1. Phan­tasie ist der Rohstoff der Kul­tur und damit unseres gestal­tenden Tätig­seins auf allen Gebi­eten. Daraus ergibt sich für den Staat auf allen Ebe­nen Kul­tur­poli­tik als zwin­gende, gesellschafts­bildende Auf­gabe. Wider­spruchs­freie Kul­tur­poli­tik ist aber wed­er sin­nvoll noch möglich. Kul­tur­poli­tik darf ander­seits beispiel­sweise der Gefahr nicht erliegen, Teile der Kul­tur zu ghet­toisieren (wie etwa «Frauenkul­tur», «Alter­na­tivkul­tur» usw.), oder «Kul­tur» mit «Ver­anstal­tungswe­sen» gle­ichzuset­zen, und damit ein­er zunehmend unmen­schlich­er wer­den­den Freizeitin­dus­trie zuzu­di­enen.

2. Die Auf­gabe des Staates auf allen Ebe­nen und die Auswirkun­gen sein­er Tätigkeit (im Rah­men von Sozial‑, Drogen‑, Wirtschafts‑, Entwick­lungspoli­tik; bezüglich der Umwelt- oder der Verkehrsprob­leme, der Migra­tions­fra­gen, der Kul­tur­förderung, der Bil­dung, des Rechtswe­sens, der Reli­gion, der Sicher­heit usw.) fusst let­ztlich in sein­er Auf­fas­sung von Kul­tur­poli­tik. Kul­tur­poli­tik schafft die Grund­lage für die Entwick­lung des gesellschaftlichen Kli­mas und Zusam­men­hangs, und damit für die Zukun­ft der Gesellschaft. Hauptziel der Kul­tur­poli­tik aller staatlichen Ebe­nen muss es sein, die gün­stig­sten Bedin­gun­gen für die Kli­maen­twick­lung zu schaf­fen: öffentlich­es Han­deln muss kul­turverträglich wer­den! Soge­nan­nte Kul­tur­förderung oder das (Mit)-Tragen soge­nan­nter Kul­turin­sti­tu­tio­nen kann immer nur ein Aspekt der Kul­tur­poli­tik sein, nicht ein­mal der wesentlich­ste. Den­noch ist der direk­te Aus­tausch, die direk­te Zusam­me­nar­beit zwis­chen Poli­tik­erin­nen und Poli­tik­ern und den Ver­wal­tungsange­höri­gen aller staatlichen Ebe­nen mit pro­fes­sionellen Kul­turschaf­fend­en – deren Werkzeugkas­ten eben Phan­tasie ist – unumgänglich.

3. Da Kultur(politik) als Voraus­set­zung für die Leben­squal­ität im Staat eine Grun­dauf­gabe aller staatlich­er Ebe­nen ist, müssen die gemein­samen Bemühun­gen gegenüber den Abgren­zungsver­suchen im Vorder­grund ste­hen: Sub­sidiar­ität als autonom gefällte Wil­len­säusserung jed­er einzel­nen Ebene, den andern mit den zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­teln best­möglich beim Erfüllen ihrer Auf­gabe behil­flich zu sein. Ein­er­seits bedeutet dies das faire Abgel­ten tat­säch­lich verur­sachter direk­ter und indi­rek­ter Kosten durch die Verur­sachen­den; ander­seits gemein­sames Bewälti­gen gemein­samer Auf­gaben. Das bedeutet auch, unkom­plizierten Umgang der Fach­gremien aller Ebe­nen miteinan­der ohne Pres­tigege­fälle. Städte und Stadtre­gio­nen bieten in der Regel den Raum (und die Men­schen), in dem (und mit denen) sich pro­fes­sionelles Kul­turschaf­fen konkretisiert. Kul­tur­aus­tausch ohne räum­liche Konkretisierungsmöglichkeit beispiel­sweise ist absurd. Anhand dieses Sachver­haltes sei pars pro toto angedeutet, wie etwa Pro Hel­ve­tia (für Aus­tausch mit dem Aus­land «zuständig») zusam­men mit Städten und Regio­nen arbeit­en kön­nte, «in deren Zuständigkeit» sich die ver­füg­baren Räume (und das Poten­tial han­del­nder Men­schen) befind­en.

Einige Fragen zu Kultur, Kulturpolitik und
Kulturförderung

Erfüllen wir unsere Auf­gabe richtig?
Ist Qual­ität mess­bar?
Ist Mis­ser­folg mess­bar?
Beste­ht Kul­tur­genuss allein im Notengeben?
Die Gesuchs­flut nimmt zu – wie die Mit­tel verteilen?
Kann man Ablehnung glaub­würdig begrün­den?
Konzepte: ein Korsett für die Kul­tur?
Kann Kul­tur etwas erbrin­gen? Was denn?
Konzepte: ein Korsett für die Poli­tik?
Qual­ität und Erfolg gehorchen unter­schiedlichen Geset­zmäs­sigkeit­en – haben sie über­haupt etwas miteinan­der zu tun?
Bedeutet «Korsett» Stütze oder Einen­gung? Bei­des?
Was kön­nen wir fördern?
Was dür­fen wir fördern?
Was wollen wir fördern?
Was dür­fen wir fordern?
Eval­u­a­tion – ein Mit­tel gegen Willkür und Vet­tern­wirtschaft?
Eval­u­a­tion – Beschäf­ti­gungs­ther­a­pie für BürokratIn­nen?
Struk­turen basteln, statt Prob­leme lösen?
Ist Qual­ität Erfolg?
Ist Erfolg Qual­ität?
Wer­den die Mit­tel wirk­lich knap­per oder geht die Phan­tasie der Verteilen­den aus?
Erfüllen wir die richti­gen Auf­gaben?
Und so weit­er…

Foto: zVg.
ensuite, April 2014

Artikel online veröffentlicht: 14. Mai 2019