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laStaempflis Kulturjahr 2020: Die Liebe in Zeiten von Corona

Januar: Worldly statt Selfie. Entwurf einer digitalen (Frauen)Demokratie für #50JahreFrauenstimmrecht

Zum Auf­takt des Jahres ein Glücks­fall. Isabel Rohn­er, die fabel­hafte Krim­i­au­torin von „Schön­er Mor­den“ und „Tau­genix­en“ gibt mit der eben­so ein­drucksvollen Irène Maria Schäp­pi, Lifestyle-Chefin von 20 Minuten, das wichtig­ste Buch für das Jahr 2021 her­aus: 50 Jahre Frauen­stimm­recht im Lim­mat-Ver­lag. Heute ist es schon in der zweit­en Auflage und ich hab ja darauf gewet­tet, dass es #Bestseller2021 wird. Ich bin eine der 25 Frauen, die über Demokratie, Macht und Gle­ich­berech­ti­gung im Band mit einem Auf­satz vertreten ist. Natür­lich dreht sich bei mir alles um Korsette: Dat­en, Kilos, Fik­tio­nen und die G‑Mafia. Ich breche das algo­rith­mis­che Sto­ry­telling und sehe mich in bester Denkerin­nen-Gesellschaft: Alle im Buch ver­sam­melten Artikel und Inter­views sind ein­fach DER HAMMER. Hier erwähne ich den Jän­ner 2020, weil Isabel Rohn­er und Reg­u­la Stämpfli sich über diesem Pro­jekt via Twit­ter näher kamen. Eine dig­i­tale Liebe auf ersten Tweet sozusagen, daraus ent­stand das unver­gle­ich­liche Pro­jekt: „DiePod­castin. Isabel Rohn­er und Reg­u­la Stämpfli erk­lären die Welt“, zu hören auf www.diepodcastin.de seit Juni 2020.  

 Lit­er­atur: 50 Jahre Frauen­stimm­recht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gle­ich­berech­ti­gung von Isabel Rohn­er und Irène Schäp­pi (Hg), Lim­mat 2019.

 

 

 

Februar: « Inscriptions en relation », Paris, Palais de la Porte Dorée, 14–16 février 2020

Welche Fol­gen hat­te die glob­ale Finanzkrise von 2008 ? Chi­nas überwachungskap­i­tal­is­tis­che Dik­tatur find­et auch im West­en ihre Ableger, die Schweiz schliesst 2014 ein Han­delsabkom­men mit der Welt­macht ab; TTIP wird nur durch die Wahl von Don­ald Trump ins Weisse Haus ver­hin­dert – die einzige pos­i­tive Wirkung des Irren in Wash­ing­ton. Die Demokratie Griechen­lands wird 2015 durch den Finanz­coup Schäubles in die Knie gezwun­gen; Ter­ro­ran­schläge in Niz­za, München, Paris; 2016 Brex­it; Erdo­gans Machtüber­nahme der Türkei; anti­semi­tis­che Nar­ra­tive, die von der Linken bis zu den Recht­sex­tremen in Polen wie Ungarn beklatscht wer­den; die Eroberung der Welt durch dig­i­tale Kred­it­punk­t­sys­teme (Stämpfli in swiss­fu­ture 1/2020). Am 10. Feb­ru­ar 2020 berichtet der Tages-Anzeiger von ein­er Heuschreck­en­plage in Ugan­da. In Europa macht das Virus mit dem Namen Coro­na ziem­lich schnell Kar­riere: Auch in Paris küssen sich Fremde erst nach einigem Zögern oder gar nicht mehr. Am 5. Feb­ru­ar war ich noch in Luzern, hab mit Vor­trag zur „Zukun­ft der Arbeit“ gutes Geld ver­di­ent, meine zauber­hafte Fre­undin besucht und mich auf vier Tage postkolo­nial­is­tis­che The­o­rie vor­bere­it­et. Achille Mbe­m­be, gross­er Denker, unein­sichtiger Israel-Has­s­er mit üblen anti­semi­tis­chen Ein­schlag, meint: „Es gibt keinen Ort der Welt, an dem wir Afrikan­er willkom­men sind, nicht ein­mal in Afrika.“(SZ 10.1.2020) Die Kon­ferenz in Paris zitiert diesen Satz nur, es sind tumulte Tage, wehmühtig ver­lasse ich die Stadt wis­send, dass es wohl lange dauern wird bis ich hier wieder vor dem Gare du Lyon tanze. Den let­zten öffentlichen Auftritt habe ich nach mein­er Paris-Reise in Ingold­stadt bei der wun­der­baren Jan­ice Gon­dor, respek­tive Petra Klein und den anderen vie­len tollen Frauen und Män­ner der Grü­nen Partei Deutsch­lands. Ich habe die Ehre, die Ascher­mittwochrede zu hal­ten. Und das war es dann.

Lit­er­atur: Rue­di Baur. Visuelles Tage­buch Coro­na: ruedi-baur.eu

 

 

März: Clara von Rappard und mysteriöse Lungenkrankheit

Post­trau­ma­tisch kom­plexe Störun­gen auf­grund jahrzehn­te­langer Unsicht­bar­ma­chung und Stig­ma­tisierung von Frauen wer­den von der männlichen Fach­welt gerne herun­terge­spielt. Dies ist kein Miss­geschick und der Lauf der Geschichte, son­dern Gewalt. Im Kun­st­mu­se­um Bern bestaunte ich die mir bish­er unbekan­nte Clara von Rap­pard (1857–1912) zum The­ma „Die Auflö­sung des Men­schen in der Land­schaft.“ Die Schweiz­er Malerin war Nomadin wie ich: Sie lernte in Venedig, Berlin, Rom, Han­nover, München, sie galt zu ihrer Zeit als bekan­nteste Kün­st­lerin der Schweiz. Ihre Arbeit­en wur­den in Eng­land, Frankre­ich, Schweiz und den USA gezeigt, sie hat­te ver­schiedene Einze­lausstel­lun­gen in Deutsch­land und… sie wurde von der bis in die Knochen patri­ar­chalen Kunst­welt nach ihrem Tod so ver­leugnet wie alle anderen grossen Kün­st­lerin­nen, so dass selb­st 2020 beschränk­te Jour­nal­is­ten fra­gen: „Weshalb gibt es so wenig grosse Kün­st­lerin­nen?“ Rap­pards „Die Jun­grau im Nebel“ erzählt davon wie ver­let­zlich Natur und Men­schen gegenüber den gewalti­gen Maschi­nenkräften gewor­den sind, atem­ber­aubend schön. Dies passt zum Fre­itag, dem 13. März, dem Tag als der europaweite Lock­down begann. Die mys­ter­iöse Lun­genkrankheit, wie sie im Jan­u­ar 2020 noch beze­ich­net wurde, hat­te nicht nur einen Namen, son­dern einen Fach­be­griff: Die Coro­na-Pan­demie.

Lit­er­atur: Great Women Artists. Phaidon.

 

 

April: Heldinnen des Alltags. Sogar der Papst meldet sich.

 Coro­na – wie Covid19 noch heisst– ver­wan­delt den Him­mel in ein unendlich­es Blau und verord­net Europa eine grosse Stille. Diese Ruhe gilt nur für Einige: Denn auch in Coro­na bleiben die Haben­den gle­ich­er, priv­i­legiert­er, freier, geseg­neter, vielfältiger als die Nicht-Haben­den.

Plöt­zlich reden alle von „sys­tem­rel­e­van­ten Berufen“ und meinen eigentlich die Frauen, die jedoch durch solche Begriffe unsicht­bar gemacht wer­den. Ja klar. Es gibt die Müllmän­ner, Feuer­wehr und die Bus­fahrer. Berufe, die Frauen lange ver­wehrt wur­den. Pflege, Ver­wal­tung, Bil­dung­sein­rich­tun­gen indessen sind zum Grossteil weib­lich und deshalb wenig sicht­bar, wenig anerkan­nt und wenig entlöh­nt. „Män­ner erk­lären, wie sys­tem­rel­e­vant Frauen sind“ bringt die kluge Forscherin Eliz­a­beth Prom­mer diesen Sachver­halt auf den Punkt. Gle­ichzeit­ig geben wichtige Män­ner­in­ten­dan­ten lamen­tierende Inter­views zu Kun­st und Kul­tur. Auch der Papst, Schirmherr der mächtig­sten glob­alen Män­neror­gan­i­sa­tion neben Black­Rock, twit­terte eine Botschaft aus Rom: „Ihre Arbeit ist kein Job, vielmehr Beru­fung und Hingabe. Dafür geben sie in dieser Zeit ein helden­haftes Beispiel.“ Doch mit schö­nen Worten „hat noch nie­mand gfrässä“ wie meine Mut­ter zu sagen pflegte. Vie­len von uns wurde über Nacht Beru­fung weggenom­men. Ich kenne zahlre­iche weib­liche Kul­turschaf­fende, die sich im Laufe von 2020 völ­lig aus­bil­dungs­fremde Jobs suchen mussten. Viele von ihnen sind im Bil­dungswe­sen und in der Pflege untergekom­men. Einige bleiben bei ihren gutver­di­enen­den Ehemän­nern und wieder andere sind ein­fach am Rand ihrer Kräfte, wis­sen nicht wirk­lich, wie sie ihr Leben weit­er finanzieren kön­nen. Von der Kinder­be­treu­ung mag ich gar nicht reden, son­st höre ich nicht auf zu schreien. Vor allem in Deutsch­land hat die Coro­na-Mis­ere ein weib­lich­es Gesicht. In der Schweiz helfen zwar Über­brück­ungskred­ite, doch über­all zieht der eisige Wind des Autori­taris­mus und Denun­zianten­tums ein. Coro­na ist nur für diejeni­gen eine Chance, die sich Glück leis­ten kön­nen.

Lit­er­atur: Gabriele Winker. CARE Rev­o­lu­tion. Schritte in eine sol­i­darische Gesellschaft, schon von 2015. Hilma Lutz. Die Hin­ter­bühne der Care-Arbeit. Transna­tionale Per­spek­tiv­en auf Care-Migra­tion im geteil­ten Europa, 2018 im Beltz Ver­lag.

 

 

Mai: Das chinesische Virus stürzt die westlichen Demokratien in den Abgrund

Die Kom­bi­na­tion von «monokausalen Nar­ra­tiv­en» und «virol­o­gisch basiert­er Daten­ho­heit» habe ein «Zeital­ter der total­en Gewis­sheit» geschaf­fen, schreibt die Poli­tik­wis­senschaf­terin Reg­u­la Stämpfli für die NZZ. In ganz Europa erstarken die Qual­itätsme­di­en: Die Leute wollen Urteil­skraft, die Einord­nung von richtig und falsch, von wahrhaftig und fake. Ich erin­nere an alte Wahrheit­en der Philoso­phie. Daran, dass der Ver­stand sehr wohl mit Sta­tis­tiken so ver­wirrt wer­den kann, dass Frei­heit­en über Nacht ver­schwinden. Die üblichen Verdächti­gen, die Män­ner­meute in eini­gen Zeitun­gen ver­suchen mir mit diesem NZZ-Text eine „Quer­denkerin“ zu machen, was ihnen so kläglich misslingt, dass einige sog­ar ihren Posten räu­men müssen. Meine Analyse aus „Trump­ism. Ein Phänomen verän­dert die Welt“ hält nicht nur Bestand, son­dern find­et grosse Ver­bre­itung: „Datengestützte Wahrheit­en, kom­biniert mit post­mod­er­nen Nar­ra­tiv­en, intendieren let­ztlich, monokausal den Sieg über die kom­plexe Wirk­lichkeit zu errin­gen. Die neuen dig­i­tal­en Her­ren inklu­sive ihrer Instru­mente «Plat­tformkap­i­tal­is­mus» sowie «Dig­i­taler Überwachungsstaat» zer­stören mit­tels der «Algo­rith­misierung der Welt» empirische Real­itäten mit der­art präzise berech­neter Schlüs­sigkeit, dass der Unter­schied zwis­chen Fik­tion und Real­ität für die meis­ten von uns nicht mehr erkennbar ist.“ Im Jan­u­ar 2021 ist vom „chi­ne­sis­chen Virus“ keine Rede mehr, Don­ald Trump sei Dank. Nur weil der Falsche mal etwas Richtiges gesagt hat, wird zwar das Richtige nicht falsch, doch dies ist den Shit­troopern dieser Welt egal. Deshalb wird Kai Strittmat­ter nicht bei Markus Lanz ein­ge­laden, obwohl er mit „Die Neuerfind­ung der Dik­tatur. Wie CHINA den dig­i­tal­en Überwachungs­stat auf­baut uns und damit her­aus­fordert“ das Grund­la­gen­werk für west­liche Demokra­tien geschaf­fen hat. Über­haupt: Die wirk­lich rel­e­van­ten The­men gehen im Coro­na-Jahr unter. Olaf Scholz beispiel­sweise wird trotz Wire­card Kan­zlerkan­di­dat, echt jet­zt?

Lit­er­atur: Reg­u­la Stämpfli. Trump­ism, Ein Phänomen verän­dert die Welt. Mün­ster­ver­lag 2018.

 

 

Juni:  Delfine in Venedig

Die schreck­lichen Bilder aus Berg­amo weichen dem Still­stand zugun­sten der Natur. An nor­malen Tagen flanieren Hun­dert­tausende von Touris­ten durch die Alt­stadt in Venedig. Gondelfahrten, Fast-Food, Bil­lig­sou­venirs, lange Schlangen vor dem Guggen­heim-Muse­um prä­gen den glob­alen Wahnsinn, der die schön­ste Stadt der Welt zer­stört. 2020 erwacht Venedig und die Venezianer*innen. Erst­mals wurde seit 60 Jahren in Venedig ein Delfin gesichtet, Schwäne, Wild­schweine und Katzen eroberten sich die leeren Plätze zurück. An eini­gen Stellen kon­nten wir sog­ar bis auf den Grund der Kanäle sehen. Noch im Jan­u­ar instal­lierte Venedig für den Karneval Kam­eras, um die Per­so­n­en zu zählen. Kam­eras blieben, Karneval wurde abge­sagt. Ab Juli 2020 wollte Venedig ein Ein­tritts­geld von drei Euro für Ein­tags-Touris­ten ver­lan­gen. Mit­tler­weile hat sich die Stadt erholt, hof­fentlich kosten Ein­tags­touris dann 100 Euro, wenn die Pan­demie vor­bei ist. Venedig hat seine Seele wiederge­fun­den und soll sie doch bitte für alle Ewigkeit behal­ten.

 

Lit­er­atur: Klara Ober­müller. Die Glock­en von San Pan­talon, Xan­thippe 2020, 162 Seit­en.

 

 

Juli: James Bond ist noch das kleinste Problem

Abge­sagt: Die Fes­ti­valver­anstal­tenden sind „Les Mis­érables“ im 2020. James Bond wird vertagt. Doch dies ist defin­i­tiv nicht wichtig: Es hagelt über­all virus­be­d­ingte Absagen. Bach-Fes­ti­vals, Kleinkun­st­tage, Tanz­tage, Jugend musiziert, Tech­n­o­clubs, Jazz-Fes­ti­val, das beste aller Fes­ti­vals über­haupt, das ORANGE BLOSSOM IN BEVERUNGEN, mein heiss­geliebtes OBS (siehe Bild): ABGESAGT. Noch am 5. März 2020 meldete das Ope­nair Frauen­feld, dass das Fes­ti­val zu „100 Prozent“ stat­tfinde. Es kam anders. Die Fes­ti­val­be­treiben­den wur­den von den Behör­den, par­don der Aus­druck, teils wie Scheisse behan­delt: Es gab keine Eintschei­dungssicher­heit, keine soli­den rechtlichen Grund­la­gen, keinen Plan – das ganze Jahre wurde hin- und herlaviert. Dabei war klar: Eigentlich herrscht mit dem Virus Krieg gegen alles, was unser nor­males Leben aus­gemacht hat. Doch statt den Kriegszu­s­tand, wie in Frankre­ich deklar­i­ert, schwafel­ten die Sta­tusquo-Man­ag­er vom „neuen nor­mal“. Die grössten Prof­i­teure des Krieges sind und bleiben die Online­di­en­ste. Statt von Heimar­beit reden Medi­en von „Home­of­fice“, statt von „pri­vatisierte Heim­schu­lung“ puschen die Nar­ra­tive „Home­school­ing“: Das Banksprech, dieses Schwafeln statt Benen­nen, feiert Höch­st­stand. 15–20 Prozent der weltweit­en Kinos wer­den ander­sweit­ig genutzt wer­den oder zumachen. Net­flix und CO. müssten zu mil­liar­den­schw­eren Steuern ver­don­nert wer­den.

Lit­er­atur: Shoshan­na Zuboff, Das Zeital­ter des dig­i­tal­en Überwachungskap­i­tal­is­mus, Cam­pus Ver­lag 2018. Mit­tler­weile auch im Taschen­buch erhältlich.

 

 

August: Mangels Kultur kommt die Verschwörung

Das für alle poli­tisch Ver­sierte meist­ge­has­ste Wort im Lexikon der Unwörter 2020 ist „Ver­schwörungs­the­o­rie“. Jede demokratis­che Kri­tik an der Selb­stver­ständlichkeit des „neuen nor­mal“ wird in die Ecke der Covid­ioten gewis­cht. Dass die Volk­sre­pub­lik Chi­na als dezi­dierte Welt­macht von der Pan­demie in den west­lichen Demokra­tien enorm prof­i­tiert, selb­st wenn der Welthandel zum Erlah­men gekom­men ist, gilt als „ras­sis­tisch“. Bill Gates Stiftung ist tat­säch­lich nicht ein­fach Gut­men­schenin­sti­tu­tion, son­dern in teils üble Geschäfte ver­strickt. Dass die Phar­main­dus­trie in den USA für die schlimm­ste Dro­genkrise aller Zeit­en ver­ant­wortlich ist, darüber berichtet sog­ar auch der hochser­iöse Deutsch­land­funk. Am Oxcon­tin-Beispiel lässt sich sehr gut zeigen, wie eng Medi­en, Fash­ion, Trends, Lifestyle und Pharmabranche zusam­men­hän­gen, ohne ‚Covid­iot’ zu sein. 15 Mil­liar­den Dol­lar haben die Sack­ler seit 1996 am auf Opi­at­ba­sis basieren­den Schmerzmit­tel ver­di­ent. Die Painkillers wur­den jahre­lang wie Vit­a­mine ver­schrieben. Opi­ate machen aus Men­schen Abhängige im umfassen­sten Sinn: Sie inter­essieren sich für nichts mehr wirk­lich auss­er für die näch­ste Dosis. In der Schweiz steigt die Nach­frage an Schmerz- und Schlafmit­teln. Swissmedic zählt von 2011 bis 2018 eine Ver­dreifachung der ver­schriebe­nen Mit­tel. Covid 19 liess die poli­tis­che Diskus­sion über Pillen statt Demokratie ver­s­tum­men. Dabei ist klar, dass ger­ade Psy­chophar­ma­ka autoritären Regimes helfen, völ­lig ent­fremdete Lebens­be­din­gun­gen als nor­mal zu empfind­en. Der Schweiz­er Mar­co Kovic, Mit­be­grün­der des neolib­eralen Think­tanks ZIPAR (Zurich Insti­tute of Pub­lic Affairs Research) beispiel­sweise wis­cht jede Kri­tik an Machtver­hält­nis­sen mit dem Hin­weis auf Ver­schwörungs­the­o­rien ab: „Ver­schwörungs­the­o­rien geben uns ein Gefühl von Kon­trolle und Gebor­gen­heit.“ Well, Nein! Ver­schwörungs­the­o­rien dienen den Herrschen­den dazu, die Gewal­tentren­nung, die Recherche, Kon­trolle, Gegenrede, Kri­tik, die Benen­nung der Zustände mith­il­fe der demon­stri­eren­den Eso­terik­ern, pein­lichen Mit­te­lal­ter­frauen, tanzen­den Ökof­reaks und üblen recht­sex­tremen Covid­ioten lächer­lich zu machen. So geht Demokratie natür­lich nicht. Vor allem auch weil bei aller Ver­schwörung eines vergessen wird: Ver­schwörungs­the­o­rien sind so präsent weil sie so gigan­tisch effizient via Twit­ter, Face­book, Tik­tok, YouTube und Google maschi­nen­be­trieben sind. Ken­nen Sie Maja Plis­sezka­ja (1925 bis 2015)? Sie starb in München, nach­dem sie den Stal­in­is­mus über­lebt hat und zur erfol­gre­ich­sten Prima­bal­le­ri­na, Chore­ografin und Kün­st­lerin weltweit wurde. Sie ver­starb in mein­er neuen Heimat München und hätte stun­den­lang zu ihrem Leben, ihren Lenin-Gedenkmedaillen, ihren Ansicht­en zu Kun­st und Poli­tik inter­viewt wer­den müssen. Auf YouTube kann die göt­tliche 50jährige in einem „Swan“ bewun­dert wer­den, der einem zu Trä­nen rührt. Was sie mit Ver­schwörung zu tun hat? Sie hätte uns als Russin ALLES dazu erk­lären kön­nen. Doch lei­der hat mann sie nicht gefragt.

Lit­er­atur: Maja Göpel. Unsere Welt neu denken. Eine Ein­ladung.

 

 

September: Demokratie MACHT Digital

„Der Men­sch ist frei geboren, doch heute liegt er schon vor der Geburt in eng geschnürten Daten­paketen.“ (Zitat Reg­u­la Stämpfli, Ini­tia­torin, Lei­t­erin und Mod­er­a­torin der Ver­anstal­tung)

- Wis­senschaft­lerin­nen wer­den, falls sie Gen­der unter­suchen, bei Peer-Reviews nur zur Hälfte – im Ver­gle­ich zu Män­nern – berück­sichtigt.

- Codes sind män­ner­spez­i­fisch: Es gibt bei Algo­rith­men nur ein Geschlecht, das männliche. Alles ist entwed­er m oder m+.

- Der Kampf um Sicht­barkeit von Frauen hat sich durch die Dig­i­tal­isierung mas­siv ver­schärft und zu Ungun­sten der Frauen entwick­elt.

DEMOCRACY DATA GAP nen­nt dies die Zukun­ftswis­senschaf­terin Dr. Reg­u­la Stämpfli.

„Dig­i­tale Demokratie“ ist eigentlich ein Oxy­moron: „Dig­i­tal“ ist kün­stlich, „Demokratie“ weltlich. Die virtuelle Welt ist punk­to Demokratie so löchrig wie ein Emmen­taler. Es gibt viele Pro­jek­te zur „dig­i­tal­en Demokratie“, doch lei­der immer noch zu wenige inhaltliche Auseinan­der­set­zun­gen mit der Demokratisierung des Dig­i­tal­en. Die swiss­fu­ture-Kon­ferenz in Zusam­me­nar­beit mit der TA Swiss wid­mete sich am 23. Sep­tem­ber 2020 unter der Leitung der Polit­philosophin Reg­u­la Stämpfli im Muse­um für Kom­mu­nika­tion in Bern, erfol­gre­ich und nach­haltig dieser Fragestel­lung. Die Kon­ferenz zeigte wie wichtig die Demokratisierung der Dig­i­tal­isierung ist und weniger die Dig­i­tal­isierung der Demokratie, die eher einen tech­nis­chen Diskurs befördert statt den demokratis­chen und poli­tis­chen.

Lit­er­atur: Car­o­line Cri­a­do-Perez, Unsicht­bare Frauen, btb-Ver­lag 2020.

 

 

Oktober: #erstesMal

Mein erstes Mal war 1983, damals noch in der DDR. Über dieses schrieb Umber­to Eco: „Wenn Sie mich fra­gen, mit welch­er Frau der Kun­st­geschichte ich essen gehen und einen Abend ver­brin­gen möchte, wäre da zuerst Uta von Naum­burg.“ 2020 wieder­holte ich mein erstes Mal und beschäftigte mich, dank eines fabel­haften Pro­jek­tes unseres Medi­en­büros in München, wieder mit der Uta von Bal­len­st­edt (1000–1046). Lange Jahrhun­derte blieb sie vergessen bis sie im 19. Jahrhun­dert wieder­ent­deckt und eine Schön­heit­skar­riere als Muse bedeu­ten­der Schrift­steller begann. In den 1930er Jahren erhoben sie die faschoäs­thetisieren­den Nazis zum Sinnbild der deutschen Frau. Walt Dis­ney ver­lieh der bösen Stief­mut­ter im „Schnee­wittchen“ 1937 die Gesicht­szüge der Uta von Naum­burg. Und ich habe in meinen Kun­sta­gen­den endlich zwei Ein­träge zu Uta: 1983 und 2020, was mich zu „jedem Anfang wohnt der Zauber inne“ bringt, der punk­to Frauen wohl eher „jed­er Anfang ist 150 Jahre zu spät“ heis­sen sollte.

Dank Isabel Rohn­er und #DiePod­castin erfahre ich Sinnlichkeit, Neugierde, Lebenslust, Ent­deck­ungse­uphorie, Unsicht­barkeit und weib­liche Sol­i­dar­ität wie ein neuge­wonnes Fem­i­nistin­nen­leben. Es gilt zu zele­bri­eren: Die Pod­casts von Frauen, die Onli­ne­seit­en von #50JahreFrauenstimmrecht, #CH2021 die grosse Zita Küng, #Her­Sto­ry, #daser­stemal, #kom­pon­istin­nen (von Susanne Wos­nitz­ka), das neue Buch der genialen Hed­wig Richter, die grosse Luise F. Pusch, #Frauen­za­ehlen, #Pro­Quote , die Mal­isa-Stiftung von Maria Furtwän­gler und Lisa Bur­da, alle Posts von Inge Bell; ach, es gibt nicht genü­gend Platz, um ihnen allen zu huldigen. Thea, der Blog zu „Frauen in Sprache, Medi­en und Gesellschaft“ will ich hier extra erwäh­nen. Dann ihr #erstes­Mal und #nachgeza­ehlt sind wie fembio.org Fund­gruben für Grund­la­gen­wis­sen von, für Frauen und Diverse.

Lit­er­atur: Klas­sik­erin­nen des mod­er­nen Fem­i­nis­mus von Luise F. Pusch, Car­o­la Meier-Seethaler, Elis­a­beth List, Her­ta Nagl-Docekal, Sen­ta Tröm­mel-Plötz, Brigitte Weis­shaupt, ein-FACH-ver­lag.

 

 

November: BLACK LIVES MATTER

Eine ganze Woche war der berühmte Hol­ly­wood Boule­vard in Los Ange­les im August abges­per­rt. Der Grund dafür war nicht etwa Coro­na, son­dern die Instal­la­tion des Stras­sen­gemäldes für die  „Black Lives Mat­ter“- Bewe­gung. Am 13. Juni war es zu Riots in ganz Ameri­ka gekom­men als Hun­dert­tausende gegen Ras­sis­mus und Polizeige­walt ameri­ka- und europaweit demon­stri­erten, nach­dem der Afroamerikan­er George Floyd von der Polizei in Min­neapo­lis ermordet wor­den war. Der Schriftzug in Regen­bo­gen­far­ben, als Ehrung auch der LGBTQ-Com­mu­ni­ty erin­nert nun in der promi­nen­ten Film­strasse an die Ereignisse des Jahres.

Weshalb erwähne ich dies im Monat Novem­ber? Weil ich der Überzeu­gung bin, dass ähn­lich des #MeToo die #Black­Lives­Mat­ter peu à peu die Welt nach­haltig verän­dern wer­den. Am Rande der Demon­stra­tio­nen kam es zwar immer wieder zu anti­semi­tis­chen Aus­fällen, weil sich die Linke und islamis­che Kreise nie zu ein­er kom­pro­miss­losen Unter­stützung des Exis­ten­zrechts von Israel durchrin­gen kön­nen. Es gibt noch zuviele blinde Fleck­en in den pro­gres­siv­en Kreisen, „Blind­spi­rale“ nenne ich dies und hab dazu sog­ar eine poli­tis­che The­o­rie entwick­elt. Macht Bewe­gun­gen gegen Faschis­ten, Recht­sex­treme, Ras­sis­ten, Sex­is­ten wirk­lich bess­er, wenn inner­halb der eige­nen Rei­hen regel­rechte Säu­berungskam­pag­nen auf Twit­ter insze­niert wer­den? Nein. Wer #BLM will, sollte ein­fach auf Michelle hören… siehe Lit­er­atur­tipp.

Lit­er­atur: Michelle Oba­ma, Becom­ing.

 

 

Dezember: Ikonografie des Fehlens

Die Kul­tur-Jahres­bi­lanz von 2020 ernüchtert. Hier ein paar Frag­mente.

#Auf zwei Män­ner kommt eine Frau…best case.

#Män­ner schreiben über Män­ner, zitieren Män­ner, drehen sich um Män­ner, führen unter Män­ner Män­nerde­bat­ten und insze­nieren sich in Män­ner­ausstel­lun­gen wie „Der erschöpfte Mann“ im schweiz­erischen National­mu­se­um. Unter einem ewig­gle­ichen Män­ner-Kura­torenteam Stein­er, Zweifel und Direk­tor Spill­mann wer­den frauen­lose Ausstel­lun­gen am besten Platz in Zürich jahrzehn­te­lang zele­bri­ert. Eine Dada-Ausstel­lung 2016 mit einem “Damenkränzchen”, ächz, 2018 ein übles 1968er – Revival voller Män­ner mit ein­er lächer­lichen Frauen­gruppe an ihrer Seite. 30 Mio Franken haben die National­museen in der Schweiz jährlich zur Ver­fü­gung und brin­gen KEINE EINZIGE FRAUENAUSSTELLUNG zus­tande. Aber wenn frau was sagt, gilt sie als schwierig und die Kom­men­ta­toren win­seln: Can­cel­cul­ture, ver­rückt, nicht wahr?

#Von 2008 bis 2018 zeigte das Kun­sthaus Zürich ganze 15 Prozent Kün­st­lerin­nen in Einze­lausstel­lun­gen. 2021 wird es ger­ade eine schaf­fen.

#Män­ner, die Män­ner­büch­er rezen­sieren, tun dies viel länger, lang­weiliger und umfan­gre­ich­er als wenn es um Frauen­büch­er geht.

Birte Vogel hat im thea-blog mal nachgezählt siehe thea-blog.de . Elis­a­beth Eber­le führt für die Schweiz Buch siehe https://artemisia.blog/2019/11/22/einseitig-maennerlastig-kaum-kuenstlerinnen-im-kunsthaus-zuerich/ Isabel Rohn­er und Reg­u­la Stämpfli räu­men auf und kom­men­tieren die Welt aktuell in www.diepodcastin.de

Dafür war 2020 das Jahr von Hed­wig Richter. Sie erzählt die Demokratie, wie sie wirk­lich war und sein sollte: Die Emanzi­pa­tion von Frauen. Auf ein Fro­hes 2021 von laS­taempfli alias Princess Leia.

Lit­er­atur: Hed­wig Richter. Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhun­dert bis zur Gegen­wart.