Von Anna Sheryakova - Stellen sie sich vor: Ihnen wird ein alter Überseekoffer vor die Türe gestellt. Darin befinden sich Mappen mit unzähligen losen Blättern. Zum grössten Teil sind sie nicht numeriert und zeigen keinen direkten Zusammenhang. Sie lesen die ersten gekritzelten Seiten und die Geschichte beginnt sich zu formen und sie hineinzuziehen. Und so suchen sie, die Seiten sortierend, die Fortsetzung…
Kurz nach seiner Emigration aus Deutschland, im Jahr 1933 liess Klee seine Dokumente aus der Zeit des Unterrichts am Bauhaus in Weimar und Dessau (wo unter anderen auch Wassily Kandinsky, Walter Gropius, Lyonel Feininger, Làszlo Moholy-Nagy unterrichteten) und an der Düsseldorfer Akademie, in einem Überseekoffer in die Schweiz schicken. Rolf Bürgi, sein Berater und Vermögensverwalter, brachte Paul Klee dieses Material aus Deutschland nach Bern. Noch während seiner Arbeit am Bauhaus hatte er einen kleinen Teil daraus publiziert, weitere Veröffentlichungen waren geplant. Aber als es klar wurde, dass sich keine weiteren Publikationsprojekte verwirklichen liessen legte Paul Klee diese Aufzeichnungen zur Seite. Der Koffer stand bei ihm während seinen letzten 7 Jahren er rührte diese Arbeiten nicht mehr an. Es war für ihn wie ein abgeschlossenes Kapitel. Deswegen fehlt wahrscheinlich eine von Paul Klee gemachte, abschliessende Fassung seiner Kunsttheorie.
Als Paul Klee 1940 im Krankenhaus Sant’Agnese in Locarno-Muralto starb, begann seine Frau Lily Klee, zusammen mit Jürg Spiller, einem Basler Studenten der Kunstgeschichte, die Numerierung der Dokumente und Mappen zu bestimmen. Man geht davon aus, dass die beiden das Material so geordnet haben, wie es Klee angelegt hat. Vermutlich wurde hier nichts vermischt. Nach dem unerwarteten Tod von Lily Klee 1946 verwaltete Jürg Spiller diese Texten 49 Mappen (mit fast 4’000 Manuskriptseiten) des theoretisch-didaktischen Werks, welches heute als „Pädagogischer Nachlass“ bekannt ist, allein. Nur: Zwar hat Spiller viel von Klee verstanden, doch die historischen Kontexte interessierten ihn nicht. So publizierte er 1956 nach seiner Auffassung und Interpretation in einem ersten Buch (Paul Klee Das bildnerische Denken) Teile daraus und fragte sich viel zu wenig, was Paul Klee eigentlich meinte und in welchen Kontexten der Künstler sie sah. Noch im gleichem Jahr gingen die gesamten kunsttheoretischen Schriften in den Besitz der Paul-Klee-Stiftung über und 1959 publizierte Professor Max Huggler (1903 1995; Kunsthistoriker und Kleekenner) erstmals eine starke Kritik über das Vorgehen von Jürg Spiller und dessen eigenmächtigem Verhalten.
„Die Farbe hat mich… Ich bin ein Maler“ — Paul Klee in seinem Tagebuch 1914
Deswegen, nach allem, was ich über diesen Schriften gelesen habe, blieben mehrere Fragen. In einem Gespräch mit Herrn Dr. Michael Baumgartner, dem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Zentrum Paul Klee, wurde vieles klarer:
Herr Baumgartner, gibt es irgendwelche Anweisungen von Paul Klee zu diesen Schriften, was damit nach seinem Tod passieren soll?
Nein das gibt es nicht. Es gibt keine spezielle Anweisungen zu dieser Schriften und Skizzen. Wir wissen nur ganz genau, dass Klee während der Bauhaus Zeit „Die Bildnerische Mechanik“ publizieren wollte und er gewisse Ideen hatte, wie dies Material zu edieren wäre. Er hat ein Inhaltsverzeichnis gemacht: „Bildnerische Gestaltungslehre“ — wo fast alle diese Manuskripte ausgeführt sind. Dieses Inhaltsverzeichnis zur Gestaltungslehre ist eigentlich seine Anweisung und ein Schlüssel, wie man das alles zu verstehen hat. Aber es ist sehr schwierig alle Blätter einem bestimmten Zeitpunkt zuzuordnen, weil Klee sie nicht datierte! Die Datierung ist ein grosses Problem bei diesem Material. Man muss es interpretieren! Das ist klar. Aber man muss sagen wo man interpretiert und wo man zitiert. Bei Jürg Spiller ist dies aber nicht der Fall. Oft weißt man nicht, ob es Spillers oder Klees Aussage ist. Spiller erwähnt nicht welche Skizzen in welchem theoretischen Kontext entstanden sind. Er hat einfach alles kurzgeschlossen und so zusammengenommen, wie es ihm gerade passte. Und all das führte natürlich zu Verfälschungen und Verzerrungen der originalen Ideen.
Wie kann oder soll man mit solchen Autorenschriften bei einer Publikation umgehen? Soll ein Wissenschaftler/ Herausgeber überhaupt eine Interpretation darbieten?
Es ist klar, dass man bei solchen Publikationen auch kommentiert. Ohne Kommentar bleiben diese Publikationen für breites Publikum mit grosser Wahrscheinlichkeit unverständlich. Nun muss man aber nicht die eigene Meinung mit der Meinung vom Autor verwechseln. Eine solche Arbeit verlangt von den Wissenschaftlern nicht nur Kenntnisse des gesamten Materials, sondern auch grossen Respekt. Nur so wird die Publikation die Echtheit des Originals gewährleisten.
Wie aktuell sind diese theoretischen Schriften heute? Wie haben sie die Kunst-Theorie 20. Jahrhundert geprägt?
Ob sie heute aktuell sind? Ja, gewiss, aber hm, die Frage ist doch sehr schwierig zu beantworten. Klee war vor allem in der Nachkriegszeit als Kunstpädagoge und Theoretiker wichtig in den Gestaltungsschulen, die sich am Bauhausmodell orientiert haben. Da war Klee ein wichtiger Anknüpfungspunkt für den gestalterischen Unterricht, um jungen Gestalter und Künstler zu zeigen, worauf es in der Gestaltung ankommt. Es ist erstaunlich wie viele Künstler, Musiker aber auch Wissenschaftler, Naturwissenschaftler sich immer wieder auf Klee bezogen haben, in dem sie seine Schriften, sein „Pädagogischen Skizzenbuch“, gelesen haben. Klee war ein Anreger für Künstler, aber er hat nicht eine eigentliche Nachfolge gebildet. Künstler sind Individuen und zu erkennen, was sie auslösen, ist sehr schwierig zu sagen. Was hat Andy Warhol ausgelöst? Das ist genau so schwierig zu fassen. Wir haben es auf jeden Fall mit sehr starke Positionen in ihrer Zeit zu tun, die eben ausstrahlen. Klee wird heute vielleicht nicht so breit wahrgenommen wie vor zwanzig Jahren. Anderseits hat sich gerade Renzo Piano, der Architekt des Zentrum Paul Klee, in seiner Arbeit sehr stark auf Klee bezogen. Für ihn ist Klee wie ein Geistesverwandter.
Welchen Zusammenhang haben die theoretischen Schriften von Klee und seine Bilder? Kann man „Klee ‑Künstler“ von „Klee-Theoretiker“ überhaupt trennen? Sind diese „Teile“ nicht ineinander verflochten?
Klee arbeitete an diesen Schriften während 13 bis 15 Jahren und in dieser Periode lässt sich der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis deutlich verfolgen. Doch bei Klee sind diese Verbindung nicht so eindeutig, direkt und kontinuierlich wie zum Beispiel bei Kandinsky! Klee hat keine Theorie ausgearbeitet, die er danach eins zu eins in Bilder umgesetzt hat.
Tragen diese Schriften zum Verständnis der Klees Werken bei oder sind diese Schriften eher für Fachpublikum von Interesse?
Die Frage der Wahrnehmung ist immer komplex. Es gibt natürlich verschiedene Arten von Zugang zu Kunst. Man muss nicht unbedingt ein Experte sein. Ich bin zum Beispiel ein Laie in Musik. Ich verstehe davon nicht so viel wie ein Komponist oder Dirigent und ich nehme die Musik anders als sie wahr. Aber ich geniesse und verstehe Musik auf meine Art. Gleiches gilt für Klees-Bilder. Die Bilder sind ohne Kenntnisse seiner theoretischen Werke verständlich. Kinder haben übrigens ein grosses Verständnis für seine Bilder und es ist sehr interessant, wie sie jene interpretieren, wenn man sie fragt, was sie sehen!
Wie werden diese Materialen in Zentrum Paul Klee dargestellt?
Wir werden diese Materialen vollständig digitalisieren, sie werden auch auf Mikrofilmen zur Verfügung stehen. Geplant sind auch gezielte thematische Ausstellungen mit Führungen zur diesen theoretischen Arbeiten. In etwa zwei Jahren werden wir zu den erwähnten Skizzen, Materialien und Texten eine eigene wissenschaftliche Arbeit, mit Kommentaren veröffentlichen.
„Ich habe im Gegensatz zu diesen Menschen (den von Leidenschaft erfüllten) eine raffiniert ökonomische Taktik in mir ausgebildet… Seither ist mir das Innerste allerheiligst verschlossen… Ganz sicher habe ich in produktiven Momenten den grossen Vorteil, ganz Ruhe zu sein, ganz nackt vor mir selber, kein Ich des Tages, ganz Ich-Summe, ganz Werkzeug.“
Paul Klee experimentierte und war zugleich Theoretiker der neuen Kunst. Überraschend sind aber seine unzählige Variationen der Figuren, der Farbtöne und Halbtöne, dem Fehlen trockener Rationalität, die man in solch intellektuellen Arbeiten eher erwarten müsste. Es erklärt vielleicht einen Grundsatz seiner Werke: die Selbstentwicklung der Form. Paul Klee interessierte sich nicht für das abgeschlossene Werk, sondern für den Weg, wie es geschaffen wurde. Die Gesetze der Natur, Bewegung und Entwicklung einer Form und nicht starre Abgeschlossenheit lenkten seine Aufmerksamkeit. Seine Bilder sind eine Art Visualisierung seines seelischen Suchens. So wie „Das schwarze Quadrat“ von Malevitsch kein Bild, sondern ein geistiges Manifest ist. Die Bilder von Klee sind Illustrationen zu seinen geistigen Experimenten. Wie ein Forschungsreisender, der nach seiner Fahrt in fremde Länder einen Reisebericht für die Geographische Gesellschaft schreibt, malte Klee seine Bilder. Wenn man seine Bilder nur als Kunstwerke betrachtet und zu verstehen versucht, findet man wohl keine schlüssige Antwort. Um sie zu begreifen, muss man sich bewusst sein, was der Maler schuf. In der Tat sind es Aquarellen, Gouachen, Collagen, Kreide- und Bleistiftzeichnungen. Doch sind es Gedichte in Farben der Gedanken und Berichte über die Orte wo sein Geist gewesen war. Aus seinem Tagebuch von 1910: „… ganz revolutionäre Entdeckung: Wichtiger als die Natur und ihr Studium ist die Einstellung auf den Inhalt des Malkastens. Ich muss dereinst auf dem Farbklavier der nebeneinander stehenden Aquarellnäpfe frei phantasieren können.“
Bild: Wikipedia
ensuite, Dezember 2004