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Kunst zwischen Apfelkuchen und Anrufbeantworter

Von Rebec­ka Domig und Son­ja Gasser – Ein Gespräch mit Chan­tal Michel auf dem Schloss Kiesen: Zahlre­iche Aus­flü­gler und Kun­st­begeis­terte durch­wan­derten vier Monate lang die Gemeinde Kiesen. Ziel war das Schloss, auf einem bewalde­ten Hügel gele­gen. In zwanzig Räu­men zeigte Chan­tal Michel eigene Werke. Ihre Foto- und Videoar­beit­en hat­te sie in stim­mige Rau­min­stal­la­tio­nen einge­bun­den, die zum Ein­tauchen in eine andere Welt ein­lu­den. Wer vom Umherir­ren im Schloss müde gewor­den war, set­zte sich im Garten an einen der bere­it­gestell­ten Tis­che. An der Sonne servierte die Kün­st­lerin Kaf­fee und selb­st­ge­back­e­nen Kuchen.

ensuite — kul­tur­magazin: Beim Ein­treten in das Schloss Kiesen liest man ein­lei­t­end: «Die Kün­st­lerin zeigt keine Ausstel­lung, son­dern öffnet ein Phan­tasiere­ich für alle.» Was kann man sich darunter vorstellen; wie ist das gemeint mit dem Phan­tasiere­ich?

Chan­tal Michel: Eine Ausstel­lung ist es, wenn man die Bilder in ein Muse­um hängt. Das hier ist viel mehr; es ist eine ganze Instal­la­tion, in der alles dazuge­hört – auch der Gemüsegarten. Das gesamte Haus ist insze­niert. Ich habe nicht Fotos in ein schon beset­ztes Haus gehängt, es war vielmehr ein Miteinan­der. Ich habe die Dinge einan­der anver­wan­delt. Ich möchte ein­fach, dass man in eine Welt ein­taucht, die einen ein wenig ent­führt; an die man glaubt; in der alles möglich ist. Eine Welt, in der die Dinge zu leben begin­nen. Eine sinnliche Welt, in der sich Geruch, Ton, Visuelles bis hin zum Kuli­nar­ischen ver­mis­chen.

Beduftest du die Räume auch?

Ja. Also, nicht alle. Manche duften schon von sich aus, da muss man gar nicht nach­helfen. Einige riechen mod­rig – und wenn ich unten Apfelkuchen backe, duftet das bis oben hin, durchs ganze Haus.

Das Schloss Kiesen befind­et sich ja in ein­er kleinen Gemeinde im Grü­nen. Es wird Kun­st aus­gestellt und ein Pub­likum ange­sprochen, das vielle­icht son­st nicht unbe­d­ingt in ein Muse­um gehen würde. Warum bist du inter­essiert, im Schloss etwas zu machen und nicht in einem Muse­um?

Du hast es ja schon gesagt. Eben, um möglichst ein neues Pub­likum anzus­prechen und den Leuten diese Hemm­schwelle zu nehmen. Die Leute haben Angst vor der Kun­st. Man muss ver­suchen diese Hem­mungen aufzulösen und ich glaube, das ist mir hier wirk­lich gelun­gen. Es kom­men Men­schen hier­her, die noch nie in einem Muse­um waren. Manche habe ich im Dorf gese­hen und ein­ge­laden und sie haben abgelehnt: «Nein, das ist doch nichts für mich. Ich ver­ste­he doch nichts von Kun­st!» Ich antworte auf so etwas dann: «Du brauchst es ja auch nicht zu ver­ste­hen. Komm nur und ich bin sich­er, es wird dir gefall­en!» Die Leute sind dann ganz skep­tisch, sagen aber zu. Nach ihrem Besuch sind mir manche fast um den Hals gefall­en. Die waren so begeis­tert und haben gemeint, dass sie so etwas noch nie gese­hen hät­ten. Das berührt, wenn man das erre­icht.

Hat sich in Kiesen etwas verän­dert seit die Ausstel­lung existiert?

Nicht nur in Kiesen. Ich habe das Ganze ja auch schon mal in Bern gemacht, im Hotel Schweiz­er­hof. Da kamen 5 000 Leute in drei Tagen. Das ist Wahnsinn; das kriegt kein Muse­um hin! Das war für mich auch der auss­chlaggebende Punkt, an dem ich mir gedacht habe: «Okay, wenn die Leute nicht ins Muse­um wollen, dann muss ich das irgend­wie anders machen.» Ich mache ja auch diese Essen, und wenn dann ein Bauer neben der Muse­ums­di­rek­torin von Thun sitzt und die miteinan­der ein nor­males Gespräch führen kön­nen, dann finde ich das ein­fach toll. Und dass dabei alles ein biss­chen nor­maler wird und nicht so abge­hoben. Das hier ist ein sehr offen­er und «nor­maler» Ort. Man kann hier Kaf­fee trinken, man kann Pas­ta essen. Man kann hier sein und bleiben. Die Leute fühlen sich wohl.

Du beton­st die Gesamtwirkung des Schloss­es. Doch auch hier hat man das Gefühl, sich in einem klas­sis­chen Ausstel­lungskon­text zu befind­en. Immer­hin hän­gen Bilder an den Wän­den. Wie siehst du das?

Es sind nicht nur die Bilder, die wichtig sind. Es ist das ganze Schloss als Gesamtin­stal­la­tion, in der jedes Detail seine Berech­ti­gung hat und eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte mich nicht fes­tle­gen auf ein bes­timmtes Medi­um. Ich glaube, ich arbeite doch sehr vielschichtig. Ich mache Fotos, Videos, Per­for­mances und Instal­la­tio­nen. Vielle­icht müsste ich auch ein­fach mal gar kein Bild zeigen. Näch­stes Jahr mache ich etwas im Keller, vielle­icht nur mit Ton und Licht.

Du konzip­ierst jet­zt im Win­ter deine näch­ste Ausstel­lung?

Ich arbeite diesen Win­ter daran, so dass sie im näch­sten Som­mer gezeigt wer­den kann. Die Stadt­be­hör­den ver­ste­hen das nicht und wollen mich deshalb nicht unter­stützen. Sie fra­gen: «Wieso wieder am sel­ben Ort?» Das hier ist ein solch pos­i­tiv­er Ort. Solange die Leute hier­her kom­men und begeis­tert sind, muss ich das doch aus­nutzen. Solange ich hier leben kann sowieso. Zum ersten Mal füh­le ich mich kom­plett. Hier kommt wirk­lich alles zusam­men. Kun­st und Leben ist nicht mehr trennbar. Wenn mich jemand anruft, dann hören diejeni­gen, die ger­ade Video schauen, mit. Aber das ist doch irgend­wie schön. Die Besuch­er find­en mich dann und erzählen mir, was da abge­gan­gen ist auf meinem Anruf­beant­worter: «Deine Mut­ter hat dich angerufen. Ich grat­uliere dir auch zum Geburt­stag!» (lacht)

Wie wird diese Ausstel­lung denn ausse­hen? Kön­ntest du dir vorstellen, andere bildende Kün­stler einzu­laden? Beim jet­zi­gen Rah­men­pro­gramm wirken ja auch andere Leute mit.

Bildende Kün­stler weniger, das ist mir zu nah. Das wäre dann fast wie eine Konkur­renz – oder ich würde ganz ein­fach zur Kura­torin. Aber wenn es ein anderes Medi­um ist, dann ist das befruch­t­end und gut. Mit der Tänz­erin Anna Huber zum Beispiel möchte ich gerne etwas machen. Ich finde sie eine tolle Frau und es geht uns in unser­er Arbeit eigentlich um genau das­selbe, um Kör­p­er und Raum. Das passt ein­fach super zusam­men. Eine ähn­liche Zusam­me­nar­beit kann ich mir mit ein­er Sän­gerin vorstellen. Ich möchte Medi­en ver­mis­chen und vor allem dieses Denken in fes­ten Kat­e­gorien aufheben.

Du hast in Thun in ein­er Ate­lierge­mein­schaft gear­beit­et. Wie ist das denn, wenn man auf so engem Raum mit anderen Kün­stlern zusam­me­nar­beit­et?

Ich kon­nte das eben nie. Ich habe dort sel­ten gear­beit­et und wenn, dann nachts. Ich fühlte mich dann immer beobachtet. Ich schliesse
mich lieber in Häuser ein und komme erst wieder her­aus, wenn eine Arbeit fer­tig ist. Auf dem Bür­gen­stock habe ich ein halbes Jahr gelebt und gear­beit­et. Im Schweiz­er­hof in Bern auch. Das war toll, total inten­siv. Ich war ganz alleine mit diesem Haus und kon­nte mich wirk­lich aus­to­ben. Und doch war dieses kon­stante Allein­sein ein biss­chen krank, fand ich; die totale Vere­in­samung. Dage­gen bin ich hier so offen wie noch nie. Ich komme bess­er mit Leuten klar. Alles ist anders und das tut mir gut.

Du hast hier im Schloss also keinen Raum, von dem du sagen kön­ntest, dass er dir gehört? Hältst du dich über­all auf?

Ja, genau. Die Leute fra­gen mich immer: «Wo wohnst du eigentlich?» Ich wohne über­all und nir­gends. Zum Wohnen habe ich nicht viel Zeit. Alles ist öffentlich. Mein Büro ist in die hin­ter­ste Ecke gedrängt, hin­ter die grosse Lein­wand mit dem Video. Mein Pri­vatleben ist beschränkt auf das Min­i­mum. Am per­sön­lich­sten ist noch die Küche, da lasse ich nur meine eng­sten Fre­unde hinein.

Gibt es für dich denn auch keine Tren­nung zwis­chen Pri­vat­sphäre und Kun­st?

Nein. Ich finde das auch schön; alles ist offen und läuft ineinan­der über. Ich weiss auch nicht genau, wo meine Kun­st anfängt und wo sie aufhört, wo meine Insze­nierun­gen anfan­gen. Bin ich jet­zt insze­niert? (Chan­tal Michel zeigt auf ihre Klei­dung.) Ich weiss es nicht. Schon bei der Klei­dung war es immer so. Ich wusste nie, ob das jet­zt über­trieben ist. Sind wir Men­schen nicht alle total insze­niert?

Am Woch­enende kochst du für die Gäste und trittst dabei als Dien­st­mäd­chen oder Köchin in Erschei­n­ung. In Bericht­en wirst du aber auch oft als Schlossh­er­rin beze­ich­net. Was bist du denn, Servier­tochter oder Schloss­be­sitzerin?

Ich bin von allem ein biss­chen. Ich bin das, was es ger­ade braucht. Wieso muss man alles so tren­nen? Wieso muss man alles so definieren? Ich bin das, was ich bin und zum ersten Mal füh­le ich mich kom­plett, weil ich alles leben kann, was in mir steckt. Man ist doch nicht nur das eine oder andere.

Dies bringt uns auch auf die Inhalte dein­er Arbeit­en. Sobald man sich als Frau vor der Kam­era insze­niert, wird man in einem fem­i­nis­tis­chen Diskurs ver­han­delt. Wie wohl fühlst du dich damit?

Ich ver­ste­he nie, wieso man diese Inhalte direkt auf meine Per­son überträgt. Ich the­ma­tisiere ein­fach Dinge, die mich beschäfti­gen, die um mich herum passieren. Ich bin ein Spiegel der Gesellschaft. Aber ich bin keine Fem­i­nistin, über­haupt nicht. Ich bin ein­fach eine Frau, die ihren Kör­p­er als Mate­r­i­al ver­wen­det, ähn­lich wie eine Tänz­erin vielle­icht. Wenn ich ein Mann wäre, würde es ein wenig anders ausse­hen, aber ich denke, es würde im Prinzip um das­selbe gehen. Um Män­nerk­lis­chees vielle­icht.

Ich finde es in diesem Zusam­men­hang inter­es­sant, dass du bei der Bilder­serie Vic­tor nicht deinen eige­nen Kör­p­er ver­wen­det hast, son­dern einen männlichen Kör­p­er.

Das war ein Zufall. Ich kann nicht zu jeman­dem sagen: «Hey, stell dich da hin und mach das!» Ich muss den Raum sel­ber erleben, ihn mit meinem Kör­p­er erforschen und auf­spüren. Ich kann das auch nicht erk­lären. Es ist wie ein Ver­liebt­sein, irgend­wie passiert da etwas zwis­chen mir und dem Raum und dann kom­men auch die Ideen. Doch ich habe nicht wirk­lich eine Idee oder ein Konzept, ich gehe ganz intu­itiv auf den Raum ein. Und dann brauche ich immer einen Assis­ten­ten. Jeman­den, den ich vor die Kam­era stelle, damit ich das Licht ein­stellen und die Posi­tion der Fig­ur bes­tim­men kann. Der Mann auf den Fotos ist ein Fre­und von mir, den ich damals bei den Vor­bere­itun­gen im Hotel Schweiz­er­hof in Bern ken­nen­gel­ernt habe und der wis­sen wollte, wie ich arbeite. Er kon­nte sich nicht vorstellen, was ich ein halbes Jahr lang in diesem Hotel getan habe. So habe ich ihn zu meinem Assis­ten­ten gemacht und ihn mitgenom­men zu einem neuen Foto-shoot­ing. Als er vor der Kam­era stand, war das ein­fach super; dieser eck­ige Mann mit diesen Pol­ster­mö­beln. Mit mir funk­tion­ierte das halb so gut. Darum hat sich das dann mit Vic­tor ergeben. Heute ist er ein­er mein­er besten Fre­unde. Wenn durch das harte Arbeit­en auch noch men­schliche Dinge passieren, finde ich das wun­der­schön. Ich kann dann sagen: «Hey, es hat sich gelohnt!»

Was machst du denn, wenn eine kün­st­lerische Block­ade ein­tritt?

Ich hat­te das früher oft. Heute habe ich dieses Ver­trauen, dass es immer irgend­wie weit­erge­ht. Die Welt ist voller Über­raschun­gen, die ich mir nie hätte träu­men lassen. Man muss die Dinge in Angriff nehmen und sie ein­fach tun. Nicht träu­men – machen!


Mit­tler­weile sind die Tore von Schloss Kiesen geschlossen. Aber nicht ganz: Wer im neuen Jahr an einem Din­ner von Chan­tal Michel teil­nimmt, den lässt die Kün­st­lerin noch ein­mal in die unverän­derten Räume ein­treten. Zum Essen lädt sie am 30. Jan­u­ar sowie am 6., 13., 20. und 27. Feb­ru­ar ein. Der Abend kostet 48 Franken. Anmel­dun­gen oblig­a­torisch unter der Num­mer 031 311 21 90 (Tel./Fax.). Hin­ter­lassen Sie Name und Tele­fon­num­mer!

Infos: www.chantalmichel.ch

Foto: zVg.
ensuite, Dezem­ber 2009