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laStaempfli gegen Marco d’Eramo: «Die Welt hat Schlimmeres erlebt»

Die Polit­philosophin Reg­u­la Stämpfli schreibt einen Gegen­text zur
Inter­viewserie zu Coro­na im «Tages-Anzeiger»

Dies­mal sind der ital­ienis­che Sozi­ologe Mar­co d’Eramo und der Zürcher «Tages-Anzeiger» dran. Die Zeitung zitiert im Lead den Sozi­olo­gen, der nicht daran glaubt, dass Coro­na etwas an unseren Reisege­wohn­heit­en verän­dert hat: «Die Prophezeiun­gen, die während des Lock­down gemacht wur­den, seien alle lächer­lich – ‹ein gross­es Blabla›.» Falsch, meint Stämpfli und antwortet auf die «Tages-Anzeiger»-Fragen völ­lig anders.

«Frau Stämpfli. Wir erre­ichen Sie in Ihrer Münch­n­er Stadt­woh­nung. Warum sind Sie nicht am Strand?»
Erstens befind­et sich der näch­st­mögliche Strand am Starn­berg­er See und rund 40 Minuten per Auto von mir ent­fer­nt. 70 Minuten, falls ich die öffentlichen Verkehrsmit­tel nehmen würde, was ich mir in Coro­na-Zeit­en mit Maskenpflicht so sel­ten wie möglich antue. Es ist zudem so heiss wie noch nie und jede Bewe­gung treibt mir den Schweiss ins Gesicht. Trotz­dem bin ich anlässlich der ersten Coro­na-Lockerung gereist, und zwar nach Venedig. Es war die schön­ste Reise meines Lebens. Die Ästhetik berauscht mich bis heute: Ein Markus­platz ohne TouristIn­nen aus Übersee und Asien, ein Gran Caf­fé Quadri mit Tisch, der nicht nach zehn Minuten geräumt wer­den muss, das ist fan­tastisch.
Also ver­mis­sen Sie die Touris­ten gar nicht?
Den Massen­touris­mus sicher­lich nicht. Da hat das Virus allen Men­schen gezeigt, wie völ­lig irre sich die Welt in den let­zten Jahren gedreht hat. Reisen definierte sich durch Self­ie-Sta­tio­nen. Jet­zt sind sich auch die Ein­heimis­chen nicht mehr so fremd und sie ler­nen ihre Orte ganz anders ken­nen.
Und jet­zt, passiert da etwas in den Köpfen?
Selb­stver­ständlich. Selb­st der Barista in München oder Zürich real­isiert, dass er wieder einen Job hat, der ihn mit Men­schen und nicht ein­fach mit Kassen­füllern zusam­men­bringt. Die Massen­abfer­ti­gun­gen in den Kaf­fee­haus­ket­ten sind zusam­menge­brochen. Ich hoffe doch stark, sie kom­men nie mehr zurück. Der Massen­touris­mus hat nur mis­er­able Masse­nar­beit­splätze gebracht: Lei­har­bei­t­ende, die Massen­abfer­ti­gun­gen leis­ten mussten. Ich baue darauf, dass die Arbeit­splätze im neuen Qual­ität­s­touris­mus wieder einen Wert haben und bess­er bezahlt wer­den.
Sie argu­men­tieren laut Mar­co d’Eramo wie ein Lehrer, der es sich leis­ten kann, nicht vom Touris­mus abzuhän­gen.
Ach. Der Sozi­ologe achtet laut Han­nah Arendt viel zu sehr aus ein­er welt­frem­den Dis­tanz auf die Wirk­lichkeit. Wer wie d’Eramo behauptet, nichts würde sich verän­dern, lebt nicht in dieser Welt. Es hat sich alles verän­dert. Die let­zten drei Monate und auch die näch­sten Monate haben in die Schick­sale der Men­schen grosse Ein­schnitte gebracht und brin­gen sie immer noch. Die Dig­i­tal­isierung ist uns allen verord­net wor­den. Die Behör­den kon­nten (oder mussten) eine Radikalität durch­set­zen, die selb­st in Kriegszeit­en nicht stat­tfand: Bars und The­ater blieben immer geöffnet. Selb­st die Schulen wur­den weit­er unter­hal­ten, doch Coro­na zwang alle Men­schen hin­ter die Bild­schirme. Angesichts solch­er Ein­schnitte zu behaupten, nichts hätte sich verän­dert, macht mich fas­sungs­los.
Sie freuen sich über die fehlen­den TouristIn­nen. Doch wenn die fehlen, liegt die lokale Wirtschaft am Boden. Warum begeben sich gewisse Städte und sog­ar ganze Län­der in diese Abhängigkeit?
Viele Städte, ja sog­ar ganze Län­der haben sich in eine Touris­mus-Abhängigkeit begeben. Das ist ver­heerend. Die Behör­den und Eliten haben sich schon längst von der öffentlichen Stadt ver­ab­schiedet und auf Shop­ping­malls mit Bil­lig­pro­duk­ten ein­er­seits und Luxu­squartiere mit Luxu­skneipen und ‑shops ander­er­seits geset­zt. Das ist ein regel­rechter Demokratie-Ver­nich­tung­sur­ban­is­mus. Die wun­der­baren Städte Europas wur­den von kleineren und mit­tleren Gewerb­lerIn­nen gebaut und erkämpft. «Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag», bedeutete im Mit­te­lal­ter, dass, wer sich ein Jahr ohne Sozialleis­tun­gen und Schulden in der Stadt durch­schla­gen, auch seine Leibeigen­schaft abschüt­teln kon­nte. Städte leben durch Öffentlichkeit: nicht von Luxus­woh­nun­gen, nicht von pri­vat­en Trans­portun­ternehmen, die Men­schen­massen durch die Ins­ta-Plätze schleusen und nicht von Mul­ti­mil­lionärIn­nen, die ganze Quartiere zu Geis­terorten machen. Es gibt unendlich viel Geld, Zeit und Energie in Europa, die Städte zu wahrhaften Polis umzugestal­ten. Es wäre viel entschei­den­der, zu fra­gen, weshalb dies nicht schon längst getan wurde.
Wie bei jedem Mega­trend gibt es auch zum glob­al­isierten Touris­mus einen Gegen­trend. Viele junge Men­schen fliegen nicht mehr und machen lieber in der Nähe Ferien. Kön­nen Sie sich vorstellen, dass Coro­na, das uns zu Ferien im Heimat­land gezwun­gen hat, diese Bewe­gung befeuert?
Sie fra­gen völ­lig apoli­tisch. Die jun­gen Leute wer­den wie früher dumm herum­fliegen, weil sie die wahren Kosten nicht tra­gen müssen. Es braucht seit Jahrzehn­ten eine Kosten­wahrheit für den Massen­touris­mus. Ver­hal­ten ändert sich mit Poli­tik, nicht mit Trends. Das scheinen indessen auch die Fri­day-for-Future-Bewe­gun­gen manch­mal vergessen zu haben. Sie moral­isieren lieber, als dass sie konkrete Poli­tiken fordern.
Also wer­den Luzern, Venedig, Rom, ja sog­ar München beim Okto­ber­fest 2021 wieder über­ran­nt.
Solange Europa den Ausverkauf Europas an Chi­na, den Massen­touris­mus vorantreibt und die Agrar­sub­ven­tio­nen auss­chliesslich in die Massen­tier­hal­tung steckt sowie Mas­sen­glob­al­isierung mit absur­den Frei­han­delsverträ­gen, die die Demokratie auszuhe­beln ver­suchen, fördert, wer­den die Städte nicht nur über­ran­nt, son­dern sie wer­den auch radikalisiert. Es wird immer mehr gewalt­tätige Auseinan­der­set­zun­gen sur place geben, wenn sich nach Coro­na nichts ändert.
Sie meinen, wenn sich nichts ändert, die Prof­it­gi­er also bleiben wird?
Nochmals: Es ist keine Gier, die uns in diese Mis­ere gebracht hat, son­dern Poli­tik und die organ­isierte Ver­ant­wor­tungslosigkeit viel­er Poli­tik­er (hier ist das Geschlecht mit Absicht gewählt).
Sie glauben also an eine Rev­o­lu­tion, damit nicht alles beim Alten bleibt?
Nein. Erstens glaube ich nichts, son­dern analysiere, zeige auf und disku­tiere und zweit­ens: im Gegen­teil. Ich will die Rev­o­lu­tion eigentlich ver­hin­dern, da sie eine gewalt­tätige und keine tänz­erische sein wird, wie wir sie alle gerne haben möcht­en. Ich weiss, dass sich mit sehr ein­fachen poli­tis­chen Mass­nah­men die Welt von heute auf mor­gen verän­dern liesse.
Und die wären?
(seufzt). Wie schön wäre es doch, Medi­en­men­schen und Poli­tik­er wür­den mal wieder einige Büch­er lesen, in denen alle ein­fachen und durch­set­zbaren Mass­nah­men aufge­lis­tet sind. Zum Beispiel die dig­i­tale Daten­s­teuer, die Open-Source-Zer­split­terung des Net­zes, die Ver­fas­sungstrans­for­ma­tion des dig­i­tal­en Raumes: Was im Grun­drecht nicht geht, hat bspw. auch auf Twit­ter oder Face­book keinen Platz. Die Inter­nal­isierung extern­er Kosten, etwas, was ich mal Müll­s­teuer genan­nt habe. Dann Abschaf­fung des Kred­it­punk­tesys­tems für Men­schen, die Auf­forstung der tro­pis­chen Regen­wälder, übri­gens sehr ein­fach zu bew­erk­stel­li­gen – siehe die Berech­nun­gen von Har­ald Welz­er und Maja Göpel. Dazu die sehr ein­fach zu bew­erk­stel­lende Trans­for­ma­tion der Arbeit – weg mit den Bull­shitjobs. Gle­ichzeit­ig mehr ökol­o­gis­che Genossen­schaften in der Land­wirtschaft, das Ver­bot der Agrar­sub­ven­tio­nen für indus­trielle Agrarindus­trie. Die Bil­dungspläne der Wirk­lichkeit und nicht der Bil­dungs­bürokratie anpassen – auch hier müssen viele Bull­shitjobs der Bil­dungs­plan­er gestrichen wer­den zugun­sten von mehr Lehrkräften und kleineren Klassen. Men­sch, echt: Es gibt so viele gute Pro­jek­te, macht die doch endlich ein­fach mal nach!
Wer ste­ht Refor­men und ökol­o­gis­chem Wan­del am meis­ten im Weg?
Eine unheilige Allianz der nation­al­is­tis­chen Recht­en und der glob­al­is­tis­chen und immer noch sow­jetisch inspiri­erten Linken. Die einen wollen die Demokratie von säku­laren Mul­ti­kul­tur­al­is­mus säu­bern, die anderen wollen mit­tels geistiger Erneuerung und Sprache ihr Sys­tem durch­set­zen. Eine klas­sis­che Kon­stel­la­tion in Krisen­zeit­en, wie schon Han­nah Arendt wusste.
Diese Kräfte sind immer noch sehr stark. Also bleibt doch alles beim Alten!
Nein. Alles ist schon längst anders gewor­den. Dies ist nicht zulet­zt dadurch erkennbar, dass sich die alten Eliten wie der Teufel für ihre Priv­i­legien wehren. Selb­st wenn es momen­tan nicht danach aussieht: Europa, nicht die EU, son­dern die Men­schen wer­den mit­tels genossen­schaftlich­er, föderaler, regionaler und demokratis­ch­er Lösun­gen die alten, glob­alen, kor­rupten Eliten inklu­sive islamistis­ch­er Hohlköpfe beseit­i­gen kön­nen. Ein erster Schritt in diese Rich­tung wäre bspw. die Auf­nahme von Mil­lio­nen von Flüchtlin­gen aus Hongkong – doch da wären wir bei einem anderen The­ma. Den­noch: Ein mul­ti­kul­turelles Europa mit jun­gen, klu­gen Kräften aus dem ara­bis­chen und chi­ne­sis­chen Raum, die nichts anderes wollen als Demokratie, Frei­heit und Teil­habegerechtigkeit, liegt dur­chaus nah. Wir dür­fen ein­fach nicht die alten, klas­sis­chen Ver­bände regieren lassen (dazu gehören teils auch die Gew­erkschafts­funk­tionäre, da habe ich ganz per­sön­liche Erfahrun­gen, lei­der …), son­dern wir müssen uns alle in genossen­schaftlichen, gew­erkschaftlichen, fem­i­nis­tis­chen, föder­al­is­tis­chen, regionalen Vere­inen und Bewe­gun­gen engagieren.

 

Polit­philosophin und Besteller­autorin
Die Ende der 60er-Jahre geborene Polit­philosophin und Pub­lizistin Dr. Reg­u­la Stämpfli wuchs in der Lor­raine in Bern auf und studierte in Bern, Zürich, Berlin und N.Y. Sie arbeit­ete in ver­schiede­nen lei­t­en­den Funk­tio­nen, u. a. als Dozentin an der Schweiz­erischen Jour­nal­is­ten­schule MAZ Luzern, am Inter­na­tionalen Forum für Design IFG Ulm, der Köl­ner Fach­hochschule und dem schweiz­erischen Ethikrat für Sta­tis­tik. Momen­tan lehrt sie poli­tis­che Philoso­phie an der Uni­ver­sität St. Gallen. Seit über zwanzig Jahren ist sie unab­hängige Bera­terin ver­schieden­er EU-Insti­tu­tio­nen und Co-Grün­derin der Europäis­chen Bürg­erini­tia­tive, Euro­pean Cit­i­zen Ini­tia­tive ECI. Sie ist Vor­standsmit­glied von swiss­fu­ture, der Schweiz­erischen Vere­ini­gung für Zukun­fts­forschung, und Co-Präsi­dentin der IG Freien bei der Gew­erkschaft Syn­di­com, Mit­glied des Autoren- und Autorin­nen­ver­ban­des der Schweiz etc. Mit Dr. phil. Isabel Rohn­er ist sie Co-Host von «Die Pod­castin – der fem­i­nis­tis­che Wochen­rück­blick». 2016 wurde laS­taempfli, so ihr Zwitsch­er­name auf Twit­ter, unter die 100 ein­flussre­ich­sten Busi­ness­frauen gewählt.