Januar: Worldly statt Selfie. Entwurf einer digitalen (Frauen)Demokratie für #50JahreFrauenstimmrecht
Zum Auftakt des Jahres ein Glücksfall. Isabel Rohner, die fabelhafte Krimiautorin von „Schöner Morden“ und „Taugenixen“ gibt mit der ebenso eindrucksvollen Irène Maria Schäppi, Lifestyle-Chefin von 20 Minuten, das wichtigste Buch für das Jahr 2021 heraus: 50 Jahre Frauenstimmrecht im Limmat-Verlag. Heute ist es schon in der zweiten Auflage und ich hab ja darauf gewettet, dass es #Bestseller2021 wird. Ich bin eine der 25 Frauen, die über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung im Band mit einem Aufsatz vertreten ist. Natürlich dreht sich bei mir alles um Korsette: Daten, Kilos, Fiktionen und die G‑Mafia. Ich breche das algorithmische Storytelling und sehe mich in bester Denkerinnen-Gesellschaft: Alle im Buch versammelten Artikel und Interviews sind einfach DER HAMMER. Hier erwähne ich den Jänner 2020, weil Isabel Rohner und Regula Stämpfli sich über diesem Projekt via Twitter näher kamen. Eine digitale Liebe auf ersten Tweet sozusagen, daraus entstand das unvergleichliche Projekt: „DiePodcastin. Isabel Rohner und Regula Stämpfli erklären die Welt“, zu hören auf www.diepodcastin.de seit Juni 2020.
Literatur: 50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung von Isabel Rohner und Irène Schäppi (Hg), Limmat 2019.
Februar: « Inscriptions en relation », Paris, Palais de la Porte Dorée, 14–16 février 2020
Welche Folgen hatte die globale Finanzkrise von 2008 ? Chinas überwachungskapitalistische Diktatur findet auch im Westen ihre Ableger, die Schweiz schliesst 2014 ein Handelsabkommen mit der Weltmacht ab; TTIP wird nur durch die Wahl von Donald Trump ins Weisse Haus verhindert – die einzige positive Wirkung des Irren in Washington. Die Demokratie Griechenlands wird 2015 durch den Finanzcoup Schäubles in die Knie gezwungen; Terroranschläge in Nizza, München, Paris; 2016 Brexit; Erdogans Machtübernahme der Türkei; antisemitische Narrative, die von der Linken bis zu den Rechtsextremen in Polen wie Ungarn beklatscht werden; die Eroberung der Welt durch digitale Kreditpunktsysteme (Stämpfli in swissfuture 1/2020). Am 10. Februar 2020 berichtet der Tages-Anzeiger von einer Heuschreckenplage in Uganda. In Europa macht das Virus mit dem Namen Corona ziemlich schnell Karriere: Auch in Paris küssen sich Fremde erst nach einigem Zögern oder gar nicht mehr. Am 5. Februar war ich noch in Luzern, hab mit Vortrag zur „Zukunft der Arbeit“ gutes Geld verdient, meine zauberhafte Freundin besucht und mich auf vier Tage postkolonialistische Theorie vorbereitet. Achille Mbembe, grosser Denker, uneinsichtiger Israel-Hasser mit üblen antisemitischen Einschlag, meint: „Es gibt keinen Ort der Welt, an dem wir Afrikaner willkommen sind, nicht einmal in Afrika.“(SZ 10.1.2020) Die Konferenz in Paris zitiert diesen Satz nur, es sind tumulte Tage, wehmühtig verlasse ich die Stadt wissend, dass es wohl lange dauern wird bis ich hier wieder vor dem Gare du Lyon tanze. Den letzten öffentlichen Auftritt habe ich nach meiner Paris-Reise in Ingoldstadt bei der wunderbaren Janice Gondor, respektive Petra Klein und den anderen vielen tollen Frauen und Männer der Grünen Partei Deutschlands. Ich habe die Ehre, die Aschermittwochrede zu halten. Und das war es dann.
Literatur: Ruedi Baur. Visuelles Tagebuch Corona: ruedi-baur.eu
März: Clara von Rappard und mysteriöse Lungenkrankheit
Posttraumatisch komplexe Störungen aufgrund jahrzehntelanger Unsichtbarmachung und Stigmatisierung von Frauen werden von der männlichen Fachwelt gerne heruntergespielt. Dies ist kein Missgeschick und der Lauf der Geschichte, sondern Gewalt. Im Kunstmuseum Bern bestaunte ich die mir bisher unbekannte Clara von Rappard (1857–1912) zum Thema „Die Auflösung des Menschen in der Landschaft.“ Die Schweizer Malerin war Nomadin wie ich: Sie lernte in Venedig, Berlin, Rom, Hannover, München, sie galt zu ihrer Zeit als bekannteste Künstlerin der Schweiz. Ihre Arbeiten wurden in England, Frankreich, Schweiz und den USA gezeigt, sie hatte verschiedene Einzelausstellungen in Deutschland und… sie wurde von der bis in die Knochen patriarchalen Kunstwelt nach ihrem Tod so verleugnet wie alle anderen grossen Künstlerinnen, so dass selbst 2020 beschränkte Journalisten fragen: „Weshalb gibt es so wenig grosse Künstlerinnen?“ Rappards „Die Jungrau im Nebel“ erzählt davon wie verletzlich Natur und Menschen gegenüber den gewaltigen Maschinenkräften geworden sind, atemberaubend schön. Dies passt zum Freitag, dem 13. März, dem Tag als der europaweite Lockdown begann. Die mysteriöse Lungenkrankheit, wie sie im Januar 2020 noch bezeichnet wurde, hatte nicht nur einen Namen, sondern einen Fachbegriff: Die Corona-Pandemie.
Literatur: Great Women Artists. Phaidon.
April: Heldinnen des Alltags. Sogar der Papst meldet sich.
Corona – wie Covid19 noch heisst– verwandelt den Himmel in ein unendliches Blau und verordnet Europa eine grosse Stille. Diese Ruhe gilt nur für Einige: Denn auch in Corona bleiben die Habenden gleicher, privilegierter, freier, gesegneter, vielfältiger als die Nicht-Habenden.
Plötzlich reden alle von „systemrelevanten Berufen“ und meinen eigentlich die Frauen, die jedoch durch solche Begriffe unsichtbar gemacht werden. Ja klar. Es gibt die Müllmänner, Feuerwehr und die Busfahrer. Berufe, die Frauen lange verwehrt wurden. Pflege, Verwaltung, Bildungseinrichtungen indessen sind zum Grossteil weiblich und deshalb wenig sichtbar, wenig anerkannt und wenig entlöhnt. „Männer erklären, wie systemrelevant Frauen sind“ bringt die kluge Forscherin Elizabeth Prommer diesen Sachverhalt auf den Punkt. Gleichzeitig geben wichtige Männerintendanten lamentierende Interviews zu Kunst und Kultur. Auch der Papst, Schirmherr der mächtigsten globalen Männerorganisation neben BlackRock, twitterte eine Botschaft aus Rom: „Ihre Arbeit ist kein Job, vielmehr Berufung und Hingabe. Dafür geben sie in dieser Zeit ein heldenhaftes Beispiel.“ Doch mit schönen Worten „hat noch niemand gfrässä“ wie meine Mutter zu sagen pflegte. Vielen von uns wurde über Nacht Berufung weggenommen. Ich kenne zahlreiche weibliche Kulturschaffende, die sich im Laufe von 2020 völlig ausbildungsfremde Jobs suchen mussten. Viele von ihnen sind im Bildungswesen und in der Pflege untergekommen. Einige bleiben bei ihren gutverdienenden Ehemännern und wieder andere sind einfach am Rand ihrer Kräfte, wissen nicht wirklich, wie sie ihr Leben weiter finanzieren können. Von der Kinderbetreuung mag ich gar nicht reden, sonst höre ich nicht auf zu schreien. Vor allem in Deutschland hat die Corona-Misere ein weibliches Gesicht. In der Schweiz helfen zwar Überbrückungskredite, doch überall zieht der eisige Wind des Autoritarismus und Denunziantentums ein. Corona ist nur für diejenigen eine Chance, die sich Glück leisten können.
Literatur: Gabriele Winker. CARE Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, schon von 2015. Hilma Lutz. Die Hinterbühne der Care-Arbeit. Transnationale Perspektiven auf Care-Migration im geteilten Europa, 2018 im Beltz Verlag.
Mai: Das chinesische Virus stürzt die westlichen Demokratien in den Abgrund
Die Kombination von «monokausalen Narrativen» und «virologisch basierter Datenhoheit» habe ein «Zeitalter der totalen Gewissheit» geschaffen, schreibt die Politikwissenschafterin Regula Stämpfli für die NZZ. In ganz Europa erstarken die Qualitätsmedien: Die Leute wollen Urteilskraft, die Einordnung von richtig und falsch, von wahrhaftig und fake. Ich erinnere an alte Wahrheiten der Philosophie. Daran, dass der Verstand sehr wohl mit Statistiken so verwirrt werden kann, dass Freiheiten über Nacht verschwinden. Die üblichen Verdächtigen, die Männermeute in einigen Zeitungen versuchen mir mit diesem NZZ-Text eine „Querdenkerin“ zu machen, was ihnen so kläglich misslingt, dass einige sogar ihren Posten räumen müssen. Meine Analyse aus „Trumpism. Ein Phänomen verändert die Welt“ hält nicht nur Bestand, sondern findet grosse Verbreitung: „Datengestützte Wahrheiten, kombiniert mit postmodernen Narrativen, intendieren letztlich, monokausal den Sieg über die komplexe Wirklichkeit zu erringen. Die neuen digitalen Herren inklusive ihrer Instrumente «Plattformkapitalismus» sowie «Digitaler Überwachungsstaat» zerstören mittels der «Algorithmisierung der Welt» empirische Realitäten mit derart präzise berechneter Schlüssigkeit, dass der Unterschied zwischen Fiktion und Realität für die meisten von uns nicht mehr erkennbar ist.“ Im Januar 2021 ist vom „chinesischen Virus“ keine Rede mehr, Donald Trump sei Dank. Nur weil der Falsche mal etwas Richtiges gesagt hat, wird zwar das Richtige nicht falsch, doch dies ist den Shittroopern dieser Welt egal. Deshalb wird Kai Strittmatter nicht bei Markus Lanz eingeladen, obwohl er mit „Die Neuerfindung der Diktatur. Wie CHINA den digitalen Überwachungsstat aufbaut uns und damit herausfordert“ das Grundlagenwerk für westliche Demokratien geschaffen hat. Überhaupt: Die wirklich relevanten Themen gehen im Corona-Jahr unter. Olaf Scholz beispielsweise wird trotz Wirecard Kanzlerkandidat, echt jetzt?
Literatur: Regula Stämpfli. Trumpism, Ein Phänomen verändert die Welt. Münsterverlag 2018.
Juni: Delfine in Venedig
Die schrecklichen Bilder aus Bergamo weichen dem Stillstand zugunsten der Natur. An normalen Tagen flanieren Hunderttausende von Touristen durch die Altstadt in Venedig. Gondelfahrten, Fast-Food, Billigsouvenirs, lange Schlangen vor dem Guggenheim-Museum prägen den globalen Wahnsinn, der die schönste Stadt der Welt zerstört. 2020 erwacht Venedig und die Venezianer*innen. Erstmals wurde seit 60 Jahren in Venedig ein Delfin gesichtet, Schwäne, Wildschweine und Katzen eroberten sich die leeren Plätze zurück. An einigen Stellen konnten wir sogar bis auf den Grund der Kanäle sehen. Noch im Januar installierte Venedig für den Karneval Kameras, um die Personen zu zählen. Kameras blieben, Karneval wurde abgesagt. Ab Juli 2020 wollte Venedig ein Eintrittsgeld von drei Euro für Eintags-Touristen verlangen. Mittlerweile hat sich die Stadt erholt, hoffentlich kosten Eintagstouris dann 100 Euro, wenn die Pandemie vorbei ist. Venedig hat seine Seele wiedergefunden und soll sie doch bitte für alle Ewigkeit behalten.
Literatur: Klara Obermüller. Die Glocken von San Pantalon, Xanthippe 2020, 162 Seiten.
Juli: James Bond ist noch das kleinste Problem
Abgesagt: Die Festivalveranstaltenden sind „Les Misérables“ im 2020. James Bond wird vertagt. Doch dies ist definitiv nicht wichtig: Es hagelt überall virusbedingte Absagen. Bach-Festivals, Kleinkunsttage, Tanztage, Jugend musiziert, Technoclubs, Jazz-Festival, das beste aller Festivals überhaupt, das ORANGE BLOSSOM IN BEVERUNGEN, mein heissgeliebtes OBS (siehe Bild): ABGESAGT. Noch am 5. März 2020 meldete das Openair Frauenfeld, dass das Festival zu „100 Prozent“ stattfinde. Es kam anders. Die Festivalbetreibenden wurden von den Behörden, pardon der Ausdruck, teils wie Scheisse behandelt: Es gab keine Eintscheidungssicherheit, keine soliden rechtlichen Grundlagen, keinen Plan – das ganze Jahre wurde hin- und herlaviert. Dabei war klar: Eigentlich herrscht mit dem Virus Krieg gegen alles, was unser normales Leben ausgemacht hat. Doch statt den Kriegszustand, wie in Frankreich deklariert, schwafelten die Statusquo-Manager vom „neuen normal“. Die grössten Profiteure des Krieges sind und bleiben die Onlinedienste. Statt von Heimarbeit reden Medien von „Homeoffice“, statt von „privatisierte Heimschulung“ puschen die Narrative „Homeschooling“: Das Banksprech, dieses Schwafeln statt Benennen, feiert Höchststand. 15–20 Prozent der weltweiten Kinos werden andersweitig genutzt werden oder zumachen. Netflix und CO. müssten zu milliardenschweren Steuern verdonnert werden.
Literatur: Shoshanna Zuboff, Das Zeitalter des digitalen Überwachungskapitalismus, Campus Verlag 2018. Mittlerweile auch im Taschenbuch erhältlich.
August: Mangels Kultur kommt die Verschwörung
Das für alle politisch Versierte meistgehasste Wort im Lexikon der Unwörter 2020 ist „Verschwörungstheorie“. Jede demokratische Kritik an der Selbstverständlichkeit des „neuen normal“ wird in die Ecke der Covidioten gewischt. Dass die Volksrepublik China als dezidierte Weltmacht von der Pandemie in den westlichen Demokratien enorm profitiert, selbst wenn der Welthandel zum Erlahmen gekommen ist, gilt als „rassistisch“. Bill Gates Stiftung ist tatsächlich nicht einfach Gutmenscheninstitution, sondern in teils üble Geschäfte verstrickt. Dass die Pharmaindustrie in den USA für die schlimmste Drogenkrise aller Zeiten verantwortlich ist, darüber berichtet sogar auch der hochseriöse Deutschlandfunk. Am Oxcontin-Beispiel lässt sich sehr gut zeigen, wie eng Medien, Fashion, Trends, Lifestyle und Pharmabranche zusammenhängen, ohne ‚Covidiot’ zu sein. 15 Milliarden Dollar haben die Sackler seit 1996 am auf Opiatbasis basierenden Schmerzmittel verdient. Die Painkillers wurden jahrelang wie Vitamine verschrieben. Opiate machen aus Menschen Abhängige im umfassensten Sinn: Sie interessieren sich für nichts mehr wirklich ausser für die nächste Dosis. In der Schweiz steigt die Nachfrage an Schmerz- und Schlafmitteln. Swissmedic zählt von 2011 bis 2018 eine Verdreifachung der verschriebenen Mittel. Covid 19 liess die politische Diskussion über Pillen statt Demokratie verstummen. Dabei ist klar, dass gerade Psychopharmaka autoritären Regimes helfen, völlig entfremdete Lebensbedingungen als normal zu empfinden. Der Schweizer Marco Kovic, Mitbegründer des neoliberalen Thinktanks ZIPAR (Zurich Institute of Public Affairs Research) beispielsweise wischt jede Kritik an Machtverhältnissen mit dem Hinweis auf Verschwörungstheorien ab: „Verschwörungstheorien geben uns ein Gefühl von Kontrolle und Geborgenheit.“ Well, Nein! Verschwörungstheorien dienen den Herrschenden dazu, die Gewaltentrennung, die Recherche, Kontrolle, Gegenrede, Kritik, die Benennung der Zustände mithilfe der demonstrierenden Esoterikern, peinlichen Mittelalterfrauen, tanzenden Ökofreaks und üblen rechtsextremen Covidioten lächerlich zu machen. So geht Demokratie natürlich nicht. Vor allem auch weil bei aller Verschwörung eines vergessen wird: Verschwörungstheorien sind so präsent weil sie so gigantisch effizient via Twitter, Facebook, Tiktok, YouTube und Google maschinenbetrieben sind. Kennen Sie Maja Plissezkaja (1925 bis 2015)? Sie starb in München, nachdem sie den Stalinismus überlebt hat und zur erfolgreichsten Primaballerina, Choreografin und Künstlerin weltweit wurde. Sie verstarb in meiner neuen Heimat München und hätte stundenlang zu ihrem Leben, ihren Lenin-Gedenkmedaillen, ihren Ansichten zu Kunst und Politik interviewt werden müssen. Auf YouTube kann die göttliche 50jährige in einem „Swan“ bewundert werden, der einem zu Tränen rührt. Was sie mit Verschwörung zu tun hat? Sie hätte uns als Russin ALLES dazu erklären können. Doch leider hat mann sie nicht gefragt.
Literatur: Maja Göpel. Unsere Welt neu denken. Eine Einladung.
September: Demokratie MACHT Digital
„Der Mensch ist frei geboren, doch heute liegt er schon vor der Geburt in eng geschnürten Datenpaketen.“ (Zitat Regula Stämpfli, Initiatorin, Leiterin und Moderatorin der Veranstaltung)
- Wissenschaftlerinnen werden, falls sie Gender untersuchen, bei Peer-Reviews nur zur Hälfte – im Vergleich zu Männern – berücksichtigt.
- Codes sind männerspezifisch: Es gibt bei Algorithmen nur ein Geschlecht, das männliche. Alles ist entweder m oder m+.
- Der Kampf um Sichtbarkeit von Frauen hat sich durch die Digitalisierung massiv verschärft und zu Ungunsten der Frauen entwickelt.
DEMOCRACY DATA GAP nennt dies die Zukunftswissenschafterin Dr. Regula Stämpfli.
„Digitale Demokratie“ ist eigentlich ein Oxymoron: „Digital“ ist künstlich, „Demokratie“ weltlich. Die virtuelle Welt ist punkto Demokratie so löchrig wie ein Emmentaler. Es gibt viele Projekte zur „digitalen Demokratie“, doch leider immer noch zu wenige inhaltliche Auseinandersetzungen mit der Demokratisierung des Digitalen. Die swissfuture-Konferenz in Zusammenarbeit mit der TA Swiss widmete sich am 23. September 2020 unter der Leitung der Politphilosophin Regula Stämpfli im Museum für Kommunikation in Bern, erfolgreich und nachhaltig dieser Fragestellung. Die Konferenz zeigte wie wichtig die Demokratisierung der Digitalisierung ist und weniger die Digitalisierung der Demokratie, die eher einen technischen Diskurs befördert statt den demokratischen und politischen.
Literatur: Caroline Criado-Perez, Unsichtbare Frauen, btb-Verlag 2020.
Oktober: #erstesMal
Mein erstes Mal war 1983, damals noch in der DDR. Über dieses schrieb Umberto Eco: „Wenn Sie mich fragen, mit welcher Frau der Kunstgeschichte ich essen gehen und einen Abend verbringen möchte, wäre da zuerst Uta von Naumburg.“ 2020 wiederholte ich mein erstes Mal und beschäftigte mich, dank eines fabelhaften Projektes unseres Medienbüros in München, wieder mit der Uta von Ballenstedt (1000–1046). Lange Jahrhunderte blieb sie vergessen bis sie im 19. Jahrhundert wiederentdeckt und eine Schönheitskarriere als Muse bedeutender Schriftsteller begann. In den 1930er Jahren erhoben sie die faschoästhetisierenden Nazis zum Sinnbild der deutschen Frau. Walt Disney verlieh der bösen Stiefmutter im „Schneewittchen“ 1937 die Gesichtszüge der Uta von Naumburg. Und ich habe in meinen Kunstagenden endlich zwei Einträge zu Uta: 1983 und 2020, was mich zu „jedem Anfang wohnt der Zauber inne“ bringt, der punkto Frauen wohl eher „jeder Anfang ist 150 Jahre zu spät“ heissen sollte.
Dank Isabel Rohner und #DiePodcastin erfahre ich Sinnlichkeit, Neugierde, Lebenslust, Entdeckungseuphorie, Unsichtbarkeit und weibliche Solidarität wie ein neugewonnes Feministinnenleben. Es gilt zu zelebrieren: Die Podcasts von Frauen, die Onlineseiten von #50JahreFrauenstimmrecht, #CH2021 die grosse Zita Küng, #HerStory, #daserstemal, #komponistinnen (von Susanne Wosnitzka), das neue Buch der genialen Hedwig Richter, die grosse Luise F. Pusch, #Frauenzaehlen, #ProQuote , die Malisa-Stiftung von Maria Furtwängler und Lisa Burda, alle Posts von Inge Bell; ach, es gibt nicht genügend Platz, um ihnen allen zu huldigen. Thea, der Blog zu „Frauen in Sprache, Medien und Gesellschaft“ will ich hier extra erwähnen. Dann ihr #erstesMal und #nachgezaehlt sind wie fembio.org Fundgruben für Grundlagenwissen von, für Frauen und Diverse.
Literatur: Klassikerinnen des modernen Feminismus von Luise F. Pusch, Carola Meier-Seethaler, Elisabeth List, Herta Nagl-Docekal, Senta Trömmel-Plötz, Brigitte Weisshaupt, ein-FACH-verlag.
November: BLACK LIVES MATTER
Eine ganze Woche war der berühmte Hollywood Boulevard in Los Angeles im August abgesperrt. Der Grund dafür war nicht etwa Corona, sondern die Installation des Strassengemäldes für die „Black Lives Matter“- Bewegung. Am 13. Juni war es zu Riots in ganz Amerika gekommen als Hunderttausende gegen Rassismus und Polizeigewalt amerika- und europaweit demonstrierten, nachdem der Afroamerikaner George Floyd von der Polizei in Minneapolis ermordet worden war. Der Schriftzug in Regenbogenfarben, als Ehrung auch der LGBTQ-Community erinnert nun in der prominenten Filmstrasse an die Ereignisse des Jahres.
Weshalb erwähne ich dies im Monat November? Weil ich der Überzeugung bin, dass ähnlich des #MeToo die #BlackLivesMatter peu à peu die Welt nachhaltig verändern werden. Am Rande der Demonstrationen kam es zwar immer wieder zu antisemitischen Ausfällen, weil sich die Linke und islamische Kreise nie zu einer kompromisslosen Unterstützung des Existenzrechts von Israel durchringen können. Es gibt noch zuviele blinde Flecken in den progressiven Kreisen, „Blindspirale“ nenne ich dies und hab dazu sogar eine politische Theorie entwickelt. Macht Bewegungen gegen Faschisten, Rechtsextreme, Rassisten, Sexisten wirklich besser, wenn innerhalb der eigenen Reihen regelrechte Säuberungskampagnen auf Twitter inszeniert werden? Nein. Wer #BLM will, sollte einfach auf Michelle hören… siehe Literaturtipp.
Literatur: Michelle Obama, Becoming.
Dezember: Ikonografie des Fehlens
Die Kultur-Jahresbilanz von 2020 ernüchtert. Hier ein paar Fragmente.
#Auf zwei Männer kommt eine Frau…best case.
#Männer schreiben über Männer, zitieren Männer, drehen sich um Männer, führen unter Männer Männerdebatten und inszenieren sich in Männerausstellungen wie „Der erschöpfte Mann“ im schweizerischen Nationalmuseum. Unter einem ewiggleichen Männer-Kuratorenteam Steiner, Zweifel und Direktor Spillmann werden frauenlose Ausstellungen am besten Platz in Zürich jahrzehntelang zelebriert. Eine Dada-Ausstellung 2016 mit einem “Damenkränzchen”, ächz, 2018 ein übles 1968er – Revival voller Männer mit einer lächerlichen Frauengruppe an ihrer Seite. 30 Mio Franken haben die Nationalmuseen in der Schweiz jährlich zur Verfügung und bringen KEINE EINZIGE FRAUENAUSSTELLUNG zustande. Aber wenn frau was sagt, gilt sie als schwierig und die Kommentatoren winseln: Cancelculture, verrückt, nicht wahr?
#Von 2008 bis 2018 zeigte das Kunsthaus Zürich ganze 15 Prozent Künstlerinnen in Einzelausstellungen. 2021 wird es gerade eine schaffen.
#Männer, die Männerbücher rezensieren, tun dies viel länger, langweiliger und umfangreicher als wenn es um Frauenbücher geht.
Birte Vogel hat im thea-blog mal nachgezählt siehe thea-blog.de . Elisabeth Eberle führt für die Schweiz Buch siehe https://artemisia.blog/2019/11/22/einseitig-maennerlastig-kaum-kuenstlerinnen-im-kunsthaus-zuerich/ Isabel Rohner und Regula Stämpfli räumen auf und kommentieren die Welt aktuell in www.diepodcastin.de
Dafür war 2020 das Jahr von Hedwig Richter. Sie erzählt die Demokratie, wie sie wirklich war und sein sollte: Die Emanzipation von Frauen. Auf ein Frohes 2021 von laStaempfli alias Princess Leia.
Literatur: Hedwig Richter. Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.