Von Johannes Bösiger* - Höchste Zeit, dass genau diese Stimme genau diese Zeilen zum Klingen bringt! Anna Thalbach, eine der charaktervollsten Schauspielerinnen und Preisträgerin des Deutschen Hörbuchpreises, kommt am 2. Oktober für eine Lesung nach Zürich. Die Taufe des noch verlaglosen Buches «Fingerprints» des mehrfach ausgezeichneten Lyrikers Florian Seidel ist der Anlass, das sympathische Kellertheater Stadelhofen die adäquate Piazza. Ein Abend, an dem eine Lanze gebrochen wird für das Gedicht.
Aus den blauen Augen wird dem Gegenüber wache Schüchternheit entgegen geschleudert. Weit aufgerissen, observierend, fragend. Florian Seidel, 1966 in München geboren und seit bald zehn Jahren Heimat suchender Dauergast am Zürichsee, ist ein Seismograph. Einer, der den Ursprung dessen, was ihn umgibt, im eigenen Atem sucht. Und findet. Seine Gedichte lesen sich wie die in Meditation dem Geist abgerungene Essenz des Atems der Seele. Es sind Zeilen, die die Komplexität des Seins auf die essentiellen Fragen verdichten. «Mach dir den Kopf voll. / Nimm Bilder mit. / Das wird sie sein, hat sie gesagt, / deine Wette auf Unsterblichkeit», heisst’s da. Diese «Wette auf Unsterblichkeit» ist, wonach Seidels Lyrik jagt und doch nie zu einem Ziel kommt. Er bewegt sich in einem Genre, das heute ein Schattendasein fristet, sich von seinem Ursprung her gegen die so flüchtigen Erscheinungen der Gegenwart stemmt, gegen Poetry Slam, Rap, HipHop, das ewig-lustige Bloggen, das Chatten hier und dort – sie alle haben den Umgang mit Sprache zur Unverbindlichkeit gemacht.
«Einbeinig steht der Reiher / am Strassenrand und stellt die Weichen / oder wartet auf den grossen Fisch.», klingt’s in «Bergfest». Das Motiv des Wartens und Einhaltens stellt Seidel wieder und wieder der Flüchtigkeit der Gegenwart gegenüber. Die evozierten Bilder setzen sich fest, pendeln vom Greifbaren zum Surrealen, gehen beim Leser wie Knospen erst im Nachhall auf.
Sie sind über Jahre hinweg entstanden, und «Fingerprints» ist denn bereits der siebte Band aus Seidels Werkstatt, vereint Texte aus vorangegangenen Veröffentlichungen, weiter entwickelt, überarbeitet. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaftslehre hat er einen Brot-Beruf ergriffen, einen, der ihm die Freiheit gibt, der Suche nach dem richtigen Wort nachgehen zu können.
Lyrik präsentiert sich in dem, was Florian Seidel schreibt, als eine wohltuende Ausnahme von der Flüchtigkeit der Gegenwart. Ein Gedicht von Seidel zu lesen heisst, es nochmals und nochmals zu lesen. Mir, dem bei weitem nicht qualifizierten Lyrik-Laien und reinen «Amateur», sprich Liebhaber, öffnen sich Augen und Seele bei diesen Worten. Da kommt einer und ringt mit sich, mit dem, was die Seele an Gefühlen, Sehnsüchten, Träumen nach oben spült. Aus der Ferne der Literaturgeschichte lässt ein Prinz Jussuf von Else Lasker-Schüler grüssen. Da erschreibt sich einer nicht im Sinne einer Konsumzeile ein Stück innere Freiheit, immer in vollem Bewusstsein um den Wert und die Bedeutung der Worte. Er verdichtet die Worte, nimmt ihnen die Masse.
Das Gedicht ist hier ein, wie’s der sehr prägnante Titel von Seidels neuestem Werk sagt, Fingerabdruck: Beleg der Einzigartigkeit, der Individualität, die sich auch hinter Normierung, hinter Hülsen auftut. Sprache, ein kommunikativer Konsens von unter dem Dach von Nationen und Kulturen zusammengefassten Gruppierungen von Einzelindividuen, komprimiert sich hier zum Ausdruck der Identität eines Einzelnen. Seidels Sehnsucht nach Geborgenheit im eigenen Atem steckt den Leser an, begleitet ihn in diesen Gedichten.
Wenn Anna Thalbach nun dieses Pendeln zwischen kraftvoll bestimmten Bildern und den sanften, Zwischentöne und –farben erkundenden sowie oftmals surreal scheinenden Assoziationen liest, verspricht das eine kongeniale Deckung der Tonalitäten zu werden. Ein lustvolles Lanzen brechen verspricht das zu werden.
Die Begegnung mit Florian Seidel, irgendwo in einer Bar auf einem der ehemaligen Zürcher Brauereigelände, wird ergänzt durch Gabriella di Salvo, seine Lebenspartnerin. Sie, die in ihren abstrakten Gemälden das Motiv der «Fingerprints», grossflächiger Fingerabdrücke als gemalten Aufschrei der Individualität unserer aller Identitäten, aufgegriffen hat, ist das Gegenüber Seidels. Hier wird spürbar, wie im Dialog die Sehnsucht im eigenen Atem den Ansatz zu einer Antwort findet.
* ehemals Redakteur der NZZ, Drehbuchautor und Produzent (u.a. «Kinder der Landstrasse»), langjähriges Direktionsmitglied des Filmfestivals von Locarno und heute u.a. Co-Leiter der Sektion «Kulinarisches Kino» der Berlinale.
Bild: ona pinkus, Zürich / Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2009