Von Peter J. Betts — «Kunst und Kultur sind für jede menschliche Gemeinschaft von hoher Wichtigkeit», schreibt Herr Gerhard Schwarz als ersten Satz in seinem Artikel – im Wirtschaftsteil der NZZ, Nr. 44 vom 22. Februar 2014, S. 39 unter dem präzisierenden Titel «Kultur im Zeichen der Knappheit» mit dem eher ambivalenten Untertitel: «Durch mehr Transparenz zu mehr Effizienz». Man wäre auf den ersten Blick eventuell versucht, erstaunt und beifällig zu nicken. Das tun «Kultur»politikerInnen wohl auf den zweiten und dritten auch noch, bevor sie sich erinnern: «Steht doch eh schon in meiner Wahlpropaganda an prominenter Stelle, wie mir mein Werbeberater immer wieder versichert.» Vielleicht fragt man sich als Gewöhnlichsterblicher dann auch, worin, wenn überhaupt, ein Unterschied zwischen Kunst und Kultur bestehe. Herr Schwarz (sechzehn Jahre Leiter der NZZ-Wirtschaftsredaktion, seit 2010 Direktor des «Think-Tanks» Avenir Suisse) verwendet doch nicht unbedacht eine Tautologie als hehren Titel – oder? Die Tautologie ist ein beliebtes Werkzeug der Rhetorik. Möglicherweise sind national getrimmte ZukunftsdenkerInnen im gleichen Boot wie «Kultur»politikerInnen und wissen: Geschickt verwendete Tautologien ersparen unerwünschte Denkarbeit. Wobei wir schon fast beim Untertitel wären. Natürlich sind Wirtschaft, Kunst, Politik, Forschung, Technologie, AKWs, Rüstungsfirmen, Grosskonzerne, Familienbetriebe und so weiter keine Naturprodukte, sind alle Teil der Kultur, die unserer Gattung das Leben oder Überleben ermöglichen oder eben in ihrem Zusammenspiel bedrohen. Was will also Herr Schwarz mit seinem ersten Satz sagen? Ich denke, der Titel ist bedenkenswert. Mit den fünf Wörtern erinnert er m. E. an die vor zweiundvierzig Jahren durch den «Club of Rome» veröffentlichte Studie «Die Grenzen des Wachstums» (durch die Volkswagenstiftung massiv – und wohl doch zu knapp – finanziert, mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1973 – überreicht durch Herrn Klett – ausgezeichnet). Gemäss der Studie bestimmen fünf Eckpunkte diese Grenzen: die Industrialisierung; das Bevölkerungswachstum; die Unterernährung; die Ausbeutung der Rohstoffe; die Zerstörung des Lebensraumes. Auch wenn der, gemäss der Studie von 1972, innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts vorausgesagte Kollaps sichtbar noch nicht eingetreten ist, muss man, zu Recht, von «Kultur im Zeichen der Knappheit» sprechen. Auch wenn die zeitlichen Prognosen der Studie, u.a. gestützt durch ein verfeinertes Untersuchungsinstrumentarium, in regelmässigen Abständen angepasst werden (das letzte Mal vor zwei Jahren), bleiben die fünf determinierenden Eckpunkte relevant: die Kultur ist – global – von zunehmender Knappheit gezeichnet und konkret bedroht. Effizienz, aus Sicht unserer Spezies, wäre, falls der «Point of no Return» noch nicht erreicht ist, wohl erwünscht. Herr Schwarz behauptet, in der Maslowschen Bedürfnispyramide (wohl im Modell vor 1970, wo in der Spitze steht: «Selbstverwirklichung») stünden «Kunst und Kultur weit oben», denn sie würden dennoch oder gerade deswegen sogar «in ärmlichsten Regionen der Welt gepflegt: Traditionen, Feste, Kulte, Musik, Tanz, Spiele, Riten. Auch moderne, reiche Gesellschaften geben viel Geld für Kunst und Kultur aus, privates wie öffentliches.» Nun, ein Aspekt von «Maslows Hierarchie» (die monetär, vor allem in der reichen westlichen Welt, verwertbare Pyramide wurde nicht von ihm entwickelt und entsprach auch kaum den Zielsetzungen seiner Forschung) wurde vor allem in der Wirtschaftswissenschaft verwendet, besonders in den Bereichen des Marketings und der Werbung. Es ging aber Maslow in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, als einem der Begründer der humanistischen Psychologie, vor allem darum, innerhalb einer Psychologie der seelischen Gesundheit und im Rahmen eines ganzheitlichen Konzeptes das Streben nach Selbstverwirklichung von Individuen zu untersuchen. Kurz und vereinfachend: Wenn Herr Schwarz «Transparenz» fordert, meint er, was in seiner anschaulichen «wirtschaftspolitischen Grafik» zu «Grosse Unterschiede bei der Eigenwirtschaftlichkeit» in der NZZ skizziert wird. Dort wird bei vier Kunstkategorien untersucht, wie viele Franken an Subventionsgeldern auf den/die BesucherIn jeweils anfallen, und wie hoch der Eigenfinanzierungsgrad ist. Transparenz? Warum kostet ein Besucher des Verkehrshauses Luzern (Eigenfinanzierungsgrad gegen 90%) die öffentliche Hand nur drei Franken, während die Subventionsbehörden im Zentrum Paul Klee (Eigenfinanzierungsgrad fast 40%) einundvierzig aufwenden müssen? Warum wird eine Besucherin des Opernhauses Zürich mit Fr. 331.- subventioniert, und der Besucher des Konzerttheaters Bern nur mit Fr. 287.-? In seinem Artikel macht Herr Schwarz allerdings interessante Beobachtungen, z.B. dass die «öffentliche Hand» offenbar Dienstleistungen unterstützen muss, für die eine zu kleine Nachfrage herrscht. Warum? Ich schlage ein paar Gedankenansätze vor: Weil die Behörden so unbegrenzt darauf versessen sind, Kreativität in jeglicher Form im Interesse der Gesamtbevölkerung zu fördern? Kaum. Weil ein Stadttheater, die Rote Fabrik, das Zentrum Paul Klee, das Orchestre de la Suisse Romande und so weiter als «Leuchttürme» gelten, die den Städten oder Kantonen ihr erhofftes Image, beispielsweise als «Kulturstädte» (welch dümmliche Bezeichnung!) schaffen, und via Umweg-Rendite die scheinbar zu hohen Kulturausgaben rechtfertigen? Etwa nach der Regel: jeder für die Kultur scheinbar verschwendete Franken spült anderswo mindestens vierzig ein. Etwa in der Gastwirtschaft, in den Kleidergeschäften, den Luxusboutiquen, den Apotheken. Das rechtfertigt die «Kulturausgaben», weil sich letztlich höhere Steuereinnahmen ergeben und die Stadt ein besseres Image hat? Schon eher. Ergo: es ist Wurst, ob im Stadttheater vor einem leeren Saal gespielt wird oder nicht? Es ist auch Wurst, ob vor allem jenen die Karten für den Stadttheaterbesuch subventioniert werden, die die zusätzlichen Fr. 287.-, ohne es überhaupt zu merken, hinblättern könnten? Herr Schwarz hat mich, vielleicht unabsichtlich, mit neuen Erkenntnissen beschenkt: «Kultur im Zeichen der Knappheit» hat eine fast geniale, allumfassende Vereinfachung hervorgebracht; nämlich die Einsicht, dass es in unserem Kulturkreis nur ein einziges sinngebendes Charakteristikum für Kultur gibt: das monetär Messbare. Glauben Sie, dass jene, die an der «Art» in Basel die horrend teuren Gemälde oder Objekte usw. kaufen, wirklich LiebhaberInnen von Kunst sind? Der Wert des Objektes liegt nicht darin, was es in den Betrachtenden gefühls- oder überlegungsmässig auslöst, nicht darin, welche Phantasien und welche Bilder es evoziert. Das angekaufte Werk ist schlicht und einfach eine Kapitalanlage. Die Bank wird mir in Jahresfrist belegen können, um ein Wievielfaches sich der künstlerische Wert vermehrt hat. Eine Künstlerin jedwelcher Provenienz ist nur gut, wenn sie grosse Geldsummen verdient, weil sie bei der Käuferschaft oder den Institutionen hinter den Förderungsgremien noch grössere Geldeinkünfte ermöglicht. Es gibt aus der Optik unseres Kulturkreises nur einen einzigen gültigen Wert: Geld. In welcher Währung auch immer. Dass man es nicht essen oder anziehen oder einatmen kann, ist irrelevant. Kunst und Kultur? Maslow hatte kurz vor seinem Tode, als oberste Stufe «seiner» Pyramide, nach der Selbsterkenntnis die Transzendenz eingesetzt. Hat er Geld gemeint? Für jene Kulturkreise, die Herr Schwarz wohlwollend als die «ärmlichsten Regionen der Welt» umschreibt, ist Kunst lebensnotwendig; in unserer Kultur generiert die Kunst via Unterhaltung lediglich Geld, unterstreicht damit zunehmend eine Kultur im Zeichen der Knappheit: Transparenz wäre also hier gesucht!
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2014